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Der Druck ist nicht gewichen

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Nachwirkungen der Dikatur

„Alles kann ich gar nicht erzählen“, sagt Friedrich Gronau. Von 1952 bis 1989 hatte er immer wieder mit der Staatssicherheit zu tun. Als angeblicher Saboteur saß er zwölf Jahre lang im Gefängnis, dann wurde er bespitzelt: Verhör bei der Stasi; der Inoffizielle Mitarbeiter mit dem Decknamen „Helmut“ war ein Freund seines Sohnes, IM „Erna“ war die Nachbarin in Golzow, wo Gronau noch heute zurückgezogen lebt; als IM „Gossert“ war der örtliche Polizist auf seiner Spur.

Nein, alles kann der alte Mann nicht erzählen. Aber jetzt, da die Deutsche Demokratische Republik und damit seine Schweigeverpflichtung dahin ist, kann er wenigstens die „Dinge, die mir wichtig sind“, loswerden. Da war im Zuchthaus Brandenburg der alte KPD-Mann Walter Bergner gewesen, der schon im KZ gesessen hatte wegen seiner Gesinnung und von der DDR nach einem Besuch beim westdeutschen SPD-Chef Kurt Schumacher wieder eingesperrt wurde. Nach zehn Jahren Haft, erzählt Gronau, wurde Bergner für vier Wochen auf eine Entlassungszelle verlegt, um dann doch weiter gefangen zu bleiben: „Der war ein gebrochener Mann hinterher.“ Oder der KPD-Mann Christian Eckert, der sich gegen die SED, „die Partei neuen Typs“, aufgelehnt hatte und für zwölf Jahre hinter Gitter mußte, obwohl er für seine Sache im griechischen Bürgerkrieg gekämpft hatte.

In einer Einzelzelle saß in Brandenburg ein Junge, den Gronau kennenlernte, als er 17 war. „Der war als 12jähriger eingesperrt worden. Niemand wußte, warum. Auch er selbst nicht. Der konnte kaum sprechen.“

Zeugen Jehovas, „die niemandem etwas getan hatten“, alte SPD-Genossen, teils ebenfalls schon mit KZ-Vergangenheit – Andersdenkende, die sich nicht gleichschalten ließen und daher zu Kriminellen gestempelt wurden.

Mancher davon „hat im Leben nie etwas gehabt“, sagt Gronau, nur KZ, DDR-Gefängnis, Unrechtsurteile, und im Knast Gebrüll, Schläge, Dunkelarrest, Wasserzelle oder gar, bei Fehlverhalten: scharfe Hunde. Gronau fühlt sich als ein Hüter dieser dunklen Kapitel der Vergangenheit, es ist ihm wichtig, sich der Namen und der Biographien zu erinnern. Der gebeugte kleine Mann, dessen Unterlippe nervös zittert, wenn er von damals berichtet, lehnt sich in seinem Sessel nicht an, beugt sich zu seinen Zuhörern vor, mit beiden Händen die Krücke seiner Gehhilfe so fest umfassend, daß die Fingerknöchel weiß hervortreten.

Je mehr er erzählt, desto mehr Erinnerungen drängen nach. Immer wieder bricht Gronau in Tränen aus, wenn er von den verpfuschten Jahren seiner Leidensgenossen spricht.

Er senkt den Kopf, wischt sich die Tränen ab und entschuldigt sich.

Von seinem eigenen Leben berichtet er weit gefaßter. Entrüstung hat ihn stets aufrechterhalten und ist bis heute sein stärkstes Gefühl, wenn von seiner Vergangenheit die Rede ist: „Ich habe nichts getan! Wie kann man einem unschuldigen Menschen so etwas antun?“

Das ist eine rhetorische Frage. Die sozialistische Erziehung in Kindereinrichtung, Schule, Hochschule, die Bereitstellung von Arbeitsplätzen für alle und Ferieneinrichtungen für Werktätige, die Führung des Brigadetagebuchs, die Kollektivierung der Hausgemeinschaften und der Landwirtschaft, Sargproduktion, nationale Frage, Nationale Volksarmee, Selbstkritik, Zivilverteidigung, Außenpolitik, Hausordnung, Fortschritt, Traditionspflege, gesellschaftliche Kontrolle, Reiseerlaubnis, Körperkultur, Produktions- und Eigentumsverhältnisse, Grenzregime, Feierabendheim, Mieten, Brot- und Schnapspreis, Lenkung und Anleitung der Kulturschaffenden und der Medien sowie der Parteien des Demokratischen Blocks und der Organisationen der Nationalen Front – alles wurde bestimmt und war durchdrungen von den Kadern und den Verbündeten der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Die SED hatte, wie alle Diktatoren, ein simples Weltbild: Hier die Freunde, da die Feinde.

Gronau war ein „Feind“: zwölf Jahre Zuchthaus.

Wer waren die Täter? Die Nomenklaturkader der SED? Nur die greisen Herrschaften im Zentralkomitee? Der Stasimann, der „nur seine Pflicht getan hat“, wenn er Richter zur Rechtsbeugung, Bürger zum Spitzeln, Menschen ins Gefängnis brachte?

Die Moral der Geschichte ist klar: Vom teilnahmslosen Bürger, der von alledem nichts wissen wollte, über den, der sich durch geduckte Haltung, Opportunismus und Heuchelei kleine Fluchten und Vorteile verschaffte, und den kleinen, auf seinen persönlichen Nutzen bedachten Inoffiziellen Mitarbeiter bis hinauf zu Walter Ulbricht oder Erich Honecker war jeder ein Täter oder ist mindestens Teilhaber an der Verantwortung für das Unrecht, das den vermeintlichen Feinden des Systems angetan wurde.


Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt. In der Zentralen Erfassungstelle Salzgitter wurden rund 42 000 Fälle registriert: Politsche Häftlinge, gescheiterte und umgekommene Republikflüchtige. Nach verschiedenen Schätzungen gab es von Oktober 1949 bis November 1989 in der DDR zwischen 150 000 und 200 000 Verurteilungen in politischen Prozessen. Im Potsdamer Militärarchiv lagern zudem um 100 000 „operative Tagesmeldungen“ über Grenzzwischenfällei.

Doch repräsentieren diese Zahlen nur einen kleinen Teil der Misere. Als „politischer Prozeß“ nicht erfaßt wurden solche Verfahren, bei denen Tatbestände wie „Asoziales Verhalten“ oder „Diebstahl von Volkseigentum“ zur Verurteilung führten. Im Zuge der Rehabilitierung ehemaliger Strafgefangener sind den zuständigen Juristen immer wieder Fälle untergekommen, bei denen der politische Hintergrund der Urteilsbegründung direkt nicht zu entnehmen ist, aber anhand der Akten der Staatssicherheit nachgewiesen werden kann, daß Volkspolizei, Staatsanwaltschaft und Gericht unter dem Einfluß der SED nur den Anschein erweckten, ein ordentliches Strafverfahren zu führen – dabei war der Tatbestand konstruiert, die Beweise größtenteils falsch: eine politische Intrige gegen den Angeklagten.

Solche Intrigen sind auch der Hintergrund für oft unmenschlich hohe Strafmaße gegen Angeklagte, deren Verbrechen einwandfrei nachgewiesen wurde: Wer Pech hatte, an dem wurde ein Exempel statuiert.

Zudem wurden viele Menschen ohne Anklage monatelang inhaftiert und unter Druck gesetzt, um ihnen Geständnisse oder Aussagen über andere abzupressen. Wer ohne Klageerhebung und also ohne Verfahren freikam, taucht weder in der Statistik der Rehabilitierten noch in der der politischen Verfahren auf.

Ein weiteres dunkles Kapitel ist die mitunter monatelang andauernde Verweigerung von Wohnung, Arbeit und Sozialleistungen für viele Angehörige politischer Häftlinge und Haftentlassene – auch hier ist die Zahl der Betroffenen nicht zu ermitteln. Dasselbe gilt für die vielen DDR-Bürger, die wegen mangelhaften „gesellschaftlichen Engagements“ in Parteien oder Massenorganisationen als unvollkommene Sozialisten in ihrem beruflichen Fortkommen oder – durch die Verweigerung von Oberschul- und Hochschulausbildung – in ihrer persönlichen Entwicklung behindert wurden.

Opfer der besonderen Methoden, mittels derer die SED ihre Macht erhielt, sind zudem all jene, deren Recht auf Unversehrtheit der Privatsphäre verletzt wurde, sei es durch konspirative Überwachung oder durch Zersetzungsmaßnahmen. Nicht wenige, die sich trotz Mauer und Schießbefehl in der eingeschränkten, aber viele Sicherheiten und Rückhalte bietenden, kleinbürgerlichen Welt der DDR mit den geltenden Verhältnissen arrangiert hatten, lernten erst bei Akteneinsicht, daß sie nicht allein Herren über ihre Biographien gewesen waren.


Hunderttausende Opfer, und doch hört man nur von den Prominenten, an denen die Medien interessiert sind. Als wären die anderen nur Zahlen in der Statistik, werden ihre Biographien als eine Gegebenheit hingenommen.

Daß sich westdeutsche Print- und elektronische Medien hierfür kaum interessieren, ist leicht mit den Interessen ihrer Klientel zu begründen. Daß aber auch im Osten nur sehr wenig Aufklärung über die DDR betrieben wird, überrascht auf den ersten Blick, denn hier wäre eine starke Minderheit des Publikums lebhaft daran interessiert.

Doch sind so gut wie alle Ost-Medien umstrukturiert, aber ohne wesentliche personelle Veränderungen aus der Medienlandschaft der DDR hervorgegangen. Medien in der DDR waren zur eindeutigen Parteinahme für die SED und den Sozialismus gehalten, für jeden einzelnen Journalisten war Opportunismus eine Existenzfrage. In diesem Lichte betrachtet, verwundert es allenfalls milde, daß auch in den neuen Bundesländern eine Kritik der DDR nur sparsam stattfindet.

Dort leben noch viele der Opfer. Zur allgemeinen Hemmung, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, trägt bei, daß dort die politische Landschaft in vielen Bereichen von der SED-Nachfolgepartei PDS dominiert wird. Da ist viel vom „Rentenunrecht“ gegen die früheren Hauptamtlichen der Stasi und frühere NVA-Leute, also Privilegierte des Systems, die Rede – doch wer spricht vom „Rentenunrecht“, das durch Karriereblockaden oder jahrelange Haft auf Seiten der Opfer entsteht?

Wie nach jeder politischen Wende besteht das alte System in den Köpfen und in vielen Strukturen fort. Öffentlichkeit herstellen, um der Bildung von Legenden vorzubeugen: Das war 1994 meine Motivation, eine Artikelserie in der „Märkischen Oderzeitung“ zu beginnen, die allein dem Schicksal von Opfern der politischen Gewaltherrschaft in der DDR gewidmet war – solchen aus der schweigenden Masse. Mit der Serie, auf der dieses Buch basiert, erhellte die „Märkische Oderzeitung“ in 80 Folgen, die bis August 1996 erschienen, auch ein Stück der eigenen Vergangenheit als Organ der SED-Bezirksleitung Frankfurt (Oder), „Neuer Tag“ii.


Kein Opferschicksal kann erzählt werden, ohne zugleich die Funktionsweise des Machtapparats zu erklären. Die DDR war durchzogen von Beziehungsgeflechten, von Informations- und Konsultationssträngen, die den Zweck hatten, das sozialistische Gemeinwesen dicht- und zusammenzuhalten. Das Bild, das die Führung sich von ihrem Staat auf der Basis ihrer Ideologie machte, war gegen jeden Kratzer oder Schatten zu sichern. Ob Stalin das Idol oder der Personenkult abgeschafft war, der Einfluß des Staates gemäß Lenins Theorien überflüssig gemacht oder im Sinne der SED auf dem Umweg über die Stärkung der Herrschaft der Partei der Arbeiterklasse vergrößert werden sollte, ob künstlerische Experimente und Kritik gerade angesagt oder verpönt waren – wie immer das Wunschbild der DDR gerade aussah, es war unbedingt gültig. „Keine Fehlerdiskussion“ und „nach vorne denken“ – diese Imperative waren die typische Voraussetzung jeder Debatte über die Lage der DDR.

Die Staatssicherheit hatte als Instrument der Parteimacht allzu offenkundige Diskrepanzen zwischen Schein und Wirklichkeit zu erkunden, zu kaschieren oder zu beseitigen. Sie setzte das Feindbild der SED in „politisch-operative Arbeit“ um. Ihre Haltung bei dieser Arbeit und wie mit „Feinden“ umzugehen war, ist exemplarisch einer MfS-internen „Ausarbeitung zur Persönlichkeitsstruktur der Mitarbeiter in der Untersuchungshaftanstalt“iii zu entnehmen. „Ausarbeitungen“ dienten als Material für interne Forschungen oder Mitarbeiterschulungen, wo als Abschluß ebenfalls „Ausarbeitungen“ angefertigt werden konnten. Sie waren Auftragsarbeiten mit dem Zweck, bestehende Normen des MfS zu beschreiben, zu prüfen oder durchzusetzen sowie neue Normen für die tägliche Arbeit herauszubilden:


„Erwartungen an die Persönlichkeit eines Mitarbeiters des MfS im Umgang mit Straf- und Untersuchungsgefangenen

Die Mitarbeiter der Abteilung XIV stehen in ihrem täglichen Dienst Staatsverbrechern gegenüber, deren Ziel es war, die Machtverhältnisse zu verändern und damit die sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung zu beseitigen. Das setzt bei den Mitarbeitern der Abteilung XIV voraus, daß jedem Genossen aus tiefster, innerster Überzeugung klar ist, daß es sich bei diesen Häftlingen um wirkliche Feinde des Arbeiter- und Bauern-Staates und damit um Feinde des gesamten sozialistischen Lagers handelt und welche hohe Verantwortung bei der Wahrnehmung der dienstlichen Aufgaben diese Mitarbeiter zu erfüllen haben.

Im Entwurf der Dienstanweisung über politisch-operative Dienstdurchführung in den Diensteinheiten XIV der Organe des MfS vom 7. 5. 1969 heißt es: ,Der Umgang mit Häftlingen erfordert ein hohes Klassenbewußtsein und unbedingte Treue zur Partei der Arbeiterklasse und zur Regierung unseres sozialistischen Staates. Deshalb müssen die Angehörigen der Diensteinheiten XIV der Organe des MfS bei der Ausübung ihres Dienstes höchste revolutionäre Wachsamkeit, militärische Disziplin und eine hohe Einsatzbereitschaft beweisen.‘ Diese Feststellung zeigt, welche hohen Anforderungen an die politisch-ideologische Reife, an den Charakter, das Wissen, die Haltung sowie an das Gesamtverhalten eines Mitarbeiters der Abteilung XIV zu stellen ist.


1. Persönlichkeitsmerkmale, die bei einem Mitarbeiter der Abteilung XIV im Vordergrund stehen

Bei der Auswahl der Genossen für den Dienst in der Abteilung XIV ist zu beachten, daß der beste und bewußteste Genosse, der allen Erwartungen entsprechen würde, nicht in der Abteilung XIV arbeiten könnte, wenn er bestimmten körperlichen Anforderungen nicht entspräche.

Somatische (körperliche) Anforderungen:

– Der Genosse darf von seiner Statur her (Körpergröße) nicht kleiner als 1,65 m sein, um ohne Hilfsmittel durch die Spione in die Zellen schauen zu können;

– Der Genosse sollte in der Regel nicht jünger als 25 Jahre sein; (...)

– Der Genosse sollte nach Möglichkeit sportlich veranlagt sein und zumindest die Grundbegriffe der Selbstverteidigung beherrschen bzw. gewillt sein, Judo zu erlernen, um bei evtl. Vorkommnissen sich erfolgreich wehren zu können;

– Der Genosse muß ordnungsliebend und sauber an sich selbst sein sowie über eine straffe Körperhaltung verfügen, um vor dem Häftling nicht lächerlich zu wirken;


Bildungsmerkmale sowie Charaktereigenschaften:

– Der Genosse muß über ein bestimmtes politisches Grundwissen verfügen (Klarheit in den Grundfragen der Politik von Partei und Regierung) und muß bereit sein, sich im Marxismus-Leninismus ständig weiterzubilden;

– Er muß sich bemühen, die Grundfragen der sozialistischen Strafgesetzgebung zu beherrschen, er muß die Strafprozeßordnung kennen und die Befehle und Weisungen der Untersuchungshaft beherrschen und befolgen;

– Er muß ein der Partei treu ergebener Kämpfer sein und festes Vertrauen zum MfS besitzen, er muß ein wahrer Freund der SU sein und bereit sein, aus den geschichtlichen Erfahrungen der Freunde zu lernen;

– Es dürfen sich in seinem Verhalten keine weichen Charakterzüge zeigen, die dem Feind gegenüber Mitleid verspühren (!) lassen. Er muß frei sein von Angst bzw. aufkommende momentane Angstgefühle überwinden können;

– Er muß die Fähigkeit besitzen, im Verhalten gegenüber dem Feind Stolz, Härte, Unnahbarkeit, Kälte und Überlegenheit zu demonstrieren. Bei dem Gegner muß der feste Eindruck entstehen, daß an diesen Mitarbeiter, der sich korrekt verhält, auf keinen Fall heranzukommen ist, keine Kontaktaufnehme möglich ist, und daß dieser Mitarbeiter des MfS mit seiner gesamten Persönlichkeit fest hinter Partei und Regierung steht.

Die Treue zur Sache muß in seinem gesamten Verhalten zum Ausdruck kommen.

– Er muß reaktionsfähig sein, schnell im Denken und Handeln und bei plötzlich auftretenden Situationen richtig reagieren und entscheiden können.

– In seinem Wesen muß sich eine bewußte Diszipliniertheit, Tapferkeit, Mut, Kühnheit, Standhaftigkeit, Gewissenhaftigkeit, Entschlossenheit, Selbstaufopferung, Willenskraft, Zähigkeit, Ausdauer, Beharrlichkeit, Heroismus und Patriotismus widerspiegeln.

Der Patriotismus und der Haß gegen die Feinde dürfen sich nicht nur als eine Deklaration zeigen, sondern muß (!) zur Tat d. h. zur ständigen Wachsamkeit werden.


Ein Mensch mit solchen Charaktereigenschaften muß gleichzeitig die Menschen achten und schätzen, er muß ihre Arbeit achten und lieben. Er muß eine gesunde Einstellung zum Kollektiv haben, muß kritisch und selbstkritisch sein, er muß Offenheit und Ehrlichkeit seinen Genossen gegenüber zeigen. Er muß kameradschaftlich und großzügig. (!)


Egoisten sind weder Freund noch Kamerad.


Er muß weiter solche moralischen Eigenschaften besitzen, wie Fleiß, Beharrlichkeit, Wahrhaftigkeit und Rechtschaffenheit, Einfachheit und Bescheidenheit, Konsequenz sich selbst und anderen gegenüber, er muß unbeugsam in der Erreichung gesetzter Ziele sein. (...)

Der Mitarbeiter in der Abteilung XIV muß sexuell normal veranlagt sein und ordentliche, saubere Beziehungen zum anderen Geschlecht haben.

Es müssen sich feste Ansichten und Überzeugungen für das sittliche Verhalten herausbilden.

Zu beachten ist, daß ,trotz guter Absichten‘ viel Unheil angerichtet werden kann, wenn sich ein Mensch zum Beispiel nur vom Gefühl leiten läßt, wo solche verinnerlichten Charakterzüge nicht mit Überzeugung und Wissen gefestigt sind. Überzeugung und Wissen verleiht dem Menschen die Möglichkeit, moralische Prinzipien in einer konkreten Situation richtig anzuwenden. Großzügigkeit und Wahrhaftigkeit z. B. können sich in ihr Gegenteil verwandeln, wenn man die listigen, hinterhältigen Schlichen des Feindes nicht beachtet bzw. unterschätzt, wenn man keine politische Wachsamkeit übt. (...)“


Die unbeabsichtigte Selbstentlarvung, die in der hierarchischen Differenzierung zwischen „Feind“, „Mensch“ und „Genosse“ gipfelt, erklärt, warum es nicht nur für „Feinde“ und „Menschen“, sondern auch für den einen oder anderen Genossen eine Genugtuung und eine Erleichterung war, als das System endlich zusammenbrach.

Dessen „Feinde“ knüpften besondere Hoffnungen an die Wende von 1989/90. Vieles änderte sich auch wunschgemäß. Einen Wendepunkt, an dem die früheren Täter und Teilnehmer des Systems zur Einkehr gezwungen worden wären und die Opfer plötzlich ihr Recht erhalten hätten, gab es jedoch nicht – so wenig eine antikommunistische „Rachejustiz“ auszumachen ist.

Natürlich wurde den Opfern das Recht eingeräumt, sich juristisch rehabilitieren zu lassen, natürlich wurden sie finanziell entschädigt, soweit sie Unrechtsjustiz und Haft zu erleiden hatten.

Unterhalb dieser Grenze wurde der Schaden vielfach nicht einmal moralisch kompensiert. Denn auf der anderen Seite gingen die meisten Täter straffrei aus, da ein Großteil der Delikte, wie etwa der Bruch des Postgeheimnisses, die Telefonüberwachung oder die lückenlose Ausforschung einer Privatwohnung, nach den DDR-Gesetzen mit einer geringfügigen Strafe belegt oder legal war und daher heute nicht bzw. allenfalls als Beihilfe zu Rechtsbeugung oder einer Tat, die nach jüngsten höchstrichterlichen Entscheidungen als Verstoß gegen die allgemeinen Menschenrechte geahndet werden kann, zu verfolgen ist. Die meisten Täter werden also nicht belangt.

Selbst im Öffentlichen Dienst haben die wenigsten „positiven“ Bescheide der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit über eine Tätigkeit als freier, also Inoffizieller Mitarbeiter bei der Stasi, zur Entlassung des so Belasteten geführt. In vielen Behörden ist es üblich, weniger den Tatbestand als Kündigungsgrund zu bewerten, als lediglich die Bereitschaft, den Fragebogen für die sogenannte „Regelanfrage“ wahrheitsgemäß auszufüllen. Entsprechende Normen wurden, auch aus Mißtrauen gegenüber den Akten der Staatssicherheit, in einer Vielzahl arbeitsrechtlicher Prozesse gesetzt. Grundsätzlich gilt, daß eine Mitarbeit bei der Stasi allein kein Kündigungsgrund ist.

Dazu kommt, daß viele Opfer nicht in der Lage sind, über ihr zum Teil traumatisches Erleben offen zu sprechen. Viele haben sich der infolge der SED-Propaganda gegen den „Feind“ noch immer gegen sie bestehenden Vorbehalte zu erwehren. Das ist einer der Beweggründe dafür, daß die wenigsten, die als Opfer bekannt sind, Anzeige erstatten: Nach übereinstimmenden Angaben aus der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR und verschiedenen Landesstaatsanwaltschaften erheben nur eins bis vier von hundert Opfern Klage gegen die Täter. Auch die Bereitschaft von Opfern, als Zeuge vor Gericht aufzutreten, ist gering.

Dennoch ist die Zahl der laufenden Vorgänge außerordentlich hoch. Allein bei der für DDR-Justiz- und Regierungs-Unrecht im Land Brandenburg zuständigen Schwerpunktstaatsanwaltschaft in Neuruppin waren Ende 1995iv 11 500 Einzelvorgänge anhängig, das heißt, allein in Brandenburg waren zu diesem Zeitpunkt 11 500 mögliche Straftaten früherer DDR-Funktionäre bekannt, darunter 5 500, zu denen Ermittlungsverfahren anhingen oder eine Anzeige vorlag. Rund 4 000 Vorgänge sind Gegenstand von 460 Verfahren gegen Richter und Staatsanwälte der früheren DDR, 1 250 Vorgänge beziehen sich auf Mißhandlungen von Strafgefangenen und Todesfälle in Gefängnissen. Hier liefen Ende 1995 rund 290 Verfahren. Wenn es auch bei weitem nicht jeden traf: Unrecht und Willkür waren Alltag in der DDR – das ist angesichts der Zahlen keine moralische Wertung, sondern eine statistisch untermauerte Tatsache.


Die Verletzung der persönlichen Ehre ist bei vielen Opfern so tief gegangen, daß sie allein durch den Sieg des „anderen“ Systems nicht zu heilen war. Wie auch, wenn viele der früheren Täter oder deren Handlanger heute in Behörden und Betrieben erneut auf der Karriereleiter emporsteigen – sie haben sich kurzerhand auf die Seite des Siegers geschlagen und fahren gut damit. Schon durch ihre oft überdurchschnittliche Qualifikation  also dank des Bildungsprivilegs, das viele SED- und alle Stasileute genossen  und durch ihre Fähigkeit, im Rahmen streng hierarchischer Befehlsstrukturen eigenständig zu funktionieren, sind sie prädestiniert für Druckposten, wie auch der Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Joachim Gauck, im Sommer 1995 auf der Jahrespressekonferenz seiner Behörde feststellte. Dabei bedienen sie sich bis heute häufig alter Kontakte, über die sie noch aus der Zeit verfügen, da das ausgeklügelte System der „Nomenklaturkader“ noch Bestand hatte. Ein jeder an seinem bestimmten Platz, in seiner bestimmten Funktion – einer für alle, alle für ein Ziel. Ziel ist heute freilich nicht etwa die Unterdrückung ehemaliger DDR-Opfer, sondern der eigene, persönliche Vorteil für sich und die ehemaligen Genossen. Das Bestehen sogenannter Seilschaften ist eine zum Beispiel von den Kripo-Leuten, die Wirtschaftsverbrechen der Wendezeit aufzuklären haben, bewiesene Tatsachev. So kommt es vor, daß die Opfer erneut in untergeordneter Position Tätern gegenüberstehen, sei es, wenn sie Antrag auf einen Telefonanschluß stellen – Belastungs-Rate bei der Ost-Telekom: rund 30 Prozent –, sei es, daß sie, wie es Freya Kliervi geschah, als Zeugen in Strafprozessen einem früheren Stasivernehmer, der auf der Stasihochschule in Postdam-Eiche auf „Dipl.“ oder „Dr. Jur.“ studiert hatte, in der Rolle des Verteidigers eines anderen Täters begegnen... Die Reihe ließe sich fortsetzen.

Interessanterweise haben die Täter es geschafft, die eigene Rolle von einst auf die Opfer und den politischen Gegner zu projizieren, um ihren Kampf unter umgekehrten Vorzeichen fortzusetzen. So unterstellte Hans Modrow, einst der letzte SED-Mann an der Spitze der DDR und angeblich ein Reformer, der klageführenden Staatsanwaltschaft und dem Gericht, vor dem er sich wegen Wahlfälschung zu verantworten hatte, politischen Mißbrauch des Strafrechts, um ihn als sozialistischen Volksvertreter aus dem Bundestag zu drängen. Am 18. Februar 1997 verschickte Modrow gemeinsam mit vier anderen früheren Spitzenfunktionären der DDR und der Parteien des sozialistischen Blocksvii, ein „Memorandum zur juristischen Verfolgung von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik durch Justizorgane der Bundesrepublik Deutschland“ nach Angaben einer Nachrichtenagentur an Organisationen und Regierungsstellen in etwa 60 Staaten in aller Welt, in dem die Verfolgungspraxis gegen DDR-Staats- und Regierungsverbrechen seit der Vereinigung Deutschlands als ein schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte dargestellt wird: „Angeklagt und verurteilt werden Führungskräfte und Mitarbeiter aus Ministerien und Verwaltungen der DDR. Juristischer Verfolgung unterliegen hunderte Funktionäre von politischen Parteien und Verbänden. Sie alle sollen zu Straftätern gemacht werden, weil sie hoheitliche Aufgaben auf der Grundlage der Verfassung und von der Volkskammer  dem höchsten gewählten Gremium der DDR  beschlossener Gesetze wahrgenommen haben.“ In dem „Memorandum“ werden die Opfer der SED-Politik so wenig erwähnt wie der Umstand, daß die Täter heute auf der Basis derselben Gesetze vor Gericht gestellt werden, nach denen sie sich bis 1989 so vorbildlich gerichtet haben wollen.

PDS-Star Gregor Gysi sieht bei der Vielzahl Berichte, die sich auf den Verdacht beziehen, er habe für die Stasi gespitzelt, ebenfalls Fanatiker am Werke, die die Beweislast dem Angeklagten auferlegen wollten. Viele, darunter als Gutachter die Wissenschaftler der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen, halten es für aktenmäßig erwiesen, daß die Staatssicherheit über den Anwalt Gysi, dem die IM-Decknamen „Gregor“, „Notar“ und „Sputnik“ zugeordnet werden, zu wertvollen Informationen über dessen Mandanten gelangt sei, etwa über den Bürgerrechtler Robert Havemann. Wie der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe – IM „Sekretär“ – weiß Gysi auf alle neu auftauchenden Vorwürfe Antworten und Erklärungen. Beide weisen kategorisch zurück, jemals für die Stasi gespitzelt zu haben, wobei beide wiederum nicht bestreiten, mit der Stasi im Zuge ihrer Arbeit als Anwälte in Strafsachen bzw. für die Evangelische Kirche gelegentlich Kontakt gehabt zu haben.

Wer behauptet, Gysi sei ein „Spitzel“ der Stasi gewesen, muß mit einer deftigen Unterlassungsklage rechnen, ja wenn eine Zeitung einen Kritiker Gysis mit einer entsprechenden Äußerung korrekt zitiert, klagt Gysi gegen die Zeitung.

Das Ziel ist, sich selbst als politisch Verfolgte zu zeichnen, die Stasiakten zu einem Fabrikat übereifriger und geltungssüchtiger Bürokraten abzuwerten und Aufklärung fordernde, frühere Bürgerrechtler wie Jürgen Fuchs und Bärbel Bohley als Hysteriker zu diffamieren.

Die Wissenschaft ist sich indessen einig, daß Akten der Staatssicherheit die Wahrheit enthalten. Sie waren ja nicht als Propagandamaterialien gedacht, um nach einer politischen Wende dem Feind Fehlinformationen zu liefern, sondern dienten der Arbeit des Binnengeheimdienstes als Grundlage. Es wäre unsinnig, aus Sicht der Staatssicherheit sogar gefährlich gewesen, grobe Lügen hineinzuschreiben.

Fehlerhaft, da ideologisch gefärbt und geschönt, sind die Einschätzungen und Charakteranalysen in den Akten. Doch wenn ein Stasioffizier angibt, sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit mit IM „Notar“ oder „Sekretär“ getroffen zu haben, muß dies im Rahmen menschlicher Fehlbarkeit als Wahrheit hingenommen werden.

Und doch: Vor Gericht werden viele Informationen aus Stasiakten nicht nur mit vernünftigen Zweifeln bedacht und naheliegender Quellenkritik unterzogen, sondern grundsätzlich angezweifelt – nämlich immer dann, wenn konspirativ, also ohne Nennung von Autor und Adressat – intern Informationen ausgetauscht wurden. Mancher Täter ist unbehelligt und lächelnd aus dem Gerichtssaal geschritten, da das Gericht bei der Beweiswürdigung Informationen, die konspirativ ermittelt und logischerweise ohne Quellenangaben notiert worden waren, mit erlogenen Informationen verwechselt hatte.

Zu dem nichtbefriedigten Bedürfnis, durch ein Strafverfahren Rechtsfrieden herzustellen, gesellt sich da bei vielen Opfern das Gefühl, daß ihnen ihre mit den Akten gewonnene Biographie in der Diskussion über deren Faktizität wieder entgleitet.

Dieser Erfolg, der auf der Seite der Täter verbucht werden konnte, schlägt durch bis in deren letzte Reihe. Nicht viele Täter bringen allerdings soviel Mut – oder die Dreistigkeit – eines früheren Inoffiziellen Mitarbeiters der Staatssicherheit auf, der mir ganz offen und selbstbewußt damit drohte, daß ich „beim nächsten Systemwechsel“ (an dessen Kommen in naher Zukunft er nicht zu zweifeln scheint) auf sein Wohlwollen angewiesen sein würde. Ich solle mich gut mit ihm stellen, riet er mir in einem Leserbrief zur letzten Folge meiner Serie über Opfer der Stasi, die seit 1994 in der „Märkischen Oderzeitung“ in Frankfurt (Oder) veröffentlicht worden war.

In der 80. Folge der Serie hatte ich es gewagt, ohne den Namen zu nennen, von meiner Begegnung mit dem Mann zu schreiben: Obwohl sich der Stadtverordnete der PDS im Frankfurter Stadtparlament ein knappes Jahr zuvor selbst als früherer IM offenbart hatte, mochte er Ende 1993 nicht mehr dazu stehen. Er wollte der Veröffentlichung eines Wortlautinterviews nur dann zustimmen, wenn ich die Bezeichnung „IM“, die er sich selbst gegeben hatte, daraus streichen würde.

Er hatte in dem Interview sogar zugegeben, eine schriftliche Verpflichtungserklärung gegenüber der Stasi abgegeben zu haben. Da dieser formlose, handgeschriebene Zettel das Wort „Inoffizieller Mitarbeiter“ nicht enthielt, glaubte der Mann sich im Recht, sich als IM nicht bezeichnen zu müssen. Er nannte als einen weiteren Grund, daß ohnehin „keine Atmosphäre der Offenheit“ herrsche und daß die Öffentlichkeit mit dem Geständnis eines IM nicht angemessen umgehen könne. Natürlich erschien das Interview nicht. Es wäre unseriös gewesen, dem Mann die Streichung seines Geständnisses zuzugestehen und nur die Rechtfertigungen für sein Verhalten ­– er sei aus Familientradition ein überzeugter Sozialist und Antifaschist gewesen – zu veröffentlichen.

Im übrigen habe er niemandem geschadet.

Aus Sicht der Opfer ist diese immer wieder von Tätern oder Mittätern vorgebrachte Schutzbehauptung verlogen. Niemand konnte wissen, ob er jemandem schadete, weil die Stasi mit den Informationen, über die sie verfügte, je nach „operativer Lage“ und politischer Vorgabe nach Belieben umging.

Doch hatten und haben die meisten Opfer weder Kraft noch Mut, gegen die Selbstrechtfertigungen der Täter aufzustehen. Sie leiden still. Und sehen sich pauschal einbezogen, wenn Bohley und andere als „professionelle Opfer“ kritisiert oder angegriffen werden.


Die Reaktionen auf die Artikelserie waren vielfältig. Die einen riefen anonym an und bezichtigten mich der Lüge, bezeichneten mich zum Beispiel als „Handlanger des Großkapitals“ oder als „Büttel der Reaktion“, einmal auch als „Nazischwein“, und warfen mir vor, ich wollte nach dem Ende des Kalten Krieges den Kampf gegen DDR und Sozialismus mit meinen Mitteln weiterführen, um die Wahlchancen der PDS zu mindern.

Andere Anrufer nannten ihre Namen und wiesen schuldbewußt darauf hin, „von alldem nichts gewußt zu haben“. Sie seien immer davon ausgegangen, daß, wer in der DDR im Knast gesessen habe, schon etwas angestellt haben müsse. Sie wollten, so mein Eindruck, von mir Beweise geliefert bekommen, daß sie nichts hätten wissen können.

Das konnte ich nicht tun. Zwar hatten geschätzte 70 bis 80 Prozent aller DDR-Bürger tatsächlich keinen unmittelbaren oder bewußten Kontakt zu Tätern oder Opfern. Doch kann dieser unbestritten reale Erfahrungshorizont einer großen Mehrheit nicht davon ablenken, daß viele derer, die zu Opfern geworden waren, gesehen hatten, was zu sehen war, und offen darüber gesprochen hatten, ohne zu einer besonders erkenntnisfähigen Elite zu gehören. Was in der DDR im argen lag, war für jedermann erkennbar; mindestens vom blutigen Grenzregime an Berliner Mauer und Westgrenze wußte wirklich jeder. Und jeder hätte daraus seine Schlüsse auf den wahren Charakter des Gemeinwesens DDR ziehen können.

Wieder andere Anrufer, teils anonym, teils offen, wollten mir mit zum Teil grob denunziatorischen Enthüllungen über die Opfer, deren Schicksale ich veröffentlicht hatte, klar machen, daß diese so unschuldig nicht gewesen seien. Es gab vor allem eine Argumentationsschiene, die immer wieder befahren wurde: „Man wußte damals doch ganz genau, was man sagen oder tun durfte. Wer dagegen handelte, war doch eigentlich selbst schuld, wenn ihm etwas passierte.“

Hier wird die Schere im Kopf, die Selbstzensur, interessanterweise zum Lebensgesetz in der Diktatur erhoben. Übrigens ist das im Prinzip falsch: Wie viele andere Diktaturen gründete die DDR auf Angst, die durch Unberechenbarkeit geschürt wurde. Man konnte eben nicht genau wissen, was tolerabel war in der DDR. Die Grenzen zwischen legal und illegal waren unscharf, Interpretation und Handhabung der entsprechenden Gesetze änderten sich ständig mit den politischen Vorgaben, auf deren Basis die Stasi handelte. Das erweist sich beispielhaft, wenn man das Verhältnis von „Tat“ und Sanktion verschiedener Stasiopfer vergleicht. Wenn ich das diesen Anrufern darlegte, wurde mir häufig als letztes Argument vorgehalten, ich als Westdeutscher hätte ja eigentlich weder das Recht noch die Kompetenz, das zu beurteilen.

Und auch Stasi-Opfer riefen an. Bei ihnen hatte die Serie eigenes Erinnern ausgelöst. So wie die Gesprächspartner mir als Fremdem (und damit der Öffentlichkeit), wie ihre Verwandten und Freunde vielfach verwundert mitteilten, mehr offenbart hatten als jemals zuvor im Kreise ihrer Lieben, brachten die Artikel über diese Offenbarungen ähnliche Prozesse auch bei anderen Opfern ins Rollen.

Die Dynamik, die die Bearbeitung des Themas auf diese Weise entwickelte, machte eine journalistische Strukturierung der Serie bald unmöglich. Erst in diesem Buch kann sie zusammengefaßt werden.

Für einige meiner Gesprächspartner bin ich zu einer Art Therapeut geworden. Als Journalist, der eine gewisse Distanz zum Sujet seiner Arbeit für unerläßlich hält, machte ich damit eine neue Erfahrung. Von 70- oder 80jährigen wie eine Vaterfigur oder als eine Art Beichtvater behandelt zu werden, war für mich einerseits eine Bestätigung dafür, wie wichtig es ist, diese Lebensgeschichten zutagezufördern, schon wegen des Leidensdrucks, der diese Menschen mir, dem ersten oft, der ihre Geschichten wirklich hören möchte, so nahebringt.

Andererseits stand ich mitunter selbst unter erheblichem Druck, Emotionen Herr zu werden, mit deren Heftigkeit ich unmöglich hatte rechnen können.


Schon wegen des starken Rechtfertigungsdrucks einiger Opfer griff ich bei der Recherche für die Serie immer wieder auf Stasi- und Gerichtsakten als Grundlage für die Erzählungen der Betroffenen zurück.

Einige, die ihre Geschichte bei mir loswerden wollten, wies ich ab, da sie keine Akten vorweisen konnten. Manchmal gab mir dabei ein Gefühl ein, daß meine Maßstäbe zu streng seien – gleichwohl blieb ich dabei: keine Geschichte ohne Akte.

Ich hatte anfangs Furcht vor früheren Stasileuten, die mir vielleicht einen Bären aufbinden würden, um meine Arbeit zu entwerten. Diese Furcht erwies sich als unbegründet, obwohl Mitglieder einer Organisation früherer Justizangestellter und hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter einmal mit einer solchen „Zersetzungsmaßnahme“ drohten. Und doch – wie sollte ich auf der Basis oft wirr und unter starken Emotionen vorgetragener Geschichten beurteilen, ob mir, wenn schon kein früherer Stasimann, so doch ein schräger Vogel einen Bären aufbindet, um sich interessant zu machen? Sozialpsychologisch sicher ein interessantes Thema, für einen Journalisten allerdings eine Katastrophe.

Einige Opfer wünschten, daß ihre Namen in der Zeitung abgekürzt erschienen. Einige mochten nicht zu sehr in der Öffentlichkeit exponiert werden, einige hatten noch immer Furcht vor dem Zorn der Täter. Dabei hatte ich mit allen meinen Gesprächspartnern die Übereinkunft getroffen, daß ich die Zeitung nicht zur Hatz auf Täter mißbrauchen würde. Die Identität aller in der Serie – und damit auch in diesem Buch – genannten hauptamtlichen und inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit ist mir bekannt. Für einen Moment war die Versuchung groß gewesen, Dekonspiration zu üben, die Klarnamen auszuschreiben und diese Leute vor aller Welt bloßzustellen. Ich verzichtete darauf: Die Namen aller Täter wie auch solcher Beteiligter, die ich nicht um ihre Zustimmung bitten konnte, ihre Namen zu nennen, sind abgekürzt oder geändert.

Es wäre allerdings interessant gewesen, die persönlichen Beweggründe und die heutige Befindlichkeit eines Menschen zu schildern, der ohne moralische oder politische Skrupel jahre-, mitunter jahrzehntelang gespitzelt, Beweise konstruiert, zersetzt und drangsaliert hat. Einige Male suchte ich im Zuge der Recherche Kontakt mit Tätern, um sie nach ihren persönlichen Motiven sowie nach ihrer Arbeitsweise zu befragen – vergebens. Immer scheiterte schon der Versuch, telefonisch einen Termin zu vereinbaren. Der eine wollte aus Gründen „militärischer Geheimhaltung“ nicht reden, die andere lehnte die „Hetze in der Presse“ ab, mehrere kappten nach meiner Erklärung, was ich wolle, einfach die Verbindung.

Eine ehemalige Bezirksrichterin verleugnete sich selbst am Telefon, verhaspelte sich aber dabei: „Ich bin nicht da, und die frühere Richterin ist meine Schwester.“ Und die sei auch nicht da.


Alle Versuche, mich zu belügen, wurden von Personen unternommen, denen es darum ging, sich als Opfer herauszustellen, um an Immobilien heranzukommen, die ihnen zu DDR-Zeiten angeblich abgenommen oder nicht zugesprochen worden waren.

So ging es einmal um einen dörflichen Wegerecht-Streit unter Nachbarn. Der Besitzer des großen Grundstücks, an das der Weg grenzt, behauptete mir gegenüber, seine Nachbarn hätten ihm mit Hilfe der Stasi zu DDR-Zeiten einen drei Meter breiten Streifen seines Landes abgenommen, um ein anderes Grundstück leichter erschließen zu können. Auf die Idee, diesen vermeintlichen Willkürakt als Skandal unter dem beliebten Stichwort „Alte Seilschaften“ der Zeitung anzutragen, kam der Mann erst, nachdem der Grundstücksstreifen von der Gemeinde 1994 als Weg befestigt und mit einem Namen versehen worden war und sich eine Klage vor Gericht dagegen als fruchtlos erwiesen hatte.

In einem anderen Fall versuchte sich ein vor dem Mauerbau nach Westen geflohener früherer DDR-Bürger mir gegenüber als politischer Flüchtling zu profilieren. Dafür konnte er keinen Beleg erbringen, kein Aktenstück, nichts. Nur einen Brief des damals für ihn zuständigen Betriebs-Parteileiters, er möge sich dann und dann zu einem Gespräch einfinden. Vor dem Termin sei er geflohen, weil er gewarnt worden sei, behauptete der Mann. Er sagte, bevor ich nach Zeugen fragen konnte, gleich dazu, die Frau, die ihn gewarnt habe, wolle davon heute nichts mehr wissen.

Dann rückte er heraus, worum es ihm wirklich ging: Seine Familie habe damals in einem Einfamilienhaus in einer Siedlung gewohnt, die in den 60er und 70er Jahren Haus für Haus zu lächerlich geringen Preisen an die Bewohner verkauft worden sei: „Hätte ich bleiben können, hätte ich alles darangesetzt, daß meine Mutter, die damalige Mieterin, das Haus gekauft hätte. So achtete niemand darauf, und der alten Frau war es selbst auch egal.“

Der Mann fragte mich allen Ernstes, ob es für ein Stasi-Opfer nicht möglich sein müsse, den Kauf des Hauses einzuklagen. Ich sagte ihm, die Frage der potentiellen Wahrnahme einer potentiellen Kaufoption könne er meinetwegen einem Gericht antragen – aus journalistischer Sicht sei seine Geschichte ein Windei und geradezu eine Beleidigung für die vielen Menschen, die Jahre in DDR-Knästen verbracht oder jahrzehntelang unter Stasi-Beobachtung gestanden hätten.



Vieles erinnert an die Zeit nach 1945. Kaum heilbare Traumata bei den Opfern, moralisches Trittbrettfahrertum, Desinteresse bei den meisten Unbeteiligten, keine Reue bei den Tätern, kaum Chancen auf eine Ahndung der Taten. Und wie damals geleugnet, verschleiert und relativiert wurde – schließlich hat Hitler die Autobahnen gebaut und den Bolschewismus bekämpft –, sind erneut Leugner und Relativierer aktiv: Schließlich war Hitler viel schlimmer, wurden Nazis nach dem Kriege kaum verfolgt, gibt es auch in der Bundesrepublik Justizskandale – und hatten nicht alle DDR-Bürger Arbeit, die Kinder einen Kindergartenplatz?

Noch scheint die Zeit nicht reif, daß eine Generation wie die 68er im Osten aufsteht, um die Eltern und die Großeltern nach ihren Akten zu fragen: „Auf welcher Seite habt Ihr gestanden?“

Eingedenk dessen denken viele Staatsanwälte schon seit einiger Zeit laut darüber nach, ob nicht ein gesellschaftliches Tribunal ohne nachgeordnete Exekutive als rein moralische Instanz die Aufräumarbeit da übernehmen sollte, wo die Justiz Unrechtsgefühle nicht beruhigen kann – schon um Rechtsfrieden wenigstens in solchen Fällen herzustellen, wo die Diskrepanz zwischen dem, was gerecht wäre und dem, was Recht ist, besonders groß ist.

Sechs Jahre nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten scheint dieser Zug allerdings abgefahren.


Berlin, im Februar 1997



Dich kriegen wir weich

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