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Kampf um die Definitionshoheit – Vorwort zur Neuausgabe 2015
ОглавлениеJoachim Widmann
„Dich kriegen wir weich“
Leben im Unrechtsstaat DDR
E-Book Neuausgabe zum 25. Jahrestag der Vereinigung der beiden deutschen Staaten mit einem neuen Vorwort des Autors. Der Titel der bei Bouvier in Bonn erschienenen Originalausgabe von 1997 war
„Dich kriegen wir weich“
Berichte aus dem Alltag einer Diktatur
(c) 2015 Alle Rechte dieser Ausgabe liegen beim Autor
c/o bsjk Berliner Schule für Journalismus und Kommunikation GmbH, Karl-Liebknecht-Straße 29, 10178 Berlin
10/2015
„Die Mitarbeiter der Abteilung XIV stehen in ihrem täglichen Dienst Staatsverbrechern gegenüber (...). Das setzt bei den Mitarbeitern der Abteilung XIV voraus, daß jedem Genossen aus tiefster, innerster Überzeugung klar ist, daß es sich bei diesen Häftlingen um wirkliche Feinde unseres Arbeiter- und Bauernstaates und damit des gesamten sozialistischen Lagers handelt (...)“
Aus einer „Ausarbeitung zur Persönlichkeitsstruktur der
Mitarbeiter in der Untersuchungshaftanstalt“ der Staatssicherheit, HA XIV, Bezirksverwaltung Frankfurt (Oder),
ohne Datum (wahrscheinlich 1969), ohne Unterschrift
*
Einzelzelle. Keine Beschäftigung, nichts zu lesen, Kommunikation mit anderen war unmöglich. Nach einer Woche in Isolation begannen die Verhöre mit diesen Worten eines Offiziers der Staatssicherheit: „Dich kriegen wir weich“.
Aus dem Bericht eines früheren Untersuchungshäftlings der Staatssicherheit (1961)
*
„Geliebt bist Du vom Volk, vom Volk geehrt:
Seht, welch ein Leben, wahrhaft lebenswert,
Das seine Kraft an alle weitergibt –
Geehrt bist Du vom Volk, vom Volk geliebt.“
Johannes R. Becher zum 65. Geburtstag Walter Ulbrichts,
„Neues Deutschland“, 14. Juni 1958
*
„Das Bundesverfassungsgericht hat im Hinblick auf die DDR festgestellt: ,Eine Unterordnung des Lebensrechts des einzelnen unter staatliches Interesse war materiell schwerstes Unrecht.‘
Jedem Neugeborenen in der DDR wurden 1000 Mark geschenkt. Die Kinder besuchten jahrelang eine Kita, später die Schule. Jeder bekam eine Lehrstelle, meist mit häufigem Unterricht, viele nahmen dann noch an Lehrgängen teil oder gingen in eine Berufsschule. Dies alles war umsonst, auf Kosten des Staates.
Manche, die auf diese Weise eine Facharbeiter-Ausbildung erhalten hatten, wollten nach dem Westen, weil sie dort mehr und besseres Geld für ihre Arbeit verdienten. Ist es tatsächlich schwerstes materielles Unrecht, wenn die Regierung der DDR, die zigtausend Mark in jeden jungen Bürger investiert hatte, dies verhindern wollte?“
Wolfgang Heyer, Waldesruh, in einem Leserbrief
an die „Berliner Zeitung“, Ausgabe vom 22. November 1996
Das Wort „Unrechtsstaat“ kommt in der Originalausgabe dieses Buches von 1997 nicht vor. Nun steht es sogar im Titel der E-Book-Neuausgabe.
Warum dies? Ist die Debatte um diese Bezeichnung für die ehemalige DDR nicht seit Herbst 2014 erledigt? Haben die DDR-Erben von der Partei Die Linke damals nicht in Thüringen die Vokabel „Unrecht“ in die Koalitionsvereinbarung eingefügt, um diese vor allem für die Grünen zustimmungsfähig zu machen? Bodo Ramelow, der daher zum Ministerpräsidenten gewählt werden konnte, setzte wenig später sogar noch eins drauf mit einem Vergleich von Stasi und Gestapo, um dann festzustellen, dass er sich offenbar im Eifer der Unrechtsfeststellungen verstiegen hatte.
Repräsentative Umfragen wiesen 2014 ein anderes Meinungsbild aus als noch vier, fünf Jahre zuvor. 20 Jahre nach der Einheit hatten sich die Ostdeutschen noch mehrheitlich gegen den Begriff „Unrechtsstaat“ ausgesprochen, 2014 lag die Zustimmung bei 53 Prozent.
Ein Lernprozess?
Einerseits. Andererseits ist dieser Umschwung möglicherweise das Zeichen für eine fortschreitende Polarisierung nicht nur der Haltung zum Thema DDR, unter deren Eindruck die Gemäßigten das Lager gewechselt haben. So erwehren sich Aktivisten, die sich in Bezug auf die heutige Bundesrepublik Deutschland höchst staatsverdrossen geben, zum Beispiel vehement der Auffassung, dass Russland ein Unrechtsstaat sei.
Mit dem wahltaktischen Schachzug Bodo Ramelows und seiner Trittbrettfahrer ist es nicht getan. Die Frage „Rechtsstaat oder Unrechtsstaat“ ist relevant. Sie verdient eine Klärung.
Der Begriff „Unrechtsstaat“ ist für eine Polarisierung bestens geeignet. Er ist – auch durch die Debatten der letzten Jahre – moralisch und politisch geladen. Er wird seit jeher als Charakterisierung für die DDR von Ost- und Westdeutschen völlig unterschiedlich bewertet. Vor allem aber ist er auch aufgeladen worden mit der hoch emotionalen Kategorie „Respekt“: Respekt vor den DDR-Biografien.
Mit diesem Respekt argumentieren so unterschiedliche Charaktere wie der ehemalige Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer, der Publizist Christoph Dieckmann und der Star der aus der DDR-Staatspartei SED über die reformierte PDS hervorgegangenen Partei Die Linke, Gregor Gysi.
Gysi ging in der jüngsten Debatte um die Formulierung in Ramelows Koalitionspapier am Weitesten. Er bezog den Begriff Unrechtsstaat im September 2014 in der „Super Illu“ auf die Gründung der DDR und wies ihn unter Hinweis auf die 20 Millionen Kriegsopfer in der Sowjetunion zurück. Damit verweigerte er im Prinzip jede weitere differenzierte Auseinandersetzung mit Unrecht in der DDR, indem er es durch die Legitimität ihrer Gründung rechtfertigte. „Allerdings muss betont werden, dass es Unrecht, auch grobes Unrecht, in der DDR gab und dass die Opfer endlich bessergestellt werden müssen", nahm Gysi zur Kenntnis.
Auch Schorlemmer stellte am 7.11.2014 in der „Süddeutschen“ fest, dass die Bezeichnung Unrechtsstaat alles delegitimiere, was in der DDR gewesen sei. Er wolle nichts an der DDR beschönigen. Die Motivation der Leute, die der engen sozialistischen Linie folgten, „konnte indes durchaus ethisch und menschlich respektabel sein“. Die DDR habe vielen Menschen Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten geboten, sie sei also „in toto“ kein Unrechtsstaat gewesen, zumal dieser Begriff die Gefahr berge, die DDR mit dem Nationalsozialismus, mit „Judenmord und Angriffskrieg“ gleichzusetzen.
Auch Christoph Dieckmann meinte in Ausgabe 11/2014 des „Rotary Magazins“, Unrechtsstaat sei ein zu klarer Begriff, um ihn auf so etwas Komplexes wie die DDR anzuwenden. Es sei ja immerhin nicht so, dass alles in der DDR Unrecht gewesen sei, sie habe sich entwickelt. Mit dem Begriff „Unrechtsstaat“ werde in unzulässig vereinfachter Darstellung der Verhältnisse lediglich die Delegitimierung der DDR betrieben.
Wie wenig einfach die Dinge angeblich sind, scheint der Umstand zu belegen, dass niemand bestreitet, dass es in der DDR Unrecht gegeben habe. Und es ist auch unbestritten, dass die DDR eine Diktatur gewesen ist und kein Rechtsstaat etwa im westdeutschen Sinne.
Mit den koexisitierenden Feststellungen aus quasi einem Munde, dass die DDR kein Rechtsstaat, aber zugleich auch kein Unrechtsstaat war, hat die immer wieder aufbrandende Debatte jedoch absurde Züge angenommen. Was ist ein Unrechtsstaat, wenn er nicht das Gegenteil eines Rechtsstaats ist?
Zu diesem Durcheinander trägt zweifellos bei, dass es sich beim Begriff „Unrechtsstaat“ nicht um eine juristisch definierte Vokabel handelt. Das heißt aber nicht, dass sich das Wort nicht definieren ließe.
Machen wir den Versuch.
Ein „Unrechtsstaat“ – was ist dies überhaupt?
Absurderweise lautet die gängige Antwort auf diese Frage nicht: auf jeden Fall auch ein Staat, der seine Bürger einmauert.
Dass dies nicht so einfach zu sagen ist, liegt auch daran, dass der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch nach dem Krieg praktisch nur das NS-Regime als Unrechtsstaat gelten ließ – nämlich als einen Staat, der seinem Wesen nach auf das Unrecht selbst gerichtet war. In Abgrenzung dazu war die DDR nach dieser sehr rigorosen Definition ein Staat, der im Sinne der Mächtigen das Recht gebeugt hat, eine Dikatur, aber kein Unrechtsstaat.
Tatsächlich ist der DDR zuzubilligen, dass sie nicht durch und durch von Unrecht getragen und nicht auf dieses gerichtet war. Niemand in der DDR hat systematisch Massenmord organisiert. Das Ausmaß des NS-Unrechts und die Ungeheuerlichkeit der rassistischen Ideologie des NS-Staates verbietet Vergleich oder Gleichsetzung.
Aber es ist möglich, die DDR für sich zu betrachten.
Dabei hilft ein Perspektivenwechsel: die Opfersicht.
Aus dieser Perspektive betrachtet, erweist sich Unrecht genau dann, wenn es im Konfliktfall darauf ankommt, das Recht des Einzelnen zu schützen. Im Kontext der DDR liegt das Unrecht also zum Beispiel da, wo ein politischer Witz schärfer bestraft wird als schwere Körperverletzung, oder wo friedliche Oppositionelle mittels falscher Anschuldigungen kriminalisiert oder aus ihrem Land gesperrt werden, oder wo staatliche Übergriffe bis hin zu Freiheitsberaubung, schwerer Körperverletzung und Mord ungesühnt bleiben.
Ein Unrechtsstaat erweist sich also nicht notwendig durch kollektives Unrecht und massenhaftes Leid. Er zeigt sich an individuellem Unrecht, dem ein System zu Grunde liegt. Dies System war in der DDR die „sozialistische Gesetzlichkeit“, die alles staatliche Handeln unter ideologischen Vorbehalt stellte.
Den Rechtsstaat zeichnen vor allem drei Grundsätze aus: die Gleichheit aller Bürger und der Freiheiten, die sie sich nehmen, vor dem Gesetz, dessen demokratische, transparente und konsequente Setzung und Exekution sowie die Unabhängigkeit der Gerichte.
Damit ist auch der Unrechtsstaat definiert: Die Bürger sind vor dem Gesetz ungleich; Legislative, Exekutive und Jurisdiktion unterliegen schwankenden, opportunistischen, oft intransparenten politischen Vorgaben – wie eben der „sozialistischen Gesetzlichkeit“.
Nach dieser Definition war die DDR Zeit ihrer Existenz klar ein Unrechtsstaat, in dem die Würde des Menschen jederzeit angetastet werden konnte und zehntausendfach angetastet wurde. Dabei behauptete Recht im DDR-Alltag unbestritten großen Raum, in den Unrecht nicht eindrang – oder anders gesagt: Kein Bürgerrechtler dürfte jemals im Gefängnis gelandet sein, weil er bei Rot über die Ampel ging. Doch diese Aussage dürfte auch auf Juden unter dem NS-Regime zutreffen. Solche Feststellungen sind ebenso wertlos, ja zynisch, wie das Unrecht vor allem an der Zahl der Opfer zu messen.
Die Begriffe sind aus Respekt vor jeder einzelnen Opfer-Biografie ganz einfach zu klären: Ein Unrechtsstaat ist da, wo ein Rechtsstaat nicht ist.
Genau an diesem Punkt setzt jedoch die Gegenseite den Hebel an. Denn das Unrecht behauptet ja zugleich erheblichen Raum da, wo von einem Unrechtsstaat nicht geredet wird.
Man nennt zum Beispiel einen Staat einen Rechtsstaat, in dem ein Geheimdienst durch massenhafte Überwachung der Bürger das Recht täglich bricht. Hat jemand, der die USA für einen Rechtsstaat hält, nicht die Legitimation verloren, die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen?
Nein, so ist es nicht. Denn es gibt einen vierten Unterschied. Im Rechtsstaat ist eine von allen daran interessierten Bürgern und gesellschaftlichen Kräften unternommene freie Reflexion seiner Fehler systematisch auf deren Korrektur gerichtet. Ein Unrechtsstaat dagegen unterdrückt die freie Reflexion seiner etwaigen Fehler. Sie dürfen nicht einmal benannt werden.
So leicht ist das. Doch haben sich die Argumente, die für die DDR sprechen, längst über den Kern der Debatte hinaus verselbstständigt. Es geht einigen der Protagonisten darum, Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen Rechtsstaaten und solchen, die diese Bezeichnung nicht verdienen, zwischen Wahrheit und Propaganda, recherchierten Fakten und geschönten Lügen zu verwischen.
Wo aber die Erkenntnis von Unrecht verwischt, löst sich auch das Recht auf. Den Begriff Unrechtsstaat zu verwenden und ihn zum Beispiel anhand der DDR mit Leben zu erfüllen, hilft also, den Rechtsstaat zu verstehen und schätzen zu lernen.
Die Verwischung der Differenzen liegt daher im Interesse von Extremisten aller Couleur. Wo demokratische Maßstäbe und Standards grundsätzlich in Frage stehen bzw. ihre Verbindlichkeit verlieren und die Moral es angeblich gebietet, Kritik zu unterlassen – weil „im Westen“ schließlich auch nicht alles zum Besten stehe – und auf Menschenrechtsverletzungen mit Indifferenz zu reagieren, können extreme Positionen blühen.
Es besteht bei Vertretern dieser Argumentation ein Interesse daran, dass sich der demokratische Raum von seinen Rändern her auflöst. Die Demokratie hat der in Social Media grassierenden Gegenaufklärung der „Lügenpresse“-Brüller und Verschwörungstheoretiker augenscheinlich wenig entgegen zu setzen. Diese Gegenaufklärung vergiftet die demokratische Öffentlichkeit vor allem, indem sie aus einer Vielzahl Versatzstücke – realen und fiktiven – das Bild einer Gesellschaft schafft, die von einer kleinen, dem Volk und seinen Interessen fernen, demokratisch nicht legitimierten Elite manipuliert wird.
Diese Behauptung ist gesellschaftlich akzeptabel geworden. Durchschnittsbürger mittleren Alters vertreten sie offen in Demonstrationszügen, im Internet und vor TV-Kameras.
2015 wird vielleicht in die deutsche Geschichte eingehen als das Jahr, in dem sich „Dunkeldeutschland“ erstmals ins Licht wagte. So nannte Bundespräsident Joachim Gauck die Mischung aus zukurzgekommenem Kleinbürgertum, Egoismus und aggressiver Ablehnung der (politischen) Eliten, die sich im Spätsommer vor den Flüchtlingsheimen Luft machte. Von Pegida und der Alternative für Deutschland (AfD) wird wahrscheinlich in drei, vier Jahren schon niemand mehr etwas wissen. Aber sie haben die Haltung der angeblich schweigenden Mehrheit der „kleinen Leute“, die sich „nicht mitgenommen fühlen“, da „der Mainstream“ sie zu einer linksliberalen und weltoffenen Haltung nötigen möchte, salonfähig gemacht.
Diese Diktion ist keineswegs neu. Wir kannten sie bereits aus der amerikanischen „Tea Party“-Bewegung. Diese hat es geschafft, während der Präsidentschaft Barack Obamas den politischen Raum mit Verschwörungstheorien und gezieltem Misstrauen so sehr zu vergiften, dass ein populistischer Schreihals wie Donald Trump wenigstens im Wahlkampf leichtes Spiel haben kann gegen seriöse konservative Kandidaten.
In den USA hat die „Politik der Angst“, der Stimmungen- und Wählerfang mit Bedrohungsszenarien und Verschwörungstheorien, allerdings eine ungebrochene Tradition.
Den größten Erfolg hatte diese Politik indes 1933 in Deutschland. Der Aufruf (nicht nur) des NS-Propagandablatts „Der Stürmer“, „Deutschland erwache!“, zielte auf die angeblich bedrohte, von den „Systempolitikern“ und der „Systempresse“ mit schönen Worten und Lügen ruhig gestellte und um das ihr Zustehende beraubte „Volksgemeinschaft“.
AfD und Pegida argumentieren heute strukturidentisch, und wie damals die NSDAP und heute die „Tea Party“ berufen sie sich auf eine angeblich unterdrückte Meinung der Mehrheit des Volkes. Dass die NPD seit Jahr und Tag dieselben Töne von sich gibt, interessiert jene nach eigenem Verständnis gemäßigten Gruppierungen nicht – sie stählen sich gegen derlei Analysen mit der Unterstellung, ein „Mainstream“ aus korrupter Politik und gekaufter „Lügenpresse“ wolle ihre Wahrheiten mit der „Nazikeule“ unterdrücken.
Bei alledem scheint den Anhängern der Mär von den verschworenen Unterdrückern der Volksmeinung nicht bewusst zu sein, wie paradox es ist, dass sie die Überzeugung, sie würden unterdrückt, während Massendemonstrationen herausschreien, die von Hundertschaften in Uniform vor Gegendemonstranten geschützt werden. Trotz der Strukturverwandtschaft ihrer Argumente zeigt sich daran, dass die meisten von ihnen keine Nazis sind, sondern dass sie angetrieben sind von einem tief in ihnen wurzelnden, unreflektierten Untertanengeist, einer dumpfen Sehnsucht nach der harten Hand, die sich in Trotz verwandelt hat. Sie stellen den bundesdeutschen Rechtsstaat in Frage und rufen zugleich den Autokraten Putin um Hilfe.
Moralische und politische Indifferenz war in der DDR wie in jeder Diktatur eine Voraussetzung dafür, weder Funktionär noch Dissident zu sein. Nun, da Regierungschefin und Staatsoberhaupt Ostdeutsche sind, ist das aggressive Zurschaustellen dieser Indifferenz, das Herausbrüllen immer neuer Varianten von „die da oben machen, was sie wollen, da kannste nischt machen“, auch ein Akt der Selbstbehauptung gegen die Erkenntnis, dass die Opferrolle, die viele Ostdeutsche zu spielen lieben, der selbst gewählte Rückzug in die eigene Irrelevanz gewesen ist. Es ist kein Zufall, dass Dresden die Hochburg von Pegida ist. Dresden war zu DDR-Zeiten abgeschnitten von den West-Medien und deren Vorstellung freiheitlich-demokratischer Kultur und ihren Argumentations- und Konfliktbewältigungsmustern. Und die Opferrolle ist gerade in Dresden als eine Lesart der Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg besonders ausgeprägt.
Zugleich ist es aber der Ruf nach einer Art neuer DDR. Nicht nach Sozialismus und Mauer, aber nach der sicheren, geschlossenen Gemeinschaft, die sich mit allen Mitteln gegen Fremde oder bedrohliche Einflüsse abschottet und verteidigt. Eine Gemeinschaft, die zum Beispiel das Grundgesetz in ein verbindliches Glaubensbekenntnis verwandeln könnte, gegen das zu verstoßen bestraft wird. So sollen, phantasieren nicht wenige, Migranten, die durch frauenfeindliche Äußerungen auffallen, umgehend deportiert werden.
Es geht hier nicht um Strafbares wie Volkverhetzung oder um einen Aufruf, die Scharia einzuführen, sondern um die individuelle, von engstirniger Religiosität und Konservatismus getragene Dummheit, Frauen für minderwertig und sündig zu halten und den Mann zu ihrem Wärter zu erklären. Auch in Deutschland haben Auffassungen wie diese noch vor wenigen Jahrzehnten Gesetze geprägt, die Frauen ohne Genehmigung ihres Mannes freies Wirtschaften und freie Berufswahl untersagten. Ja, auf der Basis des Grundgesetzes.
Natürlich ist es gut, dass Deutschand über solche Gesetze hinaus ist und die ihnen zu Grunde liegenden Auffassungen nicht mehr akzeptabel sind. Aber Liberalismus, der sich mit Strafe und Bann gegen abweichende, rückständige Meinungen wendet, statt überzeugen zu wollen – das ist ein Rückschritt und noch so ein Widerspruch in sich, den viele nicht erkennen können oder erkennen wollen.
Eine solche Regelung wäre ein Pendant zur „sozialistischen Gesetzlichkeit“. Sie würde das Ende der im Grundgesetz garantierten Freiheiten bedeuten, Ungleichheit vor dem Gesetz etablieren und damit den Beginn eines neuen deutschen Unrechtsstaats markieren.
Die antidemokratische Agitation wirkt bedrohlich. Sie ist das Ergebnis einer Selbsthysterisierung politisch bislang unerheblicher Kreise, die in den Filterblasen der Social-Media-Portale erstmals einen öffentlichen Resonanzraum finden. Ob sie irgendwann nachlässt, wenn das Wir-Gefühl zur Gewohnheit geworden ist, oder ob sie zur ernst zu nehmenden, die Demokratie tatsächlich gefährdende gesellschaftlichen Strömung wird, lässt sich aktuell nicht klären.
Dies spielt jedoch ohnehin keine Rolle. Die Aufgabe bleibt so oder so dieselbe: Aufklärung.
Aufklärung war schon 1997 die Absicht dieses Buches, das aus einer Serie in der im östlichen Brandenburg erscheinenden „Märkischen Oderzeitung“ hervorging – Aufklärung zur Überwindung einer Rückschau auf die DDR durch eine rosa Brille mit Weichzeichner.
Außer dem Titel habe ich an dem Buch, das selbst inzwischen ein historisches Dokument ist, bis auf kleinere sprachliche Korrekturen nichts geändert – es behält neben der Perspektive von 1997 also auch die alte Rechtschreibung bei.
Die Titeländerung indessen bot sich an, weil sich die Zielrichtung des Texts heute genauer benennen lässt. Seinerzeit spielte das Wort „Unrechtsstaat“ noch keine Hauptrolle in der Rückschau auf die DDR, heute bringt es sie auf den Punkt. Damals war die Abwehr dieser Bezeichnung für den sozialistischen deutschen Staat noch nicht Bestandteil einer umfassenden Systemkritik an der freiheitlichen, auf dem Recht basierenden Demokratie und deren Akteuren.
Wer diese Kritik vortragen möchte, sollte sich immerhin mit einem Staat auseinandersetzen, dessen Unrecht er bestreitet oder relativiert. Dieses Buch kann ihm dazu dienen. Es gibt die Biografien unbekannter Opfer politischer Willkür wieder, „Leben im Unrechtsstaat DDR“. Es ist diesen Menschen gewidmet, die das Unrecht am eigenen Leibe erfahren haben, Menschen wie jenen, die solches Unrecht in Russland, China und vielen anderen Ländern täglich erfahren.
Joachim Widmann, Berlin, am 3. Oktober 2015