Читать книгу Wir waren eine gute Erfindung - Joachim Schnerf - Страница 9
ОглавлениеIch erinnere mich an meinen ersten Sederabend mit Sarah, genauer gesagt, an meine ersten beiden. Wir waren noch nicht verheiratet und hatten erst ein paar Wochen zuvor unsere jeweiligen Familien kennengelernt. Ihre dürftige Kernfamilie: Vater, Mutter und ein autistischer älterer Bruder. Meine dürftige Restfamilie: eine von den Razzien verschont gebliebene Tante mit ihren drei Kindern, die jünger waren als ich, zwischen 1942 und 1945 geboren. Sie hatte ihnen die Namen von Toten gegeben: Einer der Söhne trug den meines Vaters, der während der Deportation umgekommen war; die Jüngste den meiner Mutter, ihrer während der Deportation umgekommenen Schwester; der Älteste aber hieß wie ich. Sie hatte ihn nach ihrem im Osten verschollenen Neffen benennen wollen, denn sie hatte nicht für möglich gehalten, dass ich zurückkehren würde. Wie konnten mein Vetter und meine beiden Cousinen das nur ertragen? Ich habe keine Ahnung. Wie hatte eine Jüdin mitten im Holocaust derart fruchtbar sein können? Das will mir immer noch nicht in den Kopf.
Der erste Osterabend fand in Sarahs Familie statt, der zweite in meiner. Auf den Schrecken folgte die Blamage. Von unserer ersten Begegnung an hatten Sarahs Eltern mich, den aus den Lagern zurückgekehrten Waisen, wohlwollend bei sich aufgenommen. Doch ohne es zu wollen, gab mir diese wohlhabende Familie meine mangelnde Vornehmheit und Erziehung zu spüren, eine Schwäche, die mich bis zum Tod meiner Schwiegereltern in Verlegenheit brachte. Sarah konnte mich noch so sehr bestärken, ich gehörte einfach nicht dazu.
Eine Unterhaltung führen, manierlich essen – die Grundlagen eines bürgerlichen Lebens hatten sich in den Latrinen von Auschwitz verflüchtigt. Vom ersten Augenblick an, als ich einen Fuß in die Wohnung gesetzt hatte, bis zu den Umarmungen am Ende dieses Sederabends war ich wie versteinert angesichts der Regeln, aber auch angesichts des unerschütterlichen, stillen Schwagers, der seine trostlosen, forschenden Augen auf mich heftete. Den ganzen Abend lang mimte ich die österlichen Klagen und zwang meine Kehle, sich den vom Familienoberhaupt angestimmten unbekannten Liedern anzupassen. Dabei immer dieser leere Blick, der mein Gesicht abtastete. Die Folter wurde noch unerträglicher, wenn die Lieder aufhörten und mich Sarahs Eltern mit Fragen quälten, eine nach der anderen, Fragezeichen um Fragezeichen. Die Folter der nach Vergangenheit Gierenden, die nicht lockerlassen, um dem Leben der Rückkehrer in allen Einzelheiten auf den Grund zu gehen. Und manchmal auch ihrer Gegenwart.
»Sie sind also Koch, Salomon?« Sarahs Mutter wollte die Situation entspannen, nachdem ihr Mann mir ein Dutzend Fragen zur Selektion am Lagereingang gestellt hatte. »Sie müssen ja ein richtiger Meisterkoch sein.«
»Ich bin Kücheninstallateur, bis ich etwas Besseres finde. Geschickter mit einem Hammer als mit einem Kochtopf!«
»Kücheninstallateur? Das ist ja ein origineller Beruf«, fühlte sie sich verpflichtet, hinzuzusetzen. »Dann sind Sie also … ein Tüftler?«
»Ja, ja, ein richtiger Alleskönner. Aber fragen Sie mich bitte nicht, ob ich einen Blick auf Ihren Ofen werfe. Trotz meines Fachwissens auf diesem Gebiet habe ich da immer gewisse Hemmungen …«
Mein erster KZ-Witz war einfach so herausgerutscht. Ein »Klassiker« für den ersten Sederabend bei meinen künftigen Schwiegereltern. Weder Sarah noch sonst jemand wagte, etwas zu erwidern, das Unbehagen an der Situation befreite mich. Ein kurzes Räuspern, dann entschuldigte ich mich, ich müsse kurz hinaus, und suchte Zuflucht auf der Toilette. Offenbar eine der merkwürdigen Angewohnheiten von Schwiegersöhnen.
Das Abendessen verlief ohne weiteren Austausch mit Sarahs Familie, ihre Eltern sahen mich mit schuldbewusstem Mitleid an. Ich war fehl am Platz, und ihre selbstverständliche Herzlichkeit verstärkte mein Unbehagen nur noch. Die Augen ihres Bruders wiederum wanderten unaufhörlich zwischen meinem Gesicht und der bestickten Tischdecke hin und her. Mein Witz hatte keinen Eindruck auf ihn gemacht. Er raunte die jahrtausendealten Klagen und traute sich nicht, sie deutlich zu artikulieren; wenn die Tischrunde ihn allein singen ließ, füllte mein zukünftiger Schwiegervater jede Atempause, um die Stille zu vermeiden, ihn zu beruhigen und wahrscheinlich unser Unglück zu betonen: »Einst waren wir Sklaven des Pharao in Ägypten. Aber der Ewige, unser G’tt, führte uns hinaus mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Hätte der Ewige, gepriesen sei er, unsere Väter nicht aus Ägypten geführt, wahrlich: Wir, unsere Kinder und Kindeskinder hätten auf ewig in Ägypten unterjocht bleiben müssen …«
Trotz meines erbärmlichen Auftritts hatten Sarahs Eltern mich akzeptiert und empfingen mich weiterhin wohlwollend. Leider starben sie zwei, beziehungsweise drei Jahre später, der Abstand von einem Jahr ließ meiner Schwiegermutter Zeit, trauern zu können, dann selbst abzutreten und ihre Tochter vor der eigenen Mutterschaft erwachsen werden zu lassen. »Die Ordnung der Dinge«, hatte ich gewagt, meiner Frau nach der Beerdigung ins Ohr zu flüstern. Was für eine Plattitüde. Verzeih mir, meine heilige Sarah. Die Ordnung der Dinge, aber welche Ordnung? Welche Ordnung soll das sein, den Körper der Geliebten mit feuchter Erde zuzudecken? Ihn Witterung und Würmern auszusetzen, glücklichen Regenwürmern, die bald die letzten Schönheiten meiner Frau betrachten können.
Am folgenden Tag fand der Sederabend bei meiner Tante statt, in Gesellschaft einer ganzen Schar neurotischer Cousins. Ich hätte Sarah auf den Schock vorbereiten sollen. Sie hielt mich schon für übergeschnappt, begriff aber rasch, dass ein Überlebender an Blödsinnigkeit noch zu übertreffen war: durch seinen Namensvetter.
Der erste Teil des Sederabends blieb ohne Zwischenfälle. Das Abendessen verlief gut gelaunt, gespickt mit Erinnerungen an meine Eltern, die ich im Schlaf kannte, die meine Tante jedoch, wie bei jedem Familienessen, unbedingt wieder heraufbeschwören wollte, was Sarah eine Vorstellung vom Charakter ihres Schwiegervaters und ihrer Schwiegermutter vermittelte, die sie niemals kennenlernen würde. Vermutlich halbe Fantasiegestalten, gespeist aus den Bildern, die im Kopf meiner Tante knisterten wie ins Feuer geworfene Tannenzapfen. Sarah gab sich selbstsicher und verstand es, ihre Gesprächspartner mit einem einfachen Kopfnicken oder einem wissenden Blick zu beglücken. Die Schwester meiner Mutter hatte meine künftige Frau bereits ins Herz geschlossen und würde ihr aufmerksames Ohr zu nutzen wissen.
Plötzlich aber, Ägypten schien bereits in weiter Ferne, unterbrach mein Vetter Salomon die Pessach-Lieder und fragte Sarah: »Habt ihr eigentlich schon miteinander geschlafen?«
»Wie bitte?«
»Ich frage, ob du schon mit meinem Cousin geschlafen hast. Sex.«
»Das geht dich nichts an, Salomon«, versuchte ich einzugreifen.
»Aber Salomon darf mir alle Fragen stellen, die er will, Salomon! Dein Cousin und ich sind verliebt, und, ja, wir haben vor, eines Tages zu heiraten.«
»Und der Sex?«
»Kommt nach der Hochzeit …«
Ich drohte zu ersticken, ich musste uns unbedingt da herausholen. Sarah war Salomon gegenüber viel zu nachsichtig.
»Und wenn du mich heiraten würdest?«
»Weißt du, ich habe mir meinen Salomon schon ausgesucht …«
»Aber falls du deine Meinung änderst? Oder uns beide heiraten willst?«
»Ich bin mir nicht sicher, dass das geht.«
Sarahs Tonfall hatte sich verändert.
»Ehe zu dritt, Sex zu dritt!«
Meine Tante gluckste, die Namensvettern meiner Eltern ebenfalls, ich war schweißgebadet. An jenem Abend schlug der Inzest die Shoah um Längen, ich hatte den Eindruck, dass wir diesen zweiten Sederabend nie über die Bühne bekommen würden, wenn nicht ein Wunder geschähe, vielleicht die Ankunft des Messias. Ja, daran hatte ich gedacht, ich, der ungläubige Überlebende. Hatte mein perverser Cousin etwa die Macht, die Existenz G’ttes zu beweisen?