Читать книгу HimbeerToni - Joachim Seidel - Страница 5
3. Herr Blümchen, die Achtziger und eine Fata Morgana
ОглавлениеTrain kept a-rollin’ – Motörhead
Ich trinke mein Bier aus, nehme einen Stapel meiner literarischen Ergüsse aus dem Drucker, verstaue sie in meinem Eastpak-Rucksack und mache mich auf den Weg zum Bahnhof. Ich beschließe, weder Herrn Blümchen noch sonst jemandem von meiner Vaterschaft zu erzählen. Mann, wir machen dieses Wochenende Party. Angehender Vater kann ich danach noch lang genug sein.
Im Metrobus muss ich daran denken, wie alles begann: Holgi und Kurtchen waren längst von Hamburg nach Berlin gezogen, als Herr Blümchen und ich aus der Provinz in die Mauerstadt aufbrachen. Wir hatten schon als Teenager zusammen mit Papa Punk in unserem Kaff zusammen in einer Band gemuckt. Dann bekam Herr Blümchen seinen Einberufungsbescheid, wollte die nächsten zwei Jahre aber lieber in Berlin Schlagzeug spielen als zur Bundeswehr. Ich wurde zum Glück ausgemustert, schnappte mir meinen Basskoffer und ging mit.
Bevor wir auf Holgi und Kurtchen trafen, entsprach unser Dasein inhaltlich am ehesten dem Schriftzug auf einem verwitterten Emailschild an einer Westberliner Fabrikhalle, das Herr Blümchen und ich kurz nach unserer Ankunft an einem bitterkalten Januartag Anfang der Achtzigerjahre im tiefsten Kreuzberg entdeckt hatten. Wir, die zwei frisch zugezogenen Wessis, hatten tags zuvor auf dem Flohmarkt am Reichpietschufer abgewetzte Anarcho-Lederjacken erworben, so, wie es sich für zugereiste Neuberliner gehörte. Nun verharrten wir andächtig, zähneklappernd in unseren schwarzweiß gestreiften Spandexhosen mit signalfarbenen Stulpen über den Waden, denn dort auf dem Fabrikschild stand geschrieben:
Wir stellen ein:
Und darunter:
die Produktion
Das entsprach genau unserem Lebensgefühl.
Und heute? Trage ich weder Spandexhosen noch neongelbe Stulpen. Berlin ist längst keine Frontstadt mehr, aber im Winter so deprimierend wie eh und je.
Am Bahnhof angekommen, klingle ich nochmals bei unserem ›lost Gitarrero‹ Kurtchen durch. Seit über zwei Wochen schon ist er wie vom Erdboden verschluckt. Im Kino meinte eine Kollegin, Kurtchen habe kurzfristig Urlaub genommen. Aber ob und wohin er verreist ist? Elsbeth, Kurtchens Ex, will ich deswegen nicht behelligen. So besorgt bin ich dann auch wieder nicht. Kurt ist weiterhin nicht zu erreichen.
Herrn Blümchen erkenne ich schon von Weitem an seiner US-Marines-Brikettfrisur. Er kommt den Bahnsteig entlanggehumpelt, bleibt stehen und krümmt urplötzlich den Oberkörper nach vorn. Müde sieht er aus und fett. Wahrscheinlich hat Herr Blümchen wieder mal versucht, mit dem Rauchen aufzuhören. Er schwitzt und keucht vor Anstrengung, sein Kopf ist puterrot. Hundert Kilo Lebendgewicht muss man eben erst einmal bewegen können. Mein Freund steht nach wie vor geknickt neben sich und einem Koffer mit Rädern unten dran. Er starrt auf die Gleise. Ich fahre mit der Rolltreppe runter zu Gleis 13/14 und bleibe direkt hinter ihm stehen.
»Blümchen, Blümchen an der Wand…«
Herr Blümchen wendet sich um.
»…wer hat den größten im ganzen Land!«, sagt er, ohne eine Miene zu verziehen.
Wir nehmen uns in die Arme. Herr Blümchen zieht mich näher an sich heran und umarmt mich nach Kräften. Eigenartigerweise tut mir plötzlich der Schwanz weh.
Auf mein »Herr Blümchen, an diesem Wochenende liegt Punkrock in der Luft« reagiert der beste Freund halbherzig. Er schaut auf seine Uhr und sagt: »Ich brauch dringend ’ne Mütze Schlaf. Sonst wird das nix mit Pogo.«
»Und du willst Punk sein?«
»Fünfundzwanzig Jahre Remo Smash! Das sollte eigentlich reichen. Was steht sonst an?«, will Herr Blümchen wissen.
»Na ja, heute erst Zigeunerpunk mit ’nem komplett durchgeknallten Stelzenläufer im Rahmenprogramm, der jetzt über mir wohnt, ist genau unsere Kragenweite, anschließend Poetry-Slam und Remo-Smash-Alarm auf ’em Kiez und morgen um vier Uhr Forget the Night – Fugazi live in der Fabrik.«
»Fugazi live? Alter. Ich muss Sonntag wieder um halb drei raus.«
»Alter. Die spielen nachmittags um vier.«
»Wie? Punkrock am helllichten Nachmittag? Und was machen die nachts?« Herr Blümchen gähnt genüsslich.
»Abends haben die was Besseres vor, als sich vor einer Horde ungelenk rumhopsender, grimassierender Altpunks zum Affen zu machen.«
»Ich mach alles mit. Hauptsache, ich muss nicht singen«, grummelt Herr Blümchen.
Gemächlich trotten wir in Richtung Ausgang Kirchenallee. Mein Gemächt schmerzt jetzt auch beim Gehen, und ich befürchte, dass es sich bei diesem Handicap um einen potenziellen Neueinsteiger in meine Problem-Charts handeln könnte. Währenddessen zieht Herr Blümchen sein kaputtes Bein weiter nach.
»Von der Leiter gefallen, nix Schlimmes«, sagt er und humpelt weiter.
»Na gut. Singen musst du bei mir nicht, backen und tanzen auch nicht!«
Seit der siebten Klasse wusste Herr Blümchen, dass er als Erwachsener die elterliche Backstube übernehmen würde und dass er zwar gerne Schlagzeug spielt, aber weder gerne singt noch tanzt. Einmal hatte Herr Blümchen in den Achtzigern öffentlich eine Art Veitstanz zu Love Like Blood von Killing Joke aufgeführt. Dabei hoppelte er wie ein gleichgewichtsgestörter Marabu auf Brautschau über die Tanzfläche im Stairway. Und in den späten Siebzigern habe ich ihn sogar mit eigenen Augen Pogo tanzen sehen und fasziniert gelauscht, wie er Fast Cars von den Buzzcocks mit seinem tiefen Bass stimmlich untermalte. Aber das ist lange her. Herr Blümchen ist musikalisch wie ein Stein, und er hat nie sonderlich darunter gelitten. Und weil er schon 1978 mein bester Freund war und seinerzeit der Punkrock regierte, hatte ich ihn damals als Erstes gefragt, ob er nicht Sänger bei unserer ersten Band Deflöration werden wollte, nachdem Papa Punk in den Sack gehauen hatte und ein paar Monate vor uns nach Berlin abgehauen war. Dann haben Kurtchen, Holgi, Herr Blümchen und ich zusammen Toilet Love aufgenommen – wir nannten uns Remo Smash, und auch Papa Punk war kurzzeitig wieder mit an Bord.
Wir treten aus dem Bahnhofsgebäude ins Freie. Wie immer, wenn ich ihn am Hauptbahnhof abhole, weist mich Herr Blümchen beim ersten Ansichtigwerden großflächig im Gesicht Tätowierter und anderweitig vom Leben oder von Menschenhand Gezeichneter darauf hin, wie froh er doch ist, nicht mehr in der großen Stadt, sondern in der tiefsten Provinz zu wohnen.
»Bäähh«, tönt es aus ihm heraus, und dabei wabbeln seine fleischigen Wangen zum Zeichen seiner Intoleranz wie die hängenden Sabberlefzen einer Riesendogge.
Schweigend gehen wir zur Bushaltestelle.
»Ich hol uns was Trinkbares!«, sage ich.
»Gib mal dein Jahrhundertwerk her!«
Ich sehe Herrn Blümchen zweifelnd an. Er nickt mir zu. Ich krame einen Stapel ausgedruckter Romanseiten aus meinem Rucksack und reiche ihm ein Blatt.
»Lies erst mal das hier.«
»Willste mich verarschen?«
Herr Blümchen grapscht sich den ganzen Stoß, macht es sich mit einer Pobacke und ausgestrecktem Fuß auf seinem Rollkoffer bequem und beginnt mit der Lektüre. Ich gehe zum nächsten Imbiss. Vor dem Reingehen drehe ich mich um. Tatsächlich: Mein bester Freund sitzt da und liest meinen Text. Und guckt dabei kein bisschen angewidert. Ich lasse ihn lesen, bleibe dann mit den erworbenen Bierdosen hinter Herrn Blümchen stehen und sage nichts. Plötzlich beginnt der Fahrkartenautomat zu sprechen. Herr Blümchen schreckt auf.
»Wegen einer Demonstration in der Innenstadt verzögern sich die Abfahrtszeiten der Metrobuslinien 4, 5 und 6 sowie der Schnellbusse im gesamten Innenstadtbereich. Wir bitten um Ihr Verständnis.«
Also latschen Herr Blümchen und ich die Kirchenallee zurück. Vorbei an Imbisshallen mit weißen Plastikmöbeln davor und den wenig einladenden City-Hotels; vorbei am Deutschen Schauspielhaus in Richtung Lange Reihe.
»Wie findstes?«, frage ich.
»Berlin-Moabit, Remo Smash, Knete und das ›Glühwürmchen‹, der Übungsraum hinter den Klos im Ballhaus Tiergarten und die Kack-Achtziger, alles gut getroffen, Alter«, sagt Herr Blümchen und guckt gnädig. Er ist durstig, will aber seine Dose noch nicht aufreißen. Auf der anderen Straßenseite erblickt er »Max & Consorten« und stopft seine Bierbüchse in den Rollkoffer.
»Der Laden ist auch Kack-Achtziger«, maule ich, ahne aber, dass er jetzt da rein will. Ich kann diese Destillen mit abgehangenem Flower-Power-Ambiente, in denen die Zeit stehen geblieben ist, nicht mehr verknusen. Dass ich noch immer gegen Altfreaks aus den Siebzigern allergisch bin, macht mich nachdenklich. Als Teenager hatte ich ihre langen, hennarot gefärbten Matten, die hängenden Schultern und den schlurfenden Gang anfangs glühend bewundert, auch dass diese Menschen dauernd kifften und Dinge sagten, wie »Hey, Män, das is’ aba echt groovy, Alda«, konnte mich eine Zeit lang nicht abschrecken.
»Ich hab Brand wie ’ne Bergziege«, drängelt Herr Blümchen. Also gehen wir rüber ins »Max« am Spadenteich. Was für eine Wuselbartkneipe. Herr Blümchen humpelt in den Vorraum, seinen rollenden Koffer im Schlepptau, dessen Räder jetzt zu quietschen anfangen.
»Bergziege ist auch Kackachtziger.« Ich hasse die ganze verdammte Dekade wie die Pest, fast so schlimm wie 1975, aber das war ja bloß ein Jahr. Die Achtziger dagegen waren und werden immer das verlorene Jahrzehnt bleiben – mein verlorenes Jahrzehnt.
»Das Beste war Repo Man«, befindet Herr Blümchen, der es auch im Kino gerne etwas härter mag. Der dunkle Schankraum riecht trotz Rauchverbot nach alten Kippen, abgestandenem Bier und totgeschlagener Zeit.
Bis auf die gut aussehende Bedienung hinterm Tresen ist kein Mensch zu sehen. Wir setzen uns an einen Tisch am Fenster. Herr Blümchen ordert zwei Halbe.
»Ich weiß bis heute nicht, wie wir den ganzen Achtziger-Schwubelkram ertragen konnten: ›Kristallnaaach‹, ›Wir wollen Sonne statt Reagan‹, Friedensbewegung, Georg Danzer, Baldur Springmann und wie die ganzen Bots und Baps so hießen«, sagt Herr Blümchen und seufzt.
Ich rufe »Aufstehn«, erhebe mich und gehe zum Klo. In der Mitte der Kneipe bleibe ich stehen und singe zu Herrn Blümchen rüber: »Was wolle wir dringe siebe Dage lang, was wolle wir dringe?«
Und Herr Blümchen kräht zurück: »Weiches Wasser bricht den Stein!«
Am Urinal stehend frage ich mich, ob es je ein dreißigjähriges Remo-Smash-Treffen geben wird, wenn ich demnächst ein Kind kriege. Mich überkommt heftiger Durst.
»Euer Bier kommt gleich«, schallt es von der Theke. Die Frau ist viel jünger als wir, so um die zwanzig plus. Gnade der späten Geburt. Die trüben Achtziger müssen an ihr folgenlos vorübergegangen sein. Herr Blümchen wirft einen begehrlichen Blick auf sie oder die beiden Blonden auf ihrem Tablett.
»Warum hast du eigentlich so ’n Schiss, dass du bei mir singen musst?«, frage ich Herrn Blümchen, als ich mich wieder setze.
»Ich hatte die Tage genug Gesang. Aber lass man, ist mir peinlich.«
»Los, Blümchen, mir kannstes doch sagen.«
»Schieb noch mal ’n paar Seiten zu lesen rüber«, mault er stattdessen. Ich hole einen weiteren Stoß vollgetippter Blätter aus dem Rucksack und lege sie vor mich auf den Tisch. Herr Blümchen schnappt die paar Seiten, beginnt zu lesen, und ich denke an all die unbeschwerten Tage damals mit meinem besten Freund und wie sich die Zeiten geändert haben. Ich stürze mein Bier runter.
Herr Blümchen streckt mir die Hand entgegen.
»Gib her! Alles, was du hast«, sagt er. Ich reiche ihm die restlichen Seiten, die er zu den Bierdosen in die Außentasche seines Koffers schiebt. Herr Blümchen trinkt aus, zückt sein Portemonnaie und fixiert mich.
»Wusstest du, dass ich demnächst 500000 Euro Schulden habe?«
»’ne halbe Million, warum das denn?«, frage ich entsetzt.
»Ich bau ’nen Back-Stopp; weißt du, ist wie ’ne Waschstraße, nur dass man hinten mit ’ner Tüte Brötchen wieder rausfährt.«
»Drive-in für Backwaren finde ich gut, wo man doch heutzutage fast nirgends so was Exotisches wie Brötchen zu kaufen kriegt«, argwöhne ich.
»Das genau ist das Problem. Das Grundstück liegt neben einer Tankstelle, und die verkaufen seit letzter Woche auch Brötchen, Croissants; was du willst. Und weißte, was ich bin?«
»Gekniffen?«
»Voll, Alter.«
»Kannste den Banken nicht sagen, nee, danke, ich will eure Fünfhunderttausend jetzt nicht mehr? Ich hab’s mir anders überlegt?«
Herr Blümchen schüttelt den Kopf.
»Nee, Alter, das zieh ich durch.«
So ist er, mein bester Freund. Starrköpfig und unbelehrbar. Ich überlege, wie viele Millionen Brötchen er backen muss, um von den Schulden wieder runterzukommen. Herr Blümchen wird unruhig.
»Was steht denn heute an auf Kampnagel?«, ranzt er.
»Blaskonzert.«
»Blaskonzert ist immer gut«, erwidert Herr Blümchen, »apropos, wie läuft’s denn bei dir und Ada?«
»Na ja. Es gibt da schon Neuigkeiten…«
»Vögelt ihr ordentlich?«
»Wir leben eher abstinent.«
»Hört sich fast so an wie vor einem Jahr bei deiner Ex Judith und diesem Stephan, als sie schwanger geworden ist.«
Ich schlucke. Der Vergleich trifft mich mit Wucht. Ich hatte Herrn Blümchen erzählt, wie froh ich damals war, dass dieser Schwangerschaftskelch an mir vorübergegangen und direkt an Stephan übergeben worden war. Und jetzt? Habe ich mit Ada denselben Salat.
»Ab fünfunddreißig wollen die Weiber alle nur das eine: nämlich Nachwuchs.«
»Du hast gut reden«, sage ich, denn Herr Blümchen ist dank einer Hoden-OP vor einigen Jahren eine taube Nuss.
»Denk dran, Toni. Alles Schlampen außer Mutti. Und Punk rules.«
Für mich steht jetzt felsenfest, ich werde weder Herrn Blümchen noch sonst jemandem an diesem Wochenende von meiner Vaterschaft erzählen. Altpunk, der sein Leben nicht im Griff hat, kriegt Kind, tolle Wurst, wie soll man da noch ausgelassen feiern? Holgi muss ich allerdings noch nachträglich zu absolutem Stillschweigen vergattern. Als ich das mit mir geklärt und für uns beide bezahlt habe, schlendern Herr Blümchen und ich die Lange Reihe runter zur nächsten Bushaltestelle. Von meinem jetzt permanent schmerzenden Schwanz sage ich sicherheitshalber auch nichts. Der 6er-Bus zum Borgweg rauscht an uns vorbei, aber hinterherrennen wollen und können wir nicht. Stattdessen schauen wir bei Sardo rein. Das liegt auf dem Weg, und ich kann sowieso an keinem Plattenladen vorbeigehen.
»Nun erzähl schon, wo hast du gesungen?«
Herr Blümchen ist vorausgeeilt und durchkämmt bereits die Sparte Filmmusik nach einem Vinyl-Exemplar des Repo-Man-Soundtracks. Er schaut mich an und sagt: »Alter, ich hab gestern vor dreihundert Bäckern gesungen, ohne Scheiß, und Hanna ist dabei die Bandscheibe aus der Verankerung gerutscht.«
»Aber du kannst doch gar nicht singen.«
»Deswegen ja. Ich fand das gar nicht komisch.«
»Warum hastes dann gemacht?«
»Ich wurde genötigt.«
»Von dreihundert Bäckern?«
»Und ich bin nicht mal Ralf König.«
»Natürlich nicht!«, versuche ich Herrn Blümchen zu beruhigen, bin aber etwas besorgt über seinen Gesamtzustand. Dass er nicht gerne singt, weiß ich seit der achten Klasse, aber da hieß er auch noch nicht Herr Blümchen, sondern nur Carl und mit Nachnamen Blum. Herr Blümchen hält inne und sieht mich durchdringend an.
»Hanna und ich waren beim Hessischen Bäckertag in Fulda, wo sonst nur Bischofssynoden und so stattfinden, und dort hat uns Herr König, der moderierende Motivationstrainer der Landesbäcker-Innung, zum Absingen von Froh zu sein, bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König gezwungen. Natürlich wurde ich auf die Bühne gebeten und habe die Gelegenheit nicht verstreichen lassen – angestachelt von Herrn König, der auch mit Vornamen so heißt wie der schwule Comiczeichner –, lauthals das gerade eben gehörte Lied als Vorsänger ins dargereichte Mikro zu singen. Okay, können sie haben, habe ich mir gedacht, und dann blökte ich statt ›Froh zu sein, bedarf es wenig‹ den in Bäckerkreisen kaum bekannten Vers ›Schwul zu sein bedarf es wenig, ich bin schwul und heiß Ralf König‹«.
»Krass«, sage ich.
»Was weiß ich, was in mich gefahren ist. Vielleicht war’s die Vorfreude auf unser Bandtreffen.«
Ich grinse. Mit zwölf Jahren hatte ich meinen besten Freund zum ersten Mal singen hören. Danach hatte er aus dem Gesicht geblutet. Wir saßen in der Klasse nebeneinander, trugen Sandalen und gelbe Frotteehemden mit Kordelausschnitt, ich hatte eine hellbraune, er eine beigefarbene Feincordhose an. Herr Blümchen fuhr ein Bonanzarad mit High-Riser-Lenker und gold gesprenkeltem Bananensattel sowie nachträglich installiertem batteriebetriebenen Plastikmotor unterhalb der 3-Gang-Knüppelschaltung, der nicht für zusätzlichen Schub, dafür aber satten Sound sorgte.
Ich hatte ein dunkelgrünes 26er-Herrenfahrrad, an dessen Vordergabel ein Stück Hartpappe mit Tesafilm befestigt war. Beim Fahren platterte das Stück Karton gegen die Speichen und verursachte Geräusche, die an einen laufenden Mopedmotor erinnern sollten. Dazu hatte ich einen Hochlenker mit Tacho, und dreifarbig gewickeltes Plastikband umspielte meine Bremszüge.
Herr Blümchen war damals von Dr. Bärbraun, dem Musiklehrer, aufgefordert worden, seine Singstimme zum Einsatz zu bringen. Als Herr Blümchen weisungsgemäß tirilierte, sprang Bärbraun von seinem Hocker am Flügel auf und brüllte Herrn Blümchen nieder: »Du musikalischer Neandertaler, du!«
Herr Blümchen aber sang ungerührt weiter, etwas flog ihm gegen den Kopf, und dann lag mein bester Freund auf dem Boden. Er schüttelte sich benommen, betastete die Platzwunde, die Bärbrauns Schlüsselbund an seiner Stirn hinterlassen hatte, und kaum jemand sollte Herrn Blümchen je wieder singen hören.
»Darf ich das irgendwie verwenden?«, frage ich.
»Nein«, sagt Herr Blümchen, der jetzt die Indie-Langspielplatten durchkämmt. Repo Man auf Vinyl war offenbar aus. Ich hatte mich derweil über die Punksingles hergemacht, in der Hoffnung, die eine oder andere Rarität günstig abzugreifen.
»Künstlerpack! So seid ihr doch alle, erst feixt ihr euch einen auf anderer Leute Kosten, und abends hoch die Tassen, dicke Weiber aufreißen, dann schön pofen, und anschließend verbratet ihr das Ganze künstlerisch. Ich beneide dich um deine Schreiberei, Toni.«
»Alter, ich geh auch arbeiten, ich verdien mein Geld als Redakteur, und niemand zwingt dich, tagaus, tagein in deine mehlige Schwitzstube zu gehen. Dein kaputter Fuß wird von dem Geacker auch nicht besser! Du brauchst irgend ’nen Ausgleich.«
»Alter. Ich hab Abitur, aber sonst nix gelernt, ich schlag mir die Nacht um die Ohren für ’n Appel und ’n Ei, damit ihr Tagediebe morgens frische Brötchen habt. Ich sage dir, bei mir ist auch bald der Ofen aus. Ich will kein Mehlquäler mehr sein, ich werd Künstler.«
»Und was wird aus deinem Back-Stopp?«
»Scheiß auf Back-Stopp!«, sagt Herr Blümchen und betrachtet die Soundtracks zum Untergang 1 und 2. Ich nehme die erste LP der Ramones von 1976 in die Hand. 1-a-Zustand, aber mit zwanzig Euro zu teuer.
»Ich schmeiß irgendwann hin den Dreck!«, pöbelt Herr Blümchen weiter, woraufhin ich eine spontane Vision verkünde: »Blüte Blümchen, der unmusikalischste Atonal-Sänger der Welt, trommelt ab sofort wieder – und zwar auf selbst geschweißten Mannesmann-Röhren. Okay, gerne auch auf Stahlträgern, Weißblech und jeglicher Art Alteisen.«
»Reifenstahl!«, ruft Herr Blümchen.
»Was für Stahl?«
»Hier!« Herr Blümchen wedelt mit einer LP-Hülle herum, er schaut sich um und flüstert: »Reifenstahl – und du wirst nie mehr normal. Die Wunderwaffe, irre selten das Teil!«
»Was soll die kosten?«
»Leise, Mann!«, faucht Herr Blümchen. »Vierzehn Euro, so billig krieg ich die nie mehr.« Herr Blümchen schielt in Richtung Plattenladenmann, der hinter der erhöhten Kasse auf einem Hocker thront und mit betont gelangweiltem Blick meinen aufgeregten Freund mit der seltsam aussehenden Plattenhülle in der Hand mustert. Dann blättert er weiter und versenkt sich in einen Testbericht der Zeitschrift Gitarre & Bass.
»Mach dir mal nicht gleich in die Hose. Dieser Mann hinterm Plattentresen gehört zur Spezies Muckerpolizei. Tagsüber stellen Männer wie er das Verkaufspersonal in Plattenläden und Musikalienhandlungen, und nach Feierabend wird in übers ganze Stadtgebiet verteilten Übungsbunkern ohne Belüftung und Toiletten musiziert und bei Bedarf in Plastikkanister gepinkelt.«
Dieser Mann dort oben würde niemals in letzter Sekunde den wahren Wert einer seltenen Schallplatte erkennen, um dann zu sagen: ›Welcher Idiot hat denn diese Platte mit vierzehn Euronen ausgezeichnet? Nee, nee, unter ’nem Fuffi geht die mir aber nicht vom Hof!‹
»Ich besitze nicht eine teure Schallplatte«, bedauert Herr Blümchen, und mir fällt ein, dass meine umfangreiche Siebziger-Punksingle-Sammlung das einzig Wertvolle in meiner Wohnung darstellt.
Der müde Verkäufer im Sardo-Plattenladen schlägt gelangweilt seine Gitarrenzeitschrift zu und entzündet sich eine filterlose Zigarette.
»Er raucht Lucky Strikes«, flüstert Blümchen mit konspirativem Blick.
»Das muss ’ne Aushilfe sein. Echte Platten-Digger rauchen Zigarillos oder drehen selbst. Nicht im Traum denkt der daran, den Preis für deine Reifenstahl-Platte nachträglich anzuheben«, erkläre ich.
Herr Blümchen schaut trotzdem besorgt und flüstert weiter: »Lass uns bitte das Thema wechseln, ich sage dir, der kriegt das alles mit.«
Ich nehme Herrn Blümchen die LP aus der Hand und gehe forschen Schrittes zum Tresen, lege die Schallplatte ab, fingere meine Geldbörse aus der Jackentasche und zähle vierzehn Euro auf den Tresen. Lucky kassiert das Geld, notiert Interpret und Titel in einem linierten Schreibheft und widmet sich wieder seiner Lektüre. Ich drücke Herrn Blümchen die Platte in die Hand und sage: »Was meinste, wollen wir mit Remo Smash ein Revival starten?«
»Ich würd gerne mal echte Kunst machen.«
»Wie denn, als Herr Blümchen?«
»Nein, als Doppelzett natürlich. Schmiedeeisern prangt mein Name, das doppelte Z, als Logo über meiner zum Studio umgebauten Bäckerei – zwei gewaltige Zetts aus Metall, und bei der Arbeit herrscht eine Kreativität, die sich gewaschen hat. Nie mehr soll dann in meiner Backstube je wieder ein Teigling, Salzmännlein oder anderes Zuckerwerk einen Backofen von innen sehen. Aufstehen würde ich frühestens um neun, ab zehn ist das Atelier geöffnet, vorne wird Kunst verkauft, und ich stehe hinten mit dem Schweißbrenner am Steinofen.«
»Viel Erfolg noch, ihr beiden Superkünstler!«, hallt es vom Tresen rüber. »Sardo in Altona war übrigens mein erster Plattenladen! In einer Band spiele ich auch nicht, und die Reifenstahl-Platte erfüllt den Tatbestand der Körperverletzung. Alles klar?«
Lucky saugt genüsslich an seiner Zigarette und grinst. Ich starre ihn an. Herr Blümchen guckt betreten auf die Wunderwaffe und verstaut sie in seinem Rollkoffer.
Es hat zu regnen begonnen. Wir bleiben im Eingang des Plattenladens stehen. Ich beobachte Lucky aus den Augenwinkeln, während Herr Blümchen sich den Pinnwand-Zetteln und Event-Flyern widmet.
»Was jetzt?«, fragt Herr Blümchen. Er blättert im Veranstaltungskalender eines kostenlosen Stadtmagazins. Ich schaue raus zum Bürgersteig, und mir fällt fast die Kinnlade runter.
»Was grimassierst du?«
»Ich grimassiere nicht!«, empöre ich mich, »guck dir mal die Type an.«
Draußen geht ein Mann mit tief gebräuntem Gesicht vorbei, der mir gut bekannt vorkommt.
»Entweder ist das eine Fata Morgana oder Kurtchen«, sage ich.
»Fata Morgana«, antwortet Blümchen bestimmt.
Stimmt. Kurtchen kann das gar nicht sein.