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1. Problem-Charts, der neue Nachbar und das Schluckaufbaby
ОглавлениеAnton aus Tirol – DJ Ötzi
Das Problem Nummer drei in meinem Leben ist seit einigen Jahren mein Name: Ich heiße Hornig, Anton Hornig, und die meisten nennen mich Toni. Natürlich bin ich nicht der Anton aus Tirol, aber diese DJ-Ötzi-CD habe ich, als sie damals erschien, gleich von drei Freunden zum Geburtstag geschenkt bekommen. Und fortan sangen alle, wenn sie mich trafen: »Er ist so schön, er ist so toll…«
Damit hätte ich mich vielleicht gerade noch arrangieren können, doch nur ein paar Monate später brachte Mousse T. ein Lied mit meinem Nachnamen im Refrain auf den Markt, und alle grölten jetzt: »I’m so Horny, Horny, Hornig« oder nannten mich gleich Horny Hornich. Und als dann Sponge Bob auf Super RTL lief, gesellte sich auch noch Plankton, jener amöbenhafte Widersacher von Mister Krabbs auf der erfolglosen Jagd nach der Krabbenburger-Geheimformel, in mein unseliges Spitznamenregister.
In letzter Zeit denke ich immer öfter daran, meinen Namen ändern zu lassen, aber meine Mutter ist gebürtige Finnin und heißt Sinisalo, was so viel heißt wie Blau (sini) und Ödwald (salo) – und Toni Sinisalo finde ich auch nicht wirklich besser.
Mein Problem Nummer eins aber heißt ganz klar Ada Teßloff, ist sechsunddreißig, sieht wahnsinnig gut aus, und wir zwei hatten seit Wochen keinen Sex, obwohl Ada und ich gerade mal seit vier Monaten zusammen sind.
Dabei bin ich eigentlich ’ne Frohnatur, doch in letzter Zeit – vor allem wegen der Probleme eins bis fünf – fühle ich mich manchmal wie Blödwald der Laue, ErdbeerSchorsch und Brause-Paul zusammen, kurz: wie der HimbeerToni vom Dienst.
Früher war ich Basser in ’ner amtlichen Punkband, und Probleme kannte ich eigentlich nur vom Hörensagen. Remo Smash war vorbildlich abgehangene 78er-Schule. Wir haben uns damals in Berlin getroffen und eine der besten Punkplatten überhaupt aufgenommen: Toilet love. Jetzt bin ich über vierzig (Problem Nummer vier), arbeite als freier Textknecht für verschiedene Verlage und versuche in der restlichen Zeit, bislang vergeblich, etwas Bleibendes für die Nachwelt zu hinterlassen (Problem Nummer fünf).
Aber ab heute, Freitagnachmittag, wird zurückgeschossen, denn wir, Remo Smash, feiern unser fünfundzwanzigjähriges Bandauflösungsjubiläum, und dazu werden erwartet: ihre Durchlaucht Herr Blümchen, mein ältester Freund am Schlagzeug, ich natürlich und Sänger Holgi Helvis, mein direkter Wohnungsnachbar. Fehlen werden Guitar-King Kurtchen »König« Reich, denn er ist seit einigen Wochen wie vom Erdboden verschluckt (Problem Nummer sechs), und natürlich Papa Punk, unser Leadgitarrist und Songschreiber, den es vor über zwanzig Jahren schwer zerrissen haben muss und der seitdem verschollen ist.
Mein Neueinsteigerproblem auf Platz zwei wohnt seit ein paar Tagen direkt über mir und meinem Etagennachbarn Holgi Helvis in Stockwerk sechs und hört, soviel ich weiß, auf den Namen Ursu – ein Mann, der so aussieht, als stamme er aus Gregorgisien oder einer anderen dieser früheren sowjetischen Teilrepubliken. Er ist der Logiergast von Ioan Rustavi, dem Intendanten des Theater- und Kulturzentrums unserem Haus gegenüber, wo Ursu, wie Rustavi sagte, schon letzten September mit seiner Puppe aufgetreten ist. Rustavi ist fast nie zu Hause und Hauptmieter der Dachgeschosswohnung über mir, in der diese Ursu-Knallcharge gerade wieder auf meinen und vermutlich auch Holgis Nerven rumtrampelt.
Zermürbt gehe ich rüber zu Holgi. Wir müssen etwas gegen diesen Radau tun. Seine Tür ist wie immer offen. Mein Nachbar liegt zwischen Stapeln von Autoprospekten und pennt. Dann öffnet er die Augen und bläst sein Bazooka-Kaugummi auf. Ich sehe mich um. Rechner und Scanner sind angeschaltet. eBay-Dreamkarl, so nennen wir Holgi manchmal, hat offenbar noch nicht Feierabend. Unter der Woche läutet Holgi nämlich seinen Feierabend für Job Nummer eins gegen zwölf Uhr mittags gewöhnlich mit einer bettschweren Einliterdose Elephant-Bier ein, die nach Verzehr sein Einschlafen beschleunigt. Ich nehme einen tiefen Zug aus Holgis Dose, die auf einem Prospektestapel steht, seinem provisorischen Nachttischchen.
»Mensch, tut das gut!«, sage ich. Über uns poltert es.
»Ey, lass uns hochgehen, Alter!«
Holgi richtet sich auf, greift sich ein frisches Bier. Ich wische mir den Mund am Ärmel meiner Adidas-Joggingjacke ab. Dann gehen wir ins Treppenhaus und tapern treppauf: General Anton Blech mit seinem Blechbüchsenarmisten Holgi Helvis im Schlepptau. Die Dosen im Anschlag, halten wir in Stockwerk sechs inne. Ich bücke mich, presse ein Ohr ans Türschloss. Drinnen spricht ein Mann mit hartem Akzent Englisch. Holgi lauscht ebenfalls. Er liegt mit seinem Tipp wohl richtig, dass der Fremde dort drinnen entweder mit sich selber kommuniziert und einen an der Marmel hat oder aber in ein Telefon spricht. Holgi geht in die Knie, späht durch den Briefschlitz. Ich drücke mein Ohr jetzt fest gegen die Tür.
»Yeah, fine, babe… No, I’ll start at about nine … last time old show, Ursu’s world’s famous magical puppet show, see ya tonight, Adä.«
Adä! Woher kenne ich den Namen? Klingt wie Ada, nur mit ä am Ende, denke ich, während ich mich aufrichte. Und Ada ist meine Geliebte. Direkt vor meiner Nase befindet sich ein Stück verchromtes Metall ohne Aufprägung. Kein Name. Weder Usus, Ouzo, Ursus der Schreckliche noch der des Kulturbetriebs-intendanten.
Ich drücke mein Ohr wieder an die Tür. Zack, geht die Tür auf. Holgi und ich fallen vor Schreck fast vornüber, mit den Ohren noch dort, wo eben noch die Tür war.
»What are you doing here?«
Wir heben die Köpfe und wandern mit dem Blick an einem dunkelhäutigen Mann mit Schmerbauch empor, den er unter einer Tunika aus schwerem schwarzen Vorhangstoff verbirgt. Etwas lugt aus der Tunika heraus. Es sieht einem toten Politiker ähnlich, den ich aus dem Fernsehen kenne, nur in klein. Das Etwas starrt uns aus geröteten Augen an. Dann zieht es sich in den schwarzen Umhang zurück.
Holgi ist sprachlos. Er, der ja auch an Aliens glaubt, kann seinen Blick nicht abwenden von dem Herrn mit dem seltsamen Wirtswesen. Die Stimme des Fremden hat überrascht geklungen, aber nicht unfreundlich. Ich betrachte das gebräunte Gesicht dieses nicht mal unattraktiven Glatzkopfs mit schorfigem Haaransatz. Auch auf den zweiten Blick, finde ich, sieht der Mann weder beängstigend noch besonders außerirdisch aus, denn er hält wie wir eine Dose Bier in der Hand, mit der anderen drückt er sich den Telefonhörer ans Ohr.
»Bye, love«, sagt er und legt das schnurlose Telefon auf der Garderobe ab. Seine Dose lässt er in einer Tasche seines Umhangs verschwinden. Der Mann sieht uns freundlich an und kratzt sich den schrundigen Haarkranz. Wie Schneeflocken rieseln feine Grind- und Schorfpartikel herab, die sich auf dem Umhang mit der seltsamen Wesenheit darunter sammeln. Eines steht fest, dieser Mann ist nicht Ioan Rustavi, der renommierte Theaterintendant. Dieser Herr mit der juckenden Kopfhaut würde nirgendwo auf der Welt als kaufmännischer oder künstlerischer Leiter eines wie auch immer gearteten Kulturbetriebs durchgehen – höchstens als Flohzirkusdirektor, der seinem Ensemble den eigenen Körper als Heim-, Schlafstatt und Futterquelle zur Verfügung stellt.
Und ganz offensichtlich hat der auch auf den dritten Blick recht muslimisch-orientalisch erscheinende Herr gehörig einen an der Marmel. Holgi denkt sicherlich das Gleiche. Mit jecken Typen kennen wir uns aus. Der Mann pult weiter an seinem Kopf. Soweit ich verstanden habe, ist er Künstler. Aber was kann man auch erwarten von einem Zeitgenossen mit blutigem Schorf in der Gesichtsmaske, der am helllichten Nachmittag Bier in sich hineinschüttet und eine kindsgroße Puppe vor dem Bauch spazieren trägt.
»Jetzt weiß ich’s«, rufe ich, »die sieht aus wie Slobodan Milosevic, dieser Serbenführer.« Auch Holgi kann den Blick nicht von der hässlichen Figur nehmen, die aus dem Umhang späht. Ruhe bewahren, denke ich, vielleicht ist der Typ ja richtig irre. Ich tue erst mal so, als wäre es das Normalste der Welt, mit einem hässlichen vor den Bauch geschnallten Wesen herumzulaufen, dessen Maul sich wie bei einem schnappenden Karpfen bewegt und sich dann wieder unseren Blicken entzieht. Wegen der eben belauschten Gesprächsfetzen entscheide ich, mich in Englisch zu verständigen, obwohl ich, sagen wir mal, dieser Sprache nicht gerade mächtig bin.
»I am your neighbour«, sage ich und zeige auf meinen Freund: »This is my friend Holgi.«
»He is called Horny and comes directly to you from down under«, erläutert Holgi und zeigt auf mich.
»Ah, you are horny and from down under«, wiederholt der Dicke.
»My real name is Anton, but you can say Toni to me«, verbessere ich.
Der Mann betrachtet nachdenklich die ordentlich gewienerten Holzdielen zu unseren Füßen.
»Hi, Toni, hi, Holgi, nice to meet ya«, kräht plötzlich eine Fistelstimme.
Woher kam das? Der Südländer hat seine Lippen nicht bewegt. Na klar, der Typ muss Bauchredner sein!
»Hol ihn mal raus!«, sage ich.
»Pardon?«
Holgi zeigt auf die Puppe. »Fetch him out, der kriegt ja gar keine Luft da drin! I mean, when it is a human being.«
»Human being?«
»Mensch!«
»Ah! You mean Milo!«
Der fremde Mann zieht den oberen Teil der Puppe unter seiner Kutte hervor. Der Unterkörper steckt auf einem Stock, der in seinem rechten Hosenbein verschwindet.
»You are Toni?«, krächzt die Puppe.
»Yes. In Englisch and German«, bestätige ich.
»Das Teil kann echt sprechen und sieht aus wie Slobodan Milosevic!«, freut sich Holgi. »Das ist ja ’n Ding.«
»Okay, ihr beiden«, lenke ich ein und fixiere den Südländer und seinen hässlichen Anhang. »The problem is, ich wohne genau unter dir und schreibe, you know? Schreiben. Wie Buch. Roman, you know.«
Holgi legt seinen Arm auf meine Schulter. »Anton – since years he is riding a Roman.«
»Riding a Romän?«, sagt der Fremde.
Langsam werde ich sauer. »Lass man stecken, Alter«, sage ich. »Ich hab kein’ Bock auf das Gekasper hier oben, ich muss arbeiten, schreiben, nix mehr tack, tack, verstehste, stop this Radau here…!«
»Du musst Englisch mit ihm sprechen«, fällt mir Holgi ins Wort. Holgi hat gut reden. Er kann aus dem Stegreif fast fünfzig Elvis-Texte auswendig singen. Mit siebzehn war er als Sänger zu Remo Smash gestoßen. Jahre später heuerte er bei den Fiesen Fettern an, ’ner drittklassigen Prollrock-Truppe für Arme, was ihn leider ziemlich aus der Spur geworfen hat.
»My name is Radulescu, not Radau«, sagt der Mann mit der Puppe.
Ich setze noch mal an. »Seltsamer Herr, I am a writer, not a fighter, sonst würde ich dir jetzt eins aufs Maul geben. I need my silence to write. I am directly from down under, und Holgi ist auch from down under, only the Wohnung daneben.«
»Down under, daneben?« Der seltsame Nachbar betrachtet Holgis Koteletten unter der fettigen Matte, die ausgeleierte Jogginghose und seine uralten Filzlatschen.
»Lass gut sein and don’t forget: Noise annoys or I call the Police«, sage ich.
»You just come up and say stop when it is too loud, okay? No police.«
»Don’t make this fucking Lärm again with your puppet or you’ll get heavy trouble with me and Toni!«, warnt Holgi.
»Bye, Ölgi, bye, Toni, for a free Kosovo, never ever Milosevic again, no Serbs and no police.«
»Letzteres liegt an dir, wie viel Krach du hier veranstaltest. Und freu dich, dass deine Heimat jetzt von fast allen Staaten anerkannt wird.«
»But they destroyed my show, my program!«
»Ruf doch die Polizei!«, sagt Holgi.
»By the way, boys. Be aware of a policeman here in Winterhude, his name is Schangeleidt, PM Schangeleidt, he hates Ausländers und Punks, too«, antwortet unser neuer Nachbar und lacht schallend. »You wanna join my show tonight? Come to the Kampnagel, the theatre on the other side of the street.«
Er reicht uns ein Faltblatt mit dem Programm. Dort steht: 20.30 Uhr: Die Zigeunerkapelle Fanfare Ciocarlia erreicht mit treibenden Paukenschlägen, schreienden Saxophon- und wilden Klarinettenklängen über zweihundert Beats pro Minute und hat bisher noch jeden Saal zum Kochen gebracht. Prämiert mit dem deutschen Schallplattenpreis. Im Vorprogramm: Radulescu Ursu, Kosovo, politische Pantomime, Bauchreden, Akrobatik auf Stelzen. Okay, Bauchreden und Weltmusik im Punkrhythmus, obendrein mit dem deutschen Schallplattenpreis prämiert, das könnte, mit ausreichend Umdrehungen im Blut, durchaus ein weiteres Programm-Highlight unseres Revival-Bandtreffens werden.
»Durchgeknallt, aber grundsympathisch«, kommentiere ich beim Runtergehen.
»War mir klar, Horni. So ’ne Typen gefallen dir.«
»Wie meinste das denn?«
»Du warst früher auch so drauf.«
»Vielen Dank, Holgi. Bist ’n echter Kumpel.«
»Sach ma, kennst du diesen … Schangeleidt?«
»Nee, Alter, Bullen kenne ich grundsätzlich nicht mit Namen.«
»Was jetzt?«, will Holgi wissen, als wir ein Stockwerk tiefer in meiner Küche Platz nehmen. Ich blicke rüber auf die kalt verglaste Fassade des Bürokomplexes, in dem die Staples-Hauptverwaltung das Überleben des dahinter liegenden Kulturzentrums sichert. Fünf Stockwerke unter mir rauscht der Verkehr vierspurig dahin.
»Plan ist: Ich hol Herrn Blümchen vom Bahnhof ab, und du, Holgi, sorgst für die angemessene Aufstockung unserer Biervorräte.«
»Gebongt. Nachher bin ich noch auf Sendung. Muss mich dringend umziehen.«
»Kannste gleich Werbung machen: Fünfundzwanzig Jahre Remo-Smash-Auflösungsparty im Schlachthof heute Nacht«, sage ich. »Beginn ist um elf, und unseren bekloppten Kosovaren auf Kampnagel kannste auch für heute Abend ansagen. Wir treffen uns bei mir um acht.«
»Gebongt«, sagt Holgi schon wieder und geht rüber in seine Wohnung.
Oben bei unserem Bauchredner bleibt es ruhig. Wahrscheinlich denkt er über sein neues Programm nach. Dann klingelt mein Telefon.
»Judith, allerbeste, gute Freundin. Wie geht’s?«, säusele ich.
»Ach, weißt du, Brunochen hat ganz schlimm Schluckauf, ich weiß gar nicht, was er hat.«
Na prima, denke ich, mit drei Jahren Erziehungsurlaub im Rücken kann sie es sich leisten, mir die nächste halbe Stunde minutiös die Befindlichkeiten ihres sechsmonatigen Balgs runterzubeten. Judith ist nämlich nicht nur meine Ex, sie ist seit April verheiratet mit Brunochens Vater. Und Stephan ist IT-Heini drüben bei Staples. Manchmal sehe ich meinen Nachfolger von meiner Küche aus, wie er zum nächsten Meeting über die Flure hetzt. Er arbeitet auch an Wochenenden, und er passt, wie ich finde, gar nicht zu Judith.
Na gut. Verstehen konnte ich Judith damals schon mit ihrem Kinderwunsch, als sie noch mit mir zusammen war; schließlich geht die Gutste auch schon schwer auf die vierzig zu.
Ada, meine geliebte Geliebte und derzeitiges Problem Nummer eins, will zum Glück kein Kind. Das haben wir gleich zu Anfang geklärt. Davon abgesehen kann Ada sowieso keine Kinder kriegen, wegen irgendeiner Eileiterverklebung, was eine Befruchtung zu neunundneunzig Prozent verhindert.
Als wir uns vor vier Monaten kennenlernten, hatte Ada gerade eine ›sehr körperbetonte Bekanntschaft mit einem exotischen Mann‹ beendet. Ich selbst stand damals an einer Art transzendentalem Wendepunkt meines Lebens. Ich war nämlich zu der glorreichen, aber für den üblichen Arbeitsalltag eines fest angestellten Lohnsklavenschreibers kaum nützlichen Erkenntnis gelangt, dass maximal die ersten fünfzehn Minuten im Büro ganz schön und gerade noch erträglich sind: also ankommen, grüßen und begrüßt werden, Kaffee holen, E-Mails checken und noch ein paar Minuten mit den Netten von der Kollegenschaft herumjuxen. Dann ist aber wirklich alles durchgehechelt, die Kaffeetasse leer getrunken, und – schon sind die ersten fünfzehn Minuten um. Wie oft wäre ich nur zu gerne ohne die sich anschließenden neun Stunden gleich wieder gegangen. Und weil ich mir das so von Herzen wünschte, kündigte mir der Chefredakteur meinen festen Vertrag. Seitdem mache ich dieselbe Arbeit frei auf Stundenbasis, ohne Urlaubsgeld und Lohnfortzahlung bei Krankheit, und das alles für zweihundertfünfzig Euro weniger im Monat. Dafür bin ich jetzt in der Künstlersozialkasse.
Judith dagegen hat’s gut. Sie sitzt als gelernte Fotografin zu Hause mit Baby Bruno rum, und Stephan zahlt. Natürlich war sie mit Stephan gleich schwanger, kaum dass wir uns on-off-mäßig am Trennen waren.
»Was ist das eigentlich für ein Geräusch im Hintergrund?«, frage ich etwas genervt. »Hört sich an wie ’ne Schmutzwasserpumpe.«
»Die kluge Frau baut eben vor, hab gehört, ihr feiert heute.«
»Stimmt, und ich hab echt viel um die Ohren«.
»Ach. Und was?«, will Judith wissen.
»Remo Smash feiert ab heute Split-Jubiläumswochenende, komm vorbei. Nachher ist Auftakt auf Kampnagel. Treffen um acht bei mir.«
»Ich arbeite dran, Toni, du weißt ja, ich stille Bruno noch voll, und wenn ich bei euch abstürze…«
»Musst ja nicht abstürzen, würd mich freuen, wenn du kommst.«
»Altpunkparty ohne Absturz ist doch langweilig, Toni. Entweder ganz oder gar nicht.«
Ich schaue auf die Uhr. »Judith, ich muss los, Herrn Blümchen abholen, außerdem schmerzt mein Schädel. Und seit ein paar Tagen leider auch mein Schwanz.«
»Kein Wunder. Du säufst zu viel.«
»Du meinst, mein Schwanz hat einen Kater?«
»Woher soll ich das wissen, wahrscheinlich vögelt ihr wie die Karnickel.«
»Ada und ich hatten seit einem Monat keinen Sex mehr.«
»Dann vögelt ihr eindeutig zu wenig.«
»Judith. Fragst du dich nicht auch manchmal: Was bleibt später mal von dir übrig?«
»Toni. Die Sinnfrage stellt sich für mich nicht mehr.«
»Wie biste denn dahin gelangt?«
»Schaff dir einfach ein Kind an, Toni, das bleibt.«
»Damit ich so ende wie du und Stephan. Nein, Judith. Mit was Bleibendem meine ich Musik, Kunst, Schreiben, etwas Großartiges eben.«
»Toni, du steckst eindeutig in einer Midlife-Krise. Soll ich dir mal einen ehrlichen Rat geben?«
»Nein!«
»Such dir ’nen festen Job, und eier nicht weiter als Freier rum. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.«
»Das sagt Ada auch. Seit vier Wochen meckert sie in einer Tour an mir rum.«
»Vielleicht hat Ada ihre Tage?«
»Aber doch nicht einen Monat lang.«
»Vielleicht ist es ja was Ernstes?«
»Ada hat ’nen Termin bei ihrer Frauenärztin. Aber ich weiß nicht, ob die ihr helfen kann. Ohne Unterlass geht das seit vier Wochen: Toni hier, Toni da, dauernd hat sie was Neues an mir auszusetzen, und das trägt sie dann extra in breitestem Schwäbisch vor, weil sie genau weiß, dass mich das verrückt macht. Ich kann das jetzt auch schon. ›Toni, du hängsch dauernd in moir Wohnung ab. Geh doch rübr z dir. Sind doch nur 500 Medr. Und wenn du scho hir bischd: Siahsch nedd, dess dr Müllbeidl so auf koin Fall in den Mülleimr hinoighörd? Die Tüde muss undr den Henkl draa, siahsch, so, sonsch rudschd sie in den Eimr, und i muss den Dregg wiedr oisammeln. Muss man dir noh alls sage??‹ Ich sag dann: ›Ada. Sei mal ein bisschen locker. Das hätte ich schon noch gemacht.‹ Darauf sie: ›Wenn du scho den ganze Abnd hier abhängsch, kannsch ab jedzd bei mir arbeide, wo du sowieso dauernd moi Wohnung okkubiersch.‹ ›Locker bleiben, Ada‹, sage ich, aber es kommt nicht an. ›Wenn du no oimol doi Schuhe bei mir im Flur ausziahsch und bloß so hinknallsch, noh schmeiße i sie dir auf d Schdraße. Und di hinderhr. Hasch mi verschdande? Räum doi Schuhe fälligsch so weg, damid nedd jedr darübr schdolberd.‹«
»Das hört sich nicht gut an«, sagt Judith, »und das passt auch gar nicht zu Ada.«
»Wann ging denn damals bei uns beiden der Stress los?«
Judith schweigt, sie überlegt.
»So nach drei Jahren.«
»Vielleicht liegt’s ja daran: Ada arbeitet im Moment richtig viel. Nach dem Praktikum bei ELLA verdient sie jetzt als feste Freie zum ersten Mal gut Geld mit dem Schreiben. Sie ist ja auch schon fast siebenunddreißig.«
Im Hintergrund heult etwas auf.
»Wart mal, Toni, Bruno braucht was zu trinken, ich geb ihm rasch die Brust…«
Das Pumpgeräusch erstirbt, und Bruno schluchzt, wahrscheinlich schnappt er gerade vergeblich nach Judiths Milchbar. Dann läutet es an meiner Tür.
»Mal ehrlich, Toni. Wenn ihr beiden sowieso keinen Sex mehr habt, dann könnt ihr euch auch ein Kind anschaffen.«
»Danke für den Tipp, Judith, bist ’ne echte Freundin, dann bis heute Abend.«
Ich lege auf. Wovon redet die Frau eigentlich? Ich und ein Kind. Meine Türschelle bimmelt weiter, und in der Wohnung über mir donnert und kracht der Stelzenläufer. Überall Baustellen in meinem Leben, ich denke an mein Problem Nummer eins und gehe gemessenen Schritts zur Tür. Bereits bei unseren ersten Dates vor ein paar Monaten hatte sich bei Ada und mir offenbart: Wir ziehen uns magnetisch an, verfügen aber über diametral entgegengesetzte Temperamente. Ich höre am liebsten Punk-, Indie- und Glamrock, Ada Klezmer und Klassik. Sie trinkt Wein, verträgt nichts und ist Frühaufsteherin, ich bin Langschläfer und Biertrinker, und meine Mutter Piia Hornig, geborene Sinisalo, ist Finnin, und die können bekanntlich saufen, bis der Arzt kommt.
Außerdem belastet eine extrem unharmonische Planetenkonstellation unser Zusammensein. Das jedenfalls wurde uns an einer schäbigen Astro-Bude auf dem Hamburger »Dom« für zehn Euro von einem ratternden Nadeldrucker schwarz auf weiß attestiert. Kurzum – zwischen Ada und mir ist es die… GANZ GROSSE LIEBE.