Читать книгу Dich kriegen wir weich - Joachim Widmann - Страница 5
„Von der Sowjetunion lernen...“
ОглавлениеDie Ursprünge der Staatssicherheit ein Import
Werner Schöne ist um Fassung bemüht. Sein Kinn zittert, seine Augen werden feucht. Er sagt: „Ich bin nicht rachsüchtig“.
Doch einen gibt es, einen Offizier der Staatssicherheit, groß, schlank, offenbar nicht ohne zynischen Humor und Arroganz, bei dem weiß Schöne nicht, ob er sich beherrschen könnte, wenn er ihm begegnen würde. Der Mann nannte sich Günter K..
Über vier Jahre lang war Schöne vom sowjetischen Geheimdienst gefangengehalten worden, dann über ein Jahr Zwangsarbeit im DDR-Knast. Jahre später noch einmal nahezu 16 Monate Haft. Dann erpreßte ihn Günter K. zur Mitarbeit bei dem verhaßten Geheimdienst. „Wenn ich den zwischen die Finger bekomme, bringe ich den um“, sagt Werner Schöne. Nein, er habe als Inoffizieller Mitarbeiter niemandem geschadet, behauptet er. Von 1963 bis zum Ende der DDR hätte er über die Stimmung bei der Reichsbahn berichtet, wo er arbeitete. Ohne Namen zu nennen.
„Die haben mich mein ganzes Leben lang nicht in Ruhe gelassen.“ Er stützt eine Hand auf die verblichene Plastiktischdecke und dreht sich etwas steif um, blickt in seinen Schrebergarten in der Nähe des Bahnhofs von Frankfurt (Oder), als ob im Schatten zwischen den Obstbäumen und Stauden plötzlich etwas sehr Interessantes zu sehen wäre.
Dann fängt er sich und beginnt seinen Bericht.
Als er 1950 aus sowjetischer Internierung nach Hause zurückkam, wog er nicht einmal 45 Kilo. „Ich habe mich praktisch ein Jahr lang erstmal durchgefressen.“ Dann ging er wieder zur Bahn, wo fünf Jahre zuvor seine Lehre begonnen und nie abgeschlossen hatte. Nach Frankfurt (Oder), erst in eine Gleisbau-Rotte, dann wurde er Rangierer auf dem Personenbahnhof.
Er bezog ein möbliertes Zimmer in der Innenstadt.
Wie viele junge Leute fuhr er gern nach West-Berlin. Er kaufte sich eine „Texasjacke“ aus Leder und Boogie-Schuhe.
Eines Tages standen Stasileute vor der Tür. Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit. Die Schließer trugen noch die Uniform der Kasernierten Volkspolizei; die Vernehmungsoffiziere waren wie Offiziere der Russischen Armee gekleidet. Die Stasi war noch jung.
Schöne wurde niemals nachts verhört, im Gegensatz zu vielen seiner Leidensgenossen. Der Fall war ohnehin klar. „Ich habe nichts abgestritten“, erzählt Schöne.
Einer Schuld im Sinne der Anklage war sich der 26jährige nicht bewußt: Die Klage, die er kurz vor dem Prozeß erstmals für eine halbe Stunde lesen durfte und dann wieder abgeben mußte, lautete auf Militärspionage gemäß Kontrollratsdirektive 38 und Artikel 6 der DDR-Verfassung. Beweis: Er war nach West-Berlin gefahren. Sein Pflichtverteidiger riet ihm dringend, sich nicht zu verteidigen. Der Anwalt unternahm derlei selbst auch nicht für seinen Mandanten.
Urteil: Zwei Jahre.
Schöne verbüßte die Strafe in Zwickau beim Bergbau.
Nach 15 Monaten Schwerstarbeit kehrte Schöne 1953 an seinen Arbeitsplatz auf dem Frankfurter Bahnhof zurück – zum Schweigen nicht verpflichtet, aber schweigend, als wäre nichts gewesen, wie auch die Kollegen keine Fragen hatten.
Er machte Karriere, wurde Rangierleiter, gründete eine Familie.
Kurz vor dem Mauerbau wies Schöne das Ansinnen des Stasimanns Günter K., er möge als Inoffizieller Mitarbeiter den Zuträger für den Geheimdienst spielen, mit den Worten ab: „Ich bin Eisenbahner, kein Spitzel.“
K. daraufhin: „Gut. Wir sehen uns wieder.“
Ende August 1961 rief man Schöne ins Büro des Bahnhofvorstehers. Drei Mann in Zivil erwarteten ihn. Stasi.
Festnahme, Untersuchungshaft: „Fortgesetzte staatsgefährdende Hetze“ und „Morddrohung“ hielt ihm die Klageschrift vor, die er nach drei Monaten Untersuchungshaft für eine halbe Stunde vor dem Prozeß zu sehen bekam.
Denunzianten hatten „dumme Sprüche“ Werner Schönes, die als Witz gemeint waren, aus dem Kollegenkreis zur Stasi getragen. Für den Geheimdienst kam das gerade recht.
In der Untersuchungshaftanstalt führte K. das Verhör. Seine einleitenden Worte: „Ich hatte doch gesagt, wir sehen uns wieder.“
Das Urteil: Zwei Jahre.
Schöne wurde nach Sachsen zum Zuchthaus Waldheim gebracht, wo er im Versand des gefängniseigenen Spinnereimaschinenbaus arbeitete. Nach der Internierung und der Bergbau-Arbeit empfand er die Haft diesmal als nicht zu hart. Weihnachten 1962 – Schöne erinnert sich unter Tränen – wurde er „ohne Ankündigung“ auf Bewährung entlassen. „Ich dachte noch, ich werd’ verscheißert. Das war da eine übliche Schikane, einem zu sagen: Du kommst raus, und dann ist nischt. Aber da war ein Wachtmeister, der sagte: Ich verscheißere keinen, Du kommst raus.“
Ende Januar 1963, nur vier Wochen nach seiner Entlassung, wurde Werner Schöne erneut in die Chefetage des Frankfurter Bahnhofs zitiert. In die Kaderabteilung.
„Jeder wußte, das ist Stasi.“
Sein alter Bekannter Günter K. drohte: „Du wirst Inoffizieller Mitarbeiter oder gehst wieder in den Knast. Mindestens für zehn Jahre.“
Schöne: „Da habe ich zugesagt.“
Rund 180 000 Meter Akten lagern in den Archiven des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Millionen Seiten Geschichte und Politik der DDR, Schicksale von DDR-Bürgern. Tätern und Opfern.
Trotz der schieren Größe des Unternehmens war die Staatssicherheit nicht, wie oft leichthin behauptet, ein „Staat im Staate“. Die Stasi verwaltete keine eigenen Machtansprüche. Sie war „Schild und Schwert“ der Staatspartei SED, und damit das Rückgrat der Parteimacht, die gegen ihre „Feinde“ zu verteidigen war.
In dem Verdacht, ein „Feind“ zu sein, stand theoretisch jeder, der sich nicht in der SED engagierte und nicht unablässig seine Zustimmung zu den Zielen der Partei äußerte. Was die Ziele der Partei sind, bestimmte deren höchstes Gremium, das Zentralkomitee, dessen Exekutivorgan, das Politbüro, praktisch allmächtig war.
Die Stasi war das Scharnier zwischen Partei und Staat: Sie besorgte und überwachte die Gleichschaltung aller Lebensbereiche, indem sie Einfluß auf die anderen Parteien, Massenorganisationen, Behörden, Betriebe oder Personen ausübte und Parteien, Organisationen, Behörden, Betriebe und Personen überwachte. Dem diktatorischen Feindbild – „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ – entsprach ihre Arbeitsweise – sie war an nichts als den Willen der Parteiführung gebunden, verstieß gegen geltendes Recht, ohne selbst eine Strafverfolgung fürchten zu müssen.
Bei oberflächlicher Betrachtung des vorhandenen Materials ist via Vermittlung durch die Medien vielfach der falsche Eindruck entstanden, jeder DDR-Bürger sei entweder Mitarbeiter der Stasi gewesen oder auf Schritt und Tritt verfolgt worden, und daß es nur eines unbedachten Wortes bedurft habe, um in Schwierigkeiten zu geraten.
Die Stasi hatte Zeit ihrer Existenz an dieser Legende von Allmacht und Allwissenheit selbst gearbeitet.
Und sie war wirklich fast überall vertreten. Wo sie nicht vertreten war, verlangte sie Herausgabe von Informationen oder warb nach Möglichkeit Inoffizielle Mitarbeiter an.
Doch ergab die Arbeit des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen, daß durchschnittlich nicht mehr als zwei Prozent der DDR-Bürger haupt- oder nebenamtlich Stasi-Mitarbeiter waren. Von den übrigen ist etwa jeder Dritte in einer Akte erfaßt worden. Die meisten dieser Akten sind kein Beleg für Spitzeleien oder Stasi-Ermittlungsverfahren, sondern schlicht Sammlungen personenbezogener Daten, wie sie in den Zentralen Material-Ablagen jeder Stasi-Bezirksverwaltung gesammelt wurden: Name, Alter, Adresse, Arbeitsstelle...
Die Legende von der Allmacht der Stasi war eines der wesentlichen Machtinstrumente der DDR-Führung. Willkür und Unberechenbarkeit der Ordnungsbehörden sorgten für Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung. Wie ausgeprägt dies Gefühl gewesen sein muß, zeigt sich bis heute, wenn Betroffenen Akteneinsicht gewährt wird: „Viele sind überrascht, ja manchmal enttäuscht darüber, wie wenig die Stasi gewußt hat“, erzählt die Historikerin Dr. Andrea Herz, die beim Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen in Thüringen arbeitet.
Als 1989 Angst und Unsicherheit bei DDR-Bürgern – zunächst nur bei einer politisch aktiven Minderheit von ein paar Tausend Menschen – schwanden, löste sich die Macht der SED in nichts auf.
Immerhin hatten sie und der darauf gründende Staat 40 Jahre lang gehalten. Die DDR gehörte damit zu den beständigeren Staaten der neueren Geschichte auf deutschem Boden.
Alles SEDistische folgte einem sowjetischem Vorbild. So auch die Staatssicherheit, die sich bis zuletzt auf die „Ideale“ der TschK (eingedeutscht: Tscheka) berief. TschK war die Abkürzung für den ersten sowjetischen Geheimdienst, der 1917 von den Bolschewiki gegründet worden war, Tschrezvytschajnaja Kommissija. Das Idol der „Tschekisten“, Tscheka-Gründer Feliks Dzierzynski (1877-1926), formulierte den Leitsatz, den die Mitarbeiter der Staatssicherheit sich Für ihre Charakterbildung zu Herzen nehmen sollten: „Tschekist sein kann nur ein Mensch mit kühlem Kopf, heißem Herzen und sauberen Händen.“viii
Im „Wörterbuch der politisch-operativen Arbeit“ der Staatssicherheit, das von 1970 an in mehreren aktualisierten Fassungen herausgebracht wurde, heißt es unter dem Sichwort „Persönlichkeit, tschekistische“: „eine sozialistische Persönlichkeit, die als Angehörige(r) eines sozialistischen Sicherheitsorgans im Auftrage und unter Führung der Partei der Arbeiterklasse unmittelbar und direkt für den Schutz des Sozialismus, für die allseitige und zuverlässige Sicherung der Macht der Arbeiterklasse vor allen subversiven Angriffen des Klassenfeindes kämpft. Sie wird geprägt und entwickelt sich durch die aktive Tätigkeit für den Aufbau und den Schutz der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft, insbesondere im Prozeß der konspirativen tschekistischen Arbeit, im kompromißlosen Kampf gegen den Feind und durch die dazu notwendige tschekistische Erziehung und Befähigung.
Eine tschekistische P. wird vor allem durch solche für die tschekistische Arbeit notwendigen Persönlichkeitseigenschaften charakterisiert wie:
– unbedingte Treue und tiefe Verbundenheit zur Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei,
– unerschütterliche Freundschaft zur Sowjetunion und zu den anderen sozialistischen Bruderländern, Einstellungen und Haltungen, die vom sozialistischen Patriotismus und Internationalismus bestimmt sind,
– Bereitschaft zum ständigen Lernen, insbesondere bei der Aneignung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung und der Vertiefung des Verständnisses der Politik der Partei der Arbeiterklasse,
– Entschlossenheit, Mut, politisch kluges tschekistisches Handeln, Opferbereitschaft und Haß im Kampf gegen den Feind auf der Grundlage eines klaren Feindbildes,
– Bereitschaft und Fähigkeit zur Wahrung von Konspiration und Geheimhaltung sowie zur Gewährleistung der inneren Sicherheit der Organe für Staatssicherheit,
– schöpferische Initiative, hohe militärische Disziplin, offenes und ehrliches Auftreten, Bescheidenheit, kritisches und selbstkritrisches Verhalten in und außerhalb der tschekistischen Tätigkeit,
– Willensstärke und Konsequenz bei der Erhaltung und Förderung des physischen und psychischen Leistungsvermögens, sinnvolle Gestaltung der Freizeit.
Diese und ähnliche Persönlichkeitseigenschaften müssen im tschekistischen Arbeitsprozeß, im Prozeß der Erziehung herausgebildet und stärker gefestigt werden.“ ix
Was es mit diesem Ideal auf sich hatte, hatten sowjetische Geheimdienstler gleich nach Kriegsende demonstriert.
Werner Schönes Leidensweg hatte 1945 begonnen.
„So ein verpfuschtes Leben“, meint er und braucht wieder eine Pause, bevor er weiterreden kann. Er zündet sich eine Zigarette an. Wischt sich mit dem Daumen die Augen. Sagt, er habe zunächst Glück im Unglück gehabt.
Mit 16 war der Reichsbahnlehrling aus Hathenow im Oderbruch noch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs einberufen worden. Hitlers Militärstrategen hatten die irre Hoffnung propagiert, mit dem „Volkssturm“, einem letzten Aufgebot aus Kindern und alten Männern, den Vormarsch der Alliierten noch stoppen zu können. Schöne wurde wie Tausende andere Hitlerjungen in eine Wehrmachtsuniform mit HJ-Armbinde gesteckt und landete in der Schlacht um Halbe.
Deutsche Panzer schlugen eine letzte Bresche durch den Ring, den die Rote Armee um den „Kessel“ Halbe geschlossen hatte, und Schöne konnte entkommen. Er floh bis ans Ufer der Elbe. Auf der anderen Seite des Stroms standen US-Soldaten mit Megaphonen und riefen: SS- und HJ-Leute würden übergesetzt. „Die Amerikaner wußten, daß die Russen mit denen kurzen Prozeß machen würden.“ Anders als die reguläre Wehrmacht galten die SS und die HJ als nationalsozialistische, politische Verbände, die in Gefangenschaft kein Kriegsrecht schütze.
Schöne schaffte es um Haaresbreite nicht auf die Fähre. „Die Russen schossen schon rüber.“ Er wandte sich wieder nach Osten, und zufällig begegnete er im Chaos aus Krieg und Flucht dem Treck, in dem seine Mutter nach Westen, weg von der Oder, gezogen war. Er legte die Uniform ab, fiel in Zivil nicht weiter auf, entkam der Gefangenschaft – erstmal.
Da sie keinen Unterschlupf fanden, gingen Schöne und seine Mutter zurück nach Hathenow. Sein Vater wurde schon im Juli 1945 aus Kriegsgefangenschaft entlassen. Auch der Vater war Eisenbahner, hatte der NSDAP angehört. Doch bis Oktober 1945 blieb die Familie unbehelligt. Auch der berüchtigte sowjetische Geheimdienst NKWDx wußte nicht alles. Es war auf Denunzianten angewiesen. Und einem Denunzianten, da ist sich Schöne sicher, hatte er zu verdanken, daß am 23. Oktober ein Grüppchen deutscher Hilfspolizisten verlegen vor der Tür stand und ihn bat, „zur Klärung eines Sachverhalts“ mitzukommen. Einer der Männer war Schönes Onkel. „Der wußte nicht, was das sollte. Keiner von denen wußte was.“
Die Hilfspolizisten lieferten Schöne beim NKWD in Seelow ab. Der Geheimdienst residierte in einer Gaststätte. Der Bierkeller diente als Gefängnis.
Überall im Osten Deutschlands hatten die am 9. Juni 1945 gegründete Sowjetische Militär-Administration in Deutschland (SMAD) und das NKWD öffentliche Gebäude, Gaststätten oder Villen beschlagnahmt.
Nach ein paar Tagen in dem Keller wurde Schöne vernommen. Man hielt ihn für einen „Werwolf“, also für ein Mitglied der geheimen Truppe, die SS-Reichsführer Heinrich Himmler zu Kriegsende für den Untergrundkampf hatte gründen lassen. Die Geheimdienstler zählten den jungen Mann damit zu der sehr weit gefaßten ersten Kategorie derer, die zu Tausenden verhaftet wurden: Nazis und Kriegsverbrecher.
Anklage wurde gegen Schöne nicht erhoben, es gab keinen Prozeß.
Die Internierung ging auf mehrere Befehle zurück, die das NKDW im Frühjahr 1945 erhalten hatte. Es sind im Grunde verschiedene Fassungen desselben Befehls, der offenbar auf die Zerschlagung nationalsozialistischer Organisationen und der Verwaltung des Deutschen Reiches sowie antisowjetischer Medien zielte.
Von 1946 an konnte sich die Sowjetunion auf entsprechende Erlasse des alliierten Kontrollrats berufen – da waren die Internierungslager längst mit Häftlingen überfüllt. Als „einheitliche Rechtsgrundlage“ für die „Strafverfolgung von Kriegsverbrechern und anderen Missetätern dieser Art – mit Ausnahme derer, die von dem Internationalen Militärgerichtshof abgeurteilt werden“xi, erließ der Alliierte Kontrollrat am 20. Dezember 1945 das Gesetz Nr. 10, das Nazi-Verbrechen definierte und für deren verschiedene Spielarten Strafmaße setzte.
Die wichtigste Grundlage für die Internierung war die am 1. Oktober 1946 erlassene Kontrollratsdirektive 38 zur „Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten, Militaristen und Industriellen“xii, die das Regime des im Dritten Reichs unterstützt hatten sowie jener Deutscher, „die keiner bestimmten Verbrechen schuldig sind, aber für die Ziele der Alliierten als gefährlich gelten“.
Da jeder der Alliierten auf der Basis der Direktive 38 ein System eigener Regeln und Sanktionen aufbauen konnte, wurde sie in der Sowjetisch besetzten Zone und später noch in der DDR – nach dem Vorbild der politischen Vereinnahmung des Strafrechts in der Sowjetunion – als Gummiparagraph mißbraucht.
Auch der illegale Grenzübertritt und „konterrevolutionäre Tätigkeit und Propaganda“ konnten unter Berufung auf die Kontrollratsdirektive bestraft werden.
Teils aus Rache für die Kriegsverbrechen und Massenmorde an Zivilisten durch Deutsche in der Sowjetunion, teils auch aus Angst und aus Unkenntnis der Strukturen des Deutschen Reiches gingen die NKWD-Leute der Befehle ungeachtet vielfach völlig willkürlich vor. Die „Operativen Gruppen“ des Geheimdienstes wiesen „ingenieurtechnisches Personal und Besitzer von Fabriken, Betrieben und Werkstätten, Personal örtlicher Behörden und Ministerien, Putzfrauen, Stenographinnen, Telephonographistinnen und Kuriere, die vor dem Krieg mit der UdSSR in der deutschen Armee und in paramilitärischen Organisationen gedient hatten, Leiter faschistischer Grundorganisationen (NSDAP), z. B. Kassierer und Spendensammler, über die kein belastendes Material vorliegt“, in die Lager ein, wie deren Leiter im August 1945 bemängeltexiii.
Nach der Vereinigung von KPD und SPD zur SED kamen Sozialdemokraten hinzu. Wer immer sich der unbedingt sowjettreuen Linie der neuen Einheitspartei widersetzte, mußte befürchten, unter Berufung auf Direktive 38 aus dem öffentlichen Leben entfernt zu werden.
Werner Schöne: „Sogar ehemalige KZ-Häftlinge waren im Internierungslager, Leute, die schon im Dritten Reich als Kommunisten eingesperrt waren.“
Die Hilfspolizisten aus Seelow brachten Schöne zum NKWD nach Frankfurt (Oder). Der Geheimdienst verfügte auch hier über eine Villa, die „Gelbe Presse“. Das Haus in der heutigen Puschkinstraße war im Volksmund nach dem damaligen Straßennamen benannt worden. Von dort aus kam Schöne ins berüchtigte Internierungslager Ketschendorf bei Fürstenwalde/Spree, das sowjetische Speziallager Nr. 5.
Das Internierungslager war die Arbeitersiedlung einer Fabrik, die im Mai 1945 einfach mit Stacheldraht umzäunt worden war. Es war überbevölkert. Die hygienischen Verhältnisse rangierten unter den schlechtesten im Vergleich mit anderen Lagernxiv; die Verpflegung reichte vielen Internierten nicht zum Leben. Die Menschen hausten in Kellerlöchern, kampierten auf Treppenabsätzen, mußten froh sein, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.
Die Siedlung, die aus sechs Häusern mit je neun Wohnungen bestand, war im Durchschnitt ständig mit 6 200 Männern und Frauen belegt. Etwa 5 000 Menschen starben in Ketschendorf. Man verscharrte sie in der Nähe der Autobahn Berlin-Frankfurt (Oder) in Massengräbern, die unkenntlich gemacht wurden. Als die heutige Siedlung Fürstenwalde-Süd 1952 erweitert werden sollte, mußten unter der Aufsicht des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit 30 Lastwagenladungen Toter auf den Soldatenfriedhof Halbe im benachbarten Kreis Königs Wusterhausen gebracht werdenxv.
Werner Schöne gehörte zu der Gefangenengruppe mit der höchsten Sterblichkeit. Von etwa 2 000 Jugendlichen, die in Ketschendorf interniert waren, überlebten nur die Hälfte. Im Februar 1947 wurde das Lager aufgelöst. Schöne, der dort bis Ende 1946, über ein Jahr lang, gefangen war: „Es mußte aufgelöst werden, sonst wäre keiner lebend mehr rausgekommen.“
Schöne wurde nach Neubrandenburg ins Lager Fünfeichen gebracht, in dem die Nazis bis Kriegsende Kriegsgefangene gefangengehalten hatten. Die Sowjets hielten dort bis September 1948 zeitweise bis zu 12 500 Menschen festxvi.
In Neubrandenburg, dem Speziallager Nr. 9, assistierte Schöne als „Läufer“ der Leiterin des nördlichen Lagerabschnitts. „Ich wurde eingekleidet wie ein General. Mit alter deutscher Fliegeruniform und Schlips.“ Neben den neuen Kleidern brachte ihm diese Arbeit auch bessere Verpflegung ein, und Schöne war in der Stabsbaracke untergebracht. „Ich mußte extra Russisch dafür lernen. Aber wer hätte da schon Nein gesagt.“ Die Behandlung in Neubrandenburg sei „relativ menschlich“ gewesen.
1948 wurde auch dies Lager aufgelöst. Man brachte Schöne ins Speziallager Nr. 2 nach Buchenwald, in das ehemalige Konzentrationslager bei Weimar. Die Leitung war dieselbe wie in Ketschendorf, stellte er entsetzt fest. „Doch mittlerweile war alles viel organisierter.“ In Buchenwald wurden durchschnittlich zwischen 10 000 und 12 000 Menschen festgehalten.
Internierten gegenüber wurde nicht der geringste Anschein von Rechtsstaatlichkeit gewahrt. Es gab nicht nur sehr oft keinen Prozeß, sondern auch keinerlei Information, wie lange die Gefangenschaft dauern sollte. Schöne konnte bis zum 25. Januar 1950, als er zwei Wochen vor der Auflösung des Lagers endlich aus Buchenwald entlassen wurde, keine Nachricht nach Hause schreiben. Seine Familie hatte 1948 von einem entlassenen Mithäftling aus Neubrandenburg erfahren, daß er noch lebte – das war alles.
Als Gottlieb Leichnitz 1946 zur sowjetischen Kommandantur in Booßen bei Frankfurt (Oder) bestellt wurde, ahnte die Familie beim Abschied nicht, daß er achteinhalb Jahre lang von diesem Ausflug nicht zurückkommen würde.
Gleich nach Kriegsende war Leichnitz (1898-1980) aus der Gefangenschaft gekommen und hatte sich, da sich niemand sonst fand, widerwillig als Bürgermeister im ostbrandenburgischen Alt-Zeschdorf aufstellen lassen.
Eines Abends luden die sowjetischen Besatzer des Ortes zum Tanzvergnügen – oder besser: zwangen. Junge Frauen wurden zusammengeholt, Vater Leichnitz hatte am Klavier aufzuspielen, und die Russen sorgten dafür, daß der Alkohol in Strömen floß. „Die haben allen dauernd Schnaps eingegossen“, erzählt Leichnitz’ Tochter, Martha Rex (Jahrgang 1922).
Einer der Soldaten war schließlich so betrunken, daß er jede Hemmung verlor. Er packte Marthas um sieben Jahre jüngere Schwester. „Er wollte sie in den Keller bringen und vergewaltigen.“
Diesem Schicksal waren die Leichnitz-Töchter bis dahin entgangen. Als die Mutter und die Großmutter in den ersten Nachkriegstagen vergewaltigt wurden, hatten sie sich auf dem Dachboden verborgen.
„Mein Vater schlug den Kerl nieder, um ihn davon abzubringen. Der war dann auch friedlich. Aber er sagte zu meinem Vater: ,Du wirst noch an mich denken‘.“
Der Vorfall auf dem Tanzabend kann für die Internierung Leichnitz‘ durch den NKWD nur den letzten Ausschlag gegeben haben. Lokal- und Regionalpolitiker bildeten nach den Kriegsverbrechern – vermeintlichen wie echten – die zweite große Gruppe Internierter. Die NKWD-Befehle von 1945 ordneten die Verhaftung der „Leiter administrativer Organe auf Gebiets-, Stadt- und Kreisebene“ an. Daß nur Nazis in die Lager zu bringen seien, besagten die Befehle nicht. So kamen in den Jahren nach dem Krieg viele ostdeutsche Bürgermeister in Haft, deren einziges Vergehen gewesen war, Bürgermeister und nicht Kommunist zu sein.
Martha Rex: „Wir Kinder sind am Tag nach seinem Verschwinden zu Fuß losgegangen, um da die Wache zu fragen: ,Wo ist unser Vater?‘ ,Hier nix Vater‘, sagte man. Wir wußten nicht einmal, ob er noch lebte.“
„Für Eltern und Geschwister war die Ungewißheit fast schlimmer als für die Betroffenen selbst“, sagt Anneliese Abraham.
Sie war vor der Festnahme gewarnt worden: „Ich war mit Freunden im Sommer 1947 an der Ostsee gewesen, und auf der Rückfahrt im Zug kam jemand auf mich zu und flüsterte: Fahr’ nicht nach Hause, in Frankfurt gibt es eine Verhaftungswelle.“ Doch sie kehrte arglos zu ihren Eltern und ihren Geschwistern nach Frankfurt (Oder) zurück, wo die Familie seit Jahrzehnten ein Fotogeschäft betrieb und die damals 20jährige ihre Fotografenlehre absolviert hatte.
„In Frankfurt herrschte große Aufregung. Viele meiner Bekannten waren bei Nacht und Nebel abgeholt worden.“ Doch sie war nicht beunruhigt. „Ich hatte mir nichts vorzuwerfen.“
Viele junge Frankfurter setzten sich nach dieser ersten Verhaftungswelle nach West-Berlin ab. Nicht so die junge Fotografin, die damals noch ihren Mädchennamen, Fricke, trug. Frankfurt war Heimat, schon wegen der Familie.
„Ich wußte wohl, daß Claus N., ein Bekannter, irgendwie für die Amerikaner arbeitete. Er hatte mir das gesagt und mich gebeten, Fotokopien für ihn zu machen.“
Ihr sei damals „kindisch“ vorgekommen, daß N. Autonummern aufschrieb und weitergab, woraus die Amerikaner wohl auf Truppenbewegungen hätten schließen können. „Ich lehnte ab, um nicht meiner Familie Ärger einzuhandeln. So hatte ich später natürlich ein ganz ruhiges Gewissen. Auch noch, als der N. schon abgeholt war.“
Monate vergingen. Die Lage schien sich zu beruhigen. Von denen, die im August verschwunden waren, gab es keine Nachricht.
„Am 14. Oktober 1947 wurde ich früh um 5 Uhr von meinen Eltern geweckt. Zwei sowjetische Offiziere, ein deutscher Polizist und eine Dolmetscherin waren gekommen, mich abzuholen.“ Während sie im Flur warteten, zog sich Anneliese Fricke rasch an.
Sie wurde abgeführt. Acht Jahre lang sollte sie das Haus ihrer Eltern nicht wieder betreten.
Erst 1949 erfuhr ihre Familie, daß Anneliese Fricke zumindest bis Frühjahr 1948 nicht in die Sowjetunion deportiert worden war. Eine Haftentlassene überbrachte die Nachricht. Eine erste, zensierte Postkarte als Lebenszeichen konnte Anneliese Fricke erst Ende 1949 nach Hause schicken. Und am 30. Oktober 1950, nach drei Jahren, durfte ihr Vater sie zum ersten Mal im Zuchthaus Hoheneck besuchen. Allein, denn nur ein Familienmitglied war erlaubt.
Martha Rex erhielt sieben Jahre nach der Internierung von Gottlieb Leichnitz, 1953, gemeinsam mit ihrer Mutter Besuchserlaubnis im Zuchthaus Waldheim. Marthas drei Brüder und ihre Schwester mußten zu Hause in Alt-Zeschdorf bleiben. So wurden sie nicht Zeugen der düsteren Szene: „Wir durften einander nur mit den Fingerspitzen berühren. Posten standen dabei. Wir fragten: ,Wann kommst Du nach Hause? Wir brauchen Dich doch!‘“ Doch die Posten sorgten dafür, daß Leichnitz nicht mit seiner Familie sprach. Einige Minuten lang sah man sich trostlos über eine Barriere hinweg an, dann mußten die Besucher gehen.
Als der Eisenbahner Erhard Hemmerling im Oktober 1951 verschwand, blieb seine 23jährige Frau Vera mit zwei kleinen Kindern zurück. Erst nach Tagen brachte ihr jemand einen Zettel, auf den ihr Mann geschrieben hatte: „Ich bin bei der Stasi in der Halben Stadt in Frankfurt“.
Er hatte sich in den Finger geritzt und den Kassiber mit Blut geschrieben, um ihn dann aus dem Fenster des Kellers, in dem er festgehalten wurde, auf den Gehweg zu werfen. Eine offizielle Nachricht erhielt Vera Hemmerling nie.
Die junge Frau ging zur Staatsanwaltschaft, zur Polizei und schließlich zur Staatssicherheit. Da hätte man ihr sagen können, daß ihr Mann sich mittlerweile in den Händen der Sowjets befand. Statt dessen bekam sie zu hören: „Ihr Mann ist abgehauen. Sie sollten sich scheiden lassen.“ Vera Hemmerling: „Das war die größte Zumutung. Ich wußte schließlich besser, wie wir zusammenleben, daß mein Mann seine Familie nie im Stich gelassen hätte. Nach fünf Jahren, die wir glücklich verheiratet waren, glaubte ich nicht, daß er abgehauen war.“
Aus der schönen Bahnhofsvorsteher-Dienstwohnung, die die Familie in Rehfelde bewohnt hatte, mußte Vera Hemmerling mit den Kindern bald ausziehen. Sie ging zu ihrer Mutter nach Frankfurt (Oder), arbeitete bei der Bahn.
Alles war, als hätte es Erhard Hemmerling nie gegeben.
Zu Fuß wurde Anneliese Fricke zur „Gelben Presse“ gebracht. „Da bin ich in den Keller gekommen. Da waren noch andere, alles junge Leute.“
Die Gefangenen mußten nach einigen Stunden auf Lkw steigen.
„Ich dachte sofort, es geht über die Oder. Es war mir völlig klar, daß es nach Osten geht.“ Sie hatten viel von Deportationen in die Sowjetunion reden hören: Das Schicksal vieler Internierter.
Doch die Fahrt ging landeinwärts. Nach einiger Zeit eine Stadt: Die Lkw stoppten. Ein Tor schloß sich hinter den Lastern. Die Frankfurter wurden „grob und laut“ von den Ladeflächen getrieben.
„Wir wurden gefilzt. Schnürsenkel und Gürtel wurden uns abgenommen. Ein Mann bettelte vergebens um seine Brille.“ Dann ging es ins Zellenhaus.
„Ich dachte: Wie im Kino. Wie ich da in die Zelle gesperrt wurde...“
Sie war allein. Die Zelle war leer bis auf eine eiserne Pritsche. Für die Notdurft gab es „eine Art Kochtopf“.
Anneliese Fricke war im „Lindenhotel“, der berüchtigten NKWD/MWD-Zentrale in der Potsdamer Lindenstraße.
Nachtruhe war von 22 bis 5 Uhr. Erst nach Tagen erhielt Anneliese Fricke einen Strohsack für die Pritsche. Sie empfand das als eine Gnade, eine besondere Vergünstigung: „Ich war völlig fertig.“
Tagsüber durfte sie sich nur stehen oder auf der Pritsche sitzen. Keinesfalls schlafen.
„Die Verhöre fanden grundsätzlich nachts statt. Die Verhörmethoden waren wirklich schlimm.“
Dazu möchte sie mehr nicht sagen.
Einer der 45 anderen Frankfurter, die im Herbst 1947 verhaftet worden waren, Jochen Stern, berichtet von Schlägen mit Holzknüppeln oder auch „mit der flachen Hand ins Gesicht“, begleitet von Vorwürfen: „Widerstand gegen Besatzungsmacht ... Verleumdung ... Ehre der Sowjetoffiziere besudeln ... Diesmal trugen sie mich in die Zelle.“
Ein weiteres Druckmittel war der Karzer: Mit nacktem Oberkörper in einer eisigen Zelle, nur jeden dritten Tag eine volle Ration, sonst nur wäßriger Kaffee. „Die Arme dicht am Körper angewinkelt, hockte ich auf dem zementierten Fußboden. In einer Doppelzelle, durch Gitterstäbe geteilt. Gleich einem Käfig.“ Am Tag nach seiner Befreiung aus dem Karzer unterschrieb Stern sein Geständnis: „Lauter Schauergeschichten.“xvii
***
Stets mißtrauisch gegen den Dolmetscher – „Alles war auf Russisch. Ich war mir nie sicher, ob richtig übersetzt wurde. Ich wußte auch nicht, was ich unterschrieb“ –, legte Anneliese Fricke im Verhör die Dinge dar, wie sie gewesen waren. Ihr Name war mit denen der anderen Verhafteten in einem Notizbuch von Claus N. gefunden worden. Aber sie hatte ja die Zusammenarbeit mit ihm abgelehnt.
Eines Nachts, beim Verhör, stand N. plötzlich in der Tür. „Ein Bild des Grauens, genau wie die KZ-Gestalten in der Nazizeit.“
Der Vernehmer fragte: „Fricke, Anneliese, waren Sie Mitglied der Spionageorganisation von N., Claus?“
„Nein.“
„N., Claus, war Fricke, Anneliese Mitglied Ihrer Spionageorganisation?“
„Ja.“
Da faßte sich die Gefangene ein Herz: „Claus, hatte ich nicht wegen meiner Eltern gebeten, aus dem Spiel zu bleiben?“
Der Mann, abgemagert und offenbar ebenfalls endlosen, qualvollen Verhören ausgesetzt, nickte mühsam. Doch das spielte keine Rolle. Ein Geständnis wurde aufgesetzt, auf Russisch. „Erst wollte ich nicht unterschreiben.“
Man sagte drohend: „Sie wollen doch Ihre Eltern und ihre Geschwister wiedersehen...?“
Sie unterschrieb.
Im Frühjahr 1948 stand Anneliese Fricke im Vorderhaus des „Lindenhotels“ mit 27 anderen, darunter sieben Frauen, vor einem sowjetischen Militärtribunal, umringt von bewaffneten Posten mit Hunden. Viele der Mitangeklagten waren Bekannte: „Unvorstellbar, wie sich Menschen in einem halben oder Dreiviertel Jahr verändern können. Die Männer waren kahlgeschoren, alle sahen verhungert aus. Während der Untersuchungshaft waren schon einige gestorben aus unserem Fall.“
Die Anklagen wurden verlesen. „Ich habe die Klageschrift da zum ersten Mal auf Deutsch gehört.“
Der Prozeß, „eine reine Theaterveranstaltung“, dauerte mehrere Tage lang. Die Anklage konstruierte die Legende einer ungeheuren Spionagekonspiration in Frankfurt (Oder). Basis des Verfahrens war die Aussage, die Claus N. unter der Folter gemacht hatte, außerdem konnte das NKWD aus seinen Aufzeichnungen schöpfen. Denen zufolge hatte Anneliese Fricke einer Gruppierung mit dem Namen „Liberale Organisation“, die N. im Auftrag der Amerikaner angeblich leitete, über das Geschäft ihrer Familie Filme besorgt und selbst auch für N. fotografiert. Für jeden der anderen Angeklagten fanden sich ähnliche Verwicklungen in das angebliche Komplott gegen die sowjetischen Besatzer Ostdeutschlands.
Erhard Hemmerling (Jahrgang 1923) weiß bis heute nicht, was genau ihn in die Mühle der Geheimdienste geraten ließ. Er weiß, daß er kein Spion war. Doch das hatte in seiner Klageschrift gestanden. Genauer: Spionageverdacht. Nach Sowjetrecht war schon der strafbar – auf Basis der Kontrollratsdirektive 38.
Sicher: Er hatte den antistalinistischen Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen in West-Berlin um eine Rechtsauskunft ersucht. Sicher, er war nicht in die SED eingetreten, sondern, nach einigem Drängen von Vertretern der Staatspartei bei der Reichsbahn, in die Blockpartei NDPD, „um meine Ruhe zu haben“, wie er sagt.
Die NDPD war 1948 auf Betreiben von SMAD und SED gegründet worden, um unter eigener Regie ehemalige Soldaten und frühere kleine Nazis zu sammeln. Außerdem sollten kleine Unternehmer und Handwerker eine politische Heimat erhalten. An der Spitze wurden linientreue Kommunisten eingesetzt. Dennoch gehörte die NDPD schon wegen des parteiintern starken Gewichts von dem Kommunismus eher abgeneigten Mitgliedern Anfang der 50er Jahre zu den „sozialdemokratischen“ Kritikern der Wirtschafts- und Sozialpolitik der SED.xviii
Alles das spielte offenbar eine Rolle, als Hemmerling verfolgt und verurteilt wurde. Doch ist es bis heute ein Rätsel geblieben, warum er von der Stasi an den sowjetischen Militärgeheimdienst ausgeliefert wurde.
Über die ohne Urteil Internierten hinaus wurden zwischen 30 000 und 50 000 Menschen von 1945 bis 1955 durch sowjetische Militärtribunale zu Haft oder Zwangsarbeit verurteiltxix.
Das DDR-Ministerium für Staatssicherheit war 1951 zu einem großen Teil noch Hilfsorgan der sowjetischen Dienste und Tribunale. Schon seit 1945 war das NKDW bei seiner Arbeit von Ämtern für Information unterstützt worden, die in den Landes- und Provinzialverwaltungen gebildet worden waren. Von August 1947 an nahmen die 5. Kommissariate der Deutschen Volkspolizei (K 5) die Aufgabe der politischen Geheimpolizei wahr. Deren Gründung ging zurück auf einen Befehl der SMAD.
Anfang Mai 1948 wurde der Ausschuß zum Schutz des Volkseigentums gegründet. Dessen Vorsitzender, der spätere Minister für Staatssicherheit Erich Mielke, war damals zugleich Vizepräsident der Deutschen Verwaltung des Innern und so auch zuständig für die Anleitung der K 5. In der Hauptverwaltung und den Landesverwaltungen zum Schutz der Volkswirtschaft wurden kurz vor Gründung der DDR die Mitarbeiter der K 5 mit anderen zuverlässigen, im weiteren Sinne geheimpolizeilichen Verwaltungsmitarbeitern zusammengebracht. Am 7. Oktober 1949 wurde mit der DDR auch das Ministerium des Innern gegründet, unter dessen Dach die Hauptverwaltung zum Schutz der Volkswirtschaft bis zur Gründung des Ministeriums für Staatssicherheit am 8. Februar 1950 vorübergehend unterkam. Der erste Minister für Staatssicherheit war Politbüro-Mitglied Wilhelm Zaisser.
Wie Wilhelm Zaisser und sein Nachfolger Ernst Wollweber hatten viele der hochrangigen Stasi-Mitarbeiter der ersten Generation schon für das NKWD gearbeitet, waren also erfahrene Tschekisten. Ehemalige des illegalen Militärapparats der KPD, Veteranen des Spanischen Bürgerkriegs oder kommunistischer Widerstandsgruppen gegen die Nazis oder Kommunisten, die im sowjetischen Exil ihre Linientreue bewiesen hatten, fanden sich ebenfalls unter den leitenden Kadern des jungen Geheimdienstes.
Die zweite große Gruppe bestand aus „umerzogenen“ früheren Wehrmachtsangehörigen, die als Kriegsgefangene in der Sowjetunion die Antifa-Schulen absolviert oder sich im Nationalkomitee Freies Deutschland engagiert hatten.
Gewissermaßen das Fußvolk des Geheimdienstes bildeten junge Leute, die außer einer Mitgliedschaft in einer nationalsozialistischen Jugendorganisation keine NS-Belastung hatten, Mitglieder der Freien Deutschen Jugend oder der SED waren und vielfach bereits in den „bewaffneten Organen“ arbeiteten.xx
1955 wurde die Verurteilung Deutscher durch sowjetische Militärtribunale eingestellt. Seit 1950 hatte die Staatssicherheit den Sowjets immer weniger Deutsche übergeben.
1951 gerieten eigentlich nur noch solche „Politische“ vor ein sowjetisches Tribunal, die mit ihren Taten oder Unterlassungen direkt Interessen der Sowjetunion berührt hatten.
Hemmerling ist sich keiner solchen Tat bewußt.
Der Familienvater war 1951 Bahnhofsvorsteher in Rehfelde in Ostbrandenburg. Man muß ihn schon länger beobachtet haben vor der Verhaftung, denn der Zugriff erfolgte im Zug, auf einer Dienstfahrt nach Frankfurt (Oder). Hemmerling wurde vom Bahnhof gleich zur Stasi gebracht, die damals in einem Gebäude in der Halben Stadt, einem Villenviertel am Rande der Innenstadt, residierte. „Ich bin fast den ganzen Oktober da festgehalten worden, war im Keller unten eingeschlossen.“
Vernehmer fragten nach der Rechtsauskunft, die er in West-Berlin eingeholt hatte, nach Verbindungen, die er habe, nach den Lebensumständen. Hemmerling war sich keiner Schuld bewußt, beantwortete alles nach bestem Wissen.
Ende Oktober transportierte man ihn nach Potsdam, ins „Lindenhotel“. Einzelhaft, weitere Verhöre, schließlich im Dezember 1953 auf der Grundlage der Kontrollratsdirektive 38 das Urteil des Militärtribunals, gegen das Einspruch nicht möglich war: 20 Jahre Arbeits- und Erziehungslager.
Anneliese Abraham (damals trug sie noch ihren Mädchennamen, Fricke) weiß heute, daß sie zu den ersten gehört hatte, gegen die die Verordnungen des alliierten Kontrollrats im Kalten Krieg angewandt wurden, obwohl sie doch eigentlich nicht gegen Sympathisanten der Amerikaner, sondern gegen Nazis erlassen worden waren.
Verteidiger gab es vor dem sowjetischen Militärtribunal nicht. Die Angeklagten wurden gefragt: „Bekennen Sie sich schuldig?“
Nur eine junge Frau, Brigitte G., wagte es, zu antworten: „Nein, ich habe mich durch Schläge beeinflussen lassen.“ Am Ausgang des Prozesses änderte sich daher nichts: Alle wurden zu 25 Jahren Strafarbeitslager verurteilt. „Brigitte G. wurde nach dem Prozeß aus der Zelle geholt, in der die Frauen auf den Abtransport warten mußten, und noch einmal vermöbelt.“
Nach dem Urteil waren sich Anneliese Fricke und ihre sieben Leidensgenossinnen in der „Transportzelle“ des „Lindenhotels“ sicher: „Jetzt geht‘s nach Osten.“ Doch der Transport ging zunächst in speziellen Zellenwagen der Reichsbahn nach Bautzen, wenige Tage später auf Viehwaggons der Bahn zum ehemaligen KZ Sachsenhausen bei Berlin.
„Ich kam nach der Verurteilung auf die sogenannte Tribunalzelle, wo ich erfuhr, daß ich mit 20 Jahren noch die geringste Strafe hatte. Andere in der Zelle waren zu 25 Jahren, einige sogar zum Tode verurteilt worden“, berichtet Erhard Hemmerling.
Ein sowjetischer Militärzug mit Gefängniswagen brachte Hemmerling bei Frankfurt (Oder) über die Ostgrenze, durch Polen, zunächst nach Brest-Litowsk, wo er einige Tage lang in einem Gefängnis untergebracht wurde.
Die nächste Station war Moskau, die Lubjanka, eins der Gefängnisse und zugleich die Zentrale des sowjetischen Geheimdienstes.
Nach zwei Tagen wurde er mit rund 50 anderen Häftlingen auf einen Viehwaggon getrieben. Gegen die Januarkälte gab es einen kleinen Ofen im Waggon „eine Art Gulaschkanone“. Die Reise ging nach Nordosten – Endstation Workuta, das Bergbau- und Stahlrevier, in dem Zehntausende Deportierte und Häftlinge aus dem sowjetischen Machtbereich, Politische und Kriminelle, arbeiten mußten. „In dem Lager, in das ich kam, gab es unter anderem Polen, Russen, Litauer, Letten Österreicher und viele Deutsche.“
1945/46 war die Deportation deutscher Verurteilter der Militärtribunale gang und gäbe gewesen. Gegen Ende der 40er Jahre wurde mehr und mehr differenziert zwischen schweren und weniger schweren Fällen. Nur die schweren mußten noch die Deportation in die Sowjetunion fürchten. In den 50er Jahren wurden solche Verurteilte deportiert, die eine besonders große „soziale Gefahr“ darstelltenxxi. Wie er dazu kam, als besonders gefährlich eingestuft zu werden, ist Hemmerling bis heute unerklärlich.
Nach einigen Wochen Quarantäne wurde Hemmerling zur Arbeit eingeteilt, erst in der Holzverarbeitung, die die Stempel zum Stützen der Steinkohlestollen herstellte, schließlich unter Tage.
Die Sicherheitsvorkehrungen waren jämmerlich. Unfälle waren an der Tagesordnung, und auch der mittlerweile 29jährige konnte eines Tages einer unkontrolliert rollenden Lore nicht ausweichen. „Die Lore rollte mir über den Fuß. Alles war gebrochen.“
Von einem polnischen Arzt, der selbst Häftling war, notdürftig zusammengeflickt, hielt man ihn einige Wochen nach dem Unfall für nicht mehr in der Lage, im Schacht zu arbeiten. „Ich wurde zum Außendienst oberhalb der Grube eingeteilt. Wir haben Granit gebrochen, um ein Hochplateau für den Bau eines Kraftwerks vorzubereiten“. Was an dieser Arbeit leichter für ihn gewesen sein soll als der Kohlebergbau, ahnt Hemmerling bis heute nicht: „Wir sind unglaublich geschindert worden.“
Zwölf Stunden täglich wurde pausenlos gearbeitet. Zu Essen gab es nur morgens und abends in den einfachen Baracken des Lagers, das kilometerweit von den Arbeitsplätzen der Häftlinge entfernt lag – 150 Mann pro Baracke, im Lager waren 4000, und es war ein Lager von vielen. „Die Verpflegung war ganz einseitig: Brotsuppe und trockener Fisch.“ Viele hätten nicht überlebt, sagt Hemmerling: „Man war zum Hungertod verurteilt, und wer nicht auf diesem Weg in den Himmel kam, kam durch Schikanen um.“
Schikanen waren die Politischen nicht allein durch die Wachmannschaften ausgesetzt: Das Regiment führten Kriminelle, die das Lager fest im Griff hatten. Sie organisierten die Verteilung von Nahrung und Feuerholz, wußten sich mittels Gewalt und mafioser Strukturen stets Vorteile zu beschaffen.
Einem Litauer, ein Krimineller, paßte es beim Steinebrechen nicht, daß sich Hemmerling die leichtere Schaufel gegriffen hatte. Der Mann schlug zu, als Hemmerling ihm die Schaufel nicht überließ. Hemmerling büßte alle Schneidezähne ein und konnte Schlimmerem entgehen, weil sich ein Freund auf den Litauer stürzte, der später nie wieder Ärger machte. „Das muß unter den Augen der Wachen passiert sein. Aber alles war mit Stacheldraht umzäunt, und eine Flucht wäre sowieso sinnlos gewesen. Um Workuta herum gab es nichts als menschenleere Weite. Die Aufmerksamkeit der Wachen ließ darum auch mal nach.“ Das Regiment der Kriminellen im Lager war ohnehin zwar nicht legal, „aber es lag doch im Interesse der Wachen.“
1950 wurde das Lager Sachsenhausen aufgelöst, der deutsche Strafvollzug übernahm die „Politischen“ von den Sowjets. Insgesamt 10.513 Menschenxxii. Anneliese Fricke kam ins Frauenzuchthaus Hoheneck: Eine von 1.300 nach verschiedenen Entlassungswellen im Knast gebliebenen Frauen. „Wir wären im ersten halben Jahr zu Fuß nach Sachsenhausen zurückgegangen. Wir waren in deutsche Hände gekommen und mit der Illusion da hingegangen, es könne ja nur besser werden.“
Doch sie bestätigt die Erinnerungen vieler ihrer Leidensgenossen: Die Deutschen waren schlimmer als die Sowjets, wenigstens in der ersten Zeit. „Hundertprozentige“ einerseits, die ihre „Pflicht“ besonders genau nahmen, andererseits „rohe Leute, die nun Gewalt auf 1.300 Frauen ausüben konnten.“ Im Lager Sachsenhausen hätten die Häftlinge zudem eine gewisse Bewegungsfreiheit gehabt und Zivilkleidung tragen können, in Hoheneck habe es nur die Zelle gegeben, Häftlingskleidung und noch schlechtere Verpflegung als in dem Lager bei Oranienburg: „Das erste halbe Jahr war das Schlimmste, dann glich es sich allmählich normalem Strafvollzug an.“
Das Gefühl, ungerechter Strafe und Willkür ausgesetzt zu sein, Zorn und Trauer über die verlorenen Jahre – all dies ertrugen die Häftlinge gemeinsam. Sie standen einander bei. Und alle zehrten von der Hoffnung, daß die pauschalen 25 Jahre nie und nimmer abgesessen werden müßten, wovon selbst sowjetische Wachen andeutungsweise aus Erfahrung gesprochen hatten.
Die mutigen Gnadengesuche und Briefe ihres Vaters Walter Fricke unter anderem an DDR-Justizministerin Hilde Benjamin, politische Parteien, den Berliner Rundfunk, ja sogar an Stalin, fruchteten indessen nichts.
1954 wurden im Rahmen einer ersten „Großamnestie“ Zehntausende entlassen. „Es gab kein System. 90 Prozent waren ,25jährige‘ wie ich. Aber die Sache endete, und ich war nicht dabei. Es war sehr, sehr schlimm, als alle weg waren. Es konnte ja Jahre dauern bis zum nächsten Mal!“
Doch plötzlich und völlig unerwartet kamen dann 1955 aus Hoheneck noch 35 „25jährige“ frei – eine davon Anneliese Fricke. Die mittlerweile 28jährige kehrte nach Frankfurt zu ihrer Familie zurück. „Da gehöre ich zu einer absoluten Minderheit, bestimmt 90 Prozent von uns sind in den Westen.“
Zum Bleiben gab es für sie einen Grund: die Familie. „Wir haben immer wieder diskutiert, ob wir gehen sollen. Für uns war klar: Alle oder keiner. 1961 war mit dem Mauerbau die Entscheidung gefallen.“
Für Erhard Hemmerling dämmerte im Frühjahr 1953 Hoffnung auf. Mit vielen Mithäftlingen wurde er in Personenwaggons nach Ostpreußen gebracht. Stalin war tot, Berija, der gefürchtete Geheimdienstler, gestürzt, so daß Tauwetter für „Politische“ angebrochen war. Doch die DDR weigerte sich, die Häftlinge wiederaufzunehmen. Im Lande gärte es. Versorgungsengpässe und die Erhöhung der Arbeitsnormen führten schließlich zum Aufstand vom 17. Juni, der mit Hilfe der Sowjetarmee erstickt wurde.
Walter Ulbricht holte zu einem Befreiungsschlag aus, der teils vermeintliche, teils ernstzunehmende Reformkräfte in Staat und Partei traf, unter den Prominenteren Rudolf Herrnstatt, Herr über die Parteipresse der SED, und – ausgerechnet – Stasiminister Zaisser, der seinen Dienst angeblich der Partei entfremdet hatte. Tausende einfacher Bürger verschwanden in den Gefängnissen: Als vom West-Berliner „Rundfunk im amerikanischen Sektor“ „gesteuerte“ Agenten, als Aufrührer, wegen staatsfeindlicher Hetze. Da möge man sich nicht auch noch mit den Deportierten abgeben, war die Position der DDR-Führung.
Das Lager in Ostpreußen wurde vergleichsweise human geführt. Die Hungerverpflegung hatte ein Ende, die ärztliche Versorgung war relativ gut. Doch da war die Ungewißheit: Alle hatten schon im Mai gedacht, es gehe nach Hause, und nun die Warterei. Im Dezember war es schließlich soweit: Hemmerling wurde nach Fürstenwalde gebracht, erhielt einen schlechtsitzenden Anzug, denn Zivilkleider besaß er nicht mehr, und 50 Mark. Keinen Entlassungsschein, gar nichts – als wäre alles nie gewesen.
Seine Frau, Vera Hemmerling, erinnert sich: „Ich arbeitete in Frankfurt auf dem Bahnhof, da hörte ich rufen: ,Hemmerling!‘. Ich wußte nicht, daß er ankommen würde. Ich ging ahnungslos hin. Und da stand er: Abgemagert, die Zähne eingeschlagen. Aber er war wieder da.“