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Gesegnete Weihnachten

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Auch diese Geschichte hat ihren eigenen Anfang in einem Ereignis, das auf den ersten Blick wenig spektakulär und ebenso wenig vielversprechend erscheint. Es ist ein Ereignis, das heute wohl geradezu aus der Mode gekommen zu sein scheint. Besucht man heute als Jugendlicher den Weihnachtsgottesdienst, dann wohl nur unter Zwang der Großeltern, deren Willen sich auch die Eltern zu fügen haben.

Was soll man denn auch im Weihnachtsgottesdienst? Jedes Jahr dieselbe Geschichte, die als Krippenspiel von demselben Pastor inszeniert wird, der das schon seit Jahren auf die gleiche Art und Weise tut. Während man als kleines Kind noch viel Spaß daran hatte, den kleinen Engel im weißen Gewand und den weißen Papp-Flügeln zu spielen, Weihnachtslieder zu singen und dem Christkind, das meistens durch eine kleine Baby-Puppe dargestellt wurde, mit den Lobgesängen zu preisen, erscheint einem Jugendlichen von heute dieser ganze Schnickschnack doch als recht albern und übertrieben.

Umso merkwürdiger ist es doch, dass es nicht bei allen so ist.

Einer war da, der jedes Jahr mit vor Begeisterung weit aufgerissenen Augen in der ersten Reihe, gleich hinter dem Chor, auf der alten knarrenden Kirchenbank hockte und die Psalmen aus dem Gebetsbuch ohne einen Blick hinein mitsprechen konnte. Noch merkwürdiger mag es erscheinen, dass dieses Verhalten keinen Zwang zur Grundlange hatte. Der Junge war allein im Gottesdienst. Keine Großmutter, deren peinlich genauer Blick von der Seite kontrollierte, ob ihr Enkel auch jedes Wort auswendig wusste; keine Mutter, die vorher gedroht hatte, das Taschengeld für den Januar zu streichen, wenn der Sohn die Oma verärgerte und kein Vater, der all dieses gar nicht erst zur Kenntnis nahm und stattdessen in Gedanken dabei war seine Zeit am Heiligen Abend so einzuplanen, dass er noch die letzten Weihnachtsgeschenke in der Stadt besorgen konnte. Von Geschwistern, die sich unter der Kirchenbank um das letzte Lebkuchenherz balgten, ganz zu schweigen. Der Junge war allein. Jeden Sonntag suchte er die evangelische Kirche der kleinen Stadt auf, bei zwei Gottesdiensten, wie an Weihnachten, auch zweimal, ohne jemanden, der ihn begleitete. Natürlich erscheint uns das komisch. Er selbst wusste auch nicht recht, was ihn denn so oft zur Kirche zog, er wusste nur, dass dies der Ort war, an dem er sich am glücklichsten fühlte. Wodurch das kam, wusste wohl nur der Himmel. Dieser Junge war ich.

Ich, Benvolio, war an diesem Weihnachten gerade siebzehn. Eigentlich genau in dem Alter, indem der Computer der beste Freund ist und die Schule einen nur noch ankotzt. Ich hatte keinen Computer und die Schule akzeptierte ich als etwas, das getan werden musste, so wie Wäsche waschen oder Staubsaugen. Sie störte mich nicht und anstrengen tat sie mich erst recht nicht. Was mich wirklich störte, war meine Pflegefamilie. Der Begriff Pflegefamilie war meiner Meinung nach in diesem Fall sowieso völlig fehl am Platze. Pflegen taten sie mich nun wirklich nicht. Eigentlich existierten sie sogar auf einer ganz anderen Ebene als ich, so dass sie mich natürlich unmöglich verstehen konnten. Ich war ihnen deshalb nicht böse, sie bemühten sich sicherlich, doch sie fanden keinen Zugang zu mir, so wenig, wie ich zu ihnen. Ich hatte mich nach außen verriegelt, so dass kein Fremdkörper eindringen konnte. Das war mein Schutz. Er schützte mich vor Unruhe und vor allem Modernen, das sich in mich einzuschleichen versuchte. Dieses Moderne hatte keinen Platz in meinem Leben. Ich war eben schon immer hoffnungslos altmodisch. Vielleicht hatte die Kirche es mir deshalb so sehr angetan. Das altertümliche Deutsch, in dem die Gebete verfasst waren, die Atmosphäre der alten Gemäuer und der kunstvoll geschnitzte Altar aus dem 18. Jahrhundert. Das alles faszinierte mich weit über den Gottesdienst hinaus. Doch warum das so war, wusste ich nicht. In der Schule wachte mein Geist zwischendurch einmal auf, meistens nur in der Latein- und in der Geschichtsstunde, manchmal aber auch sonst, sobald etwas für mich Interessantes angesprochen wurde. Aber trotzdem war ich froh, dass das Abitur vor der Tür stand und ich bald alles hinter mir hatte.

Ich besuchte damals das kleine Gymnasium in unserer Stadt, in dem es zwar viele Einsiedler und Sonderlinge gab, doch ich war besonders merkwürdig. So merkwürdig, dass beinahe alle anderen jeglichen Kontakt mit mir verweigerten. Nicht, dass mich das gestört hätte. Ich verweigerte schließlich auch jeglichen Kontakt mit ihnen, wir waren eben zu unterschiedlich. Meine selbst gewählte Einsamkeit gefiel mir, ich vermisste nichts. Nur eine richtige Familie.

Deshalb zählte ich zu den Außenseitern der Schule, die den Kontakt mit anderen Schülern scheuten und auch den Lehrern so gut es ging aus dem Weg gingen. Doch nun hatten die Weihnachtsferien gerade erst begonnen. Die Schule hatte also Pause, ich war meine größte Verpflichtung los. Zwei Wochen nur zusammen mit meinen Büchern. Quasi ein Paradies. Das hielt mich aber nicht davon ab, die Kirche zu besuchen.

Nachdem der Pfarrer das Vater Unser gesprochen und die Orgel ihr Spiel beendet hatte, war die Kirche so gut wie leer. Üblich ist es, dass die Gemeinde die Kirche während des Orgelnachspiels verlässt und dem Pfarrer folgt, welcher langsam den Gang zum Ausgang entlang schreitet. Ich war immer der Letzte. Im Gegensatz zu anderen meines Alters konnte ich es nicht kaum erwarten, dass der Gottesdienst endete und man endlich zur Bescherung übergehen konnte. Ich blieb sitzen und lauschte den bedrückenden Klängen der Orgel, welche von allen Seiten widerzuhallen schienen. Dieser Wall aus Tönen schloss mich ein und hielt mich fest, bis der letzte Ton verstummt und Stille eingekehrt war, Stille, wie man sie heute eigentlich nur noch in leeren Kirchen finden kann, nur unterbrochen von knisterndem Gebälk und der lautlosen Gegenwart Gottes, die ich besonders hier spürte. Ein wundervoller Ort, am liebsten wäre ich gleich dort geblieben.

Stattdessen wickelte ich mir den Schal um den Hals und verließ langsam die Kirche. An der Tür stand der Pastor, als hätte er auf mich gewartet. „Gesegnete Weihnachten“, sagte er und gab mir die Hand. Ich, schüchtern wir ich nun einmal bin und nicht sehr erfahren im Umgang mit Fremden, senkte die Augen unter dem gütigen und etwas verwunderten Blick des Pfarrers, erwiderte leise das Gesagte und rannte dann schnell davon, ohne den Kopf zu wenden und den mich verfolgenden Blick des erstaunten Pfarrers zu bemerken. Mir war schon aufgefallen, dass er mich in letzter Zeit beobachtete, wenn ich die Kirche aufsuchte. Wahrscheinlich war ich ihm suspekt. Oder er vermutete, dass ich plante, die Kirche auszurauben. Einen Jugendlichen mit einer wirklich engen Beziehung zu Gott in seinen Gottesdiensten zu haben, war er wohl nicht gewohnt. Naja, ich konnte ihm sein Interesse nicht recht übel nehmen, denn sicherlich suchte er noch Leute für seine Jugendgruppen, die sich in unserer Stadt nicht allzu großer Beliebtheit erfreuten. Natürlich hätte mich da nichts hinbewegen können. Hoffentlich fragte er mich nicht beim nächsten Mal.

Es schneite.

Die Stadt lag schlummernd wie unter einer großen Sahnehaube, das Dämmerlicht senkte alles in eine feierliche Atmosphäre ab. In den Fenstern sah ich beim eiligen Vorbeigehen strahlende Kinderaugen und glückliche Erwachsene, alle versammelt um den Weihnachtsbaum. Alles war so, wie Weihnachten sein sollte.

Schnaufend erreichte ich die Goethestraße, in der ich mit meiner Pflegefamilie wohnte. Das Haus sah so aus wie jedes andere, ein verputzter Backsteinbau mit roten Dachziegeln, in seiner Gesamtheit weder schön noch hässlich. Dieses Haus war ebenso unspektakulär wie seine Bewohner.

Die Familie Cordes bestand aus Bernhard, der Bankdirektor war und von super freundlich zu unausstehlich fies und aggressiv umschalten konnte, Madeleine, die seine Frau war und nebenbei in dem größten Kaufhaus der Stadt arbeitete, und Constanze, der Tochter der beiden, die ein Jahr älter war als ich. Alles, was noch zu der typischen Familie fehlte, war ein Hund. Wenn meine Beziehung zu Bernhard hauptsächlich auf Furcht basierte und ich mich mit Madeleine noch ganz gut verstand, dann endete meine Sympathie schlagartig bei Constanze. Sie bildete so ziemlich das Gegenteil zu mir. Ihre Interessen beschränkten sich auf Fernsehen gucken und Zeitschriften durchblättern, die nur aus Fotos und Fotounterschriften zu bestehen schienen. Mit der Schule war sie fertig und machte nun eine Ausbildung in einem Friseursalon. Ich machte, wann immer ich konnte, einen großen Bogen um sie, was sich nur abends als schwierig gestaltete, da unsere Zimmer direkt nebeneinander lagen und wir uns, leider Gottes, ein Bad teilen mussten, was selbstverständlich oft zu Reibereien führte, da sie mich ungefähr so verabscheute wie eine besonders penetrante Mücke und mich auch ungefähr so behandelte. Allerdings schlug sie nicht nach mir, aber mehr konnte ich nicht erwarten. Früher war das mit uns anders gewesen, doch spätestens seitdem sie damit angefangen hatte, sich zu schminken, herrschte Krieg mit seltenem Waffenstillstand.

Um ihr nicht zu begegnen, stand ich in der Regel um sechs Uhr auf und ging um zehn Uhr abends ins Bett, jeweils eine Stunde eher, als Constanze es zu tun pflegte. Auf diese Art und Weise hatte der Hausfrieden eine vage Chance gehalten zu werden.

Doch da dieses meine Geschichte ist, hat das Ereignis, das der Geschichte ihren Anfang gibt, natürlich in erster Linie etwas mit mir zu tun. So ist der Ausgangspunkt für unsere Geschichte, dass ich nach dem Nachmittagsgottesdienst am Heiligen Abend nicht nach Hause zurückkehrte. Während ich noch schnaufend vor der Eingangstür stand und in meiner Hosentasche nach dem Schlüssel suchte, fiel mein Blick durch das Wohnzimmerfenster der Familie, die mich beherbergte. Dort saßen sie zu dritt auf dem Sofa und sahen fern, wie es sich für eine gut bürgerliche, nicht allzu streng gläubige katholische Familie am Heiligen Abend kurz vor der Bescherung gehörte.

Ich fand den Schlüssel nicht. Deshalb führte ich meine Hand zur Klingel, doch kurz bevor mein Finger den Knopf berührte, hielt ich inne. Sie sahen so glücklich aus, alle drei. Zusammengequetscht auf dem Sofa, Schokolade krümelnd und gebannt auf den Fernseher starrend. Das war eine gewollte Einheit.

Mir ging auf, dass ich einfach nicht dazu gehörte, nicht dazu gehören konnte.

Kein Platz für mich.

Ich hätte wohl in dieser trauten Gemeinschaft nur gestört. Mit dieser Erkenntnis begannen alle meine Probleme, die sich in diesen Ferien und den Wochen danach entwickeln sollten.

Ich klingelte nicht.

Da haben wir das Ereignis, das den Anfang zu meiner Geschichte bildet. Dieser Augenblick verschaffte mir die längst überfällige Erkenntnis, dass mein Leben zu etwas anderem bestimmt war, an einem anderen Ort. Ich starrte noch eine Zeit lang durch das Fenster in die zufriedenen Gesichter, dann machte ich kehrt und lief den Weg zurück, den ich gekommen war. Sicherlich hatte ich den Schlüssel auf dem Weg nach Hause verloren, doch das spielte keine Rolle mehr. Ich gehörte nicht dazu. Ich gehörte nicht in diese Welt, in der die Familie an Weihnachten glücklich zusammensitzt. Das war nicht meine Geschichte, meine Geschichte spielte woanders. Wo? Das wusste ich allerdings noch nicht.

Die Straßen waren leer, eine weiße Pulverschicht hatte sich auf alles gelegt und die Welt in ein Wintermärchen verwandelt. Dort schlenderte ich durch die Fußgängerzone der Innenstadt. Sie war wie verzaubert. Die Leuchtreklamen der Läden warfen ein nahezu gespenstisches Licht auf meinen Weg. Die Geschäfte waren dunkel und still. Nichts regte sich. Nur der Schnee rieselte leise und unbeschwert zur Erde. Ich fühlte mich wie in einem Traum, der mich aus dieser Welt herauslöste und in eine neue steckte, die viel unwirklicher und träumerischer war. Ich suchte in meinen Taschen. Ein paar Scheine waren noch übrig geblieben vom Taschengeld der letzten Monate, doch was waren schon ein paar Euros in dieser Welt? Dafür konnte man nichts bekommen, davon konnte man nicht leben. Das Geld knisterte zwischen meinen Fingern und ich taumelte wie benommen durch den Schnee. Typisch für meine Traumwelt. In Büchern konnte passieren was wollte, es war alles möglich. Nur lebte ich nun einmal in keinem Buch.

Ich wachte auf. Willkommen in der Realität, sprach mein Verstand. Was hatte ich mir nur gedacht? Ich hatte gar keine Chance, diesem Leben auszuweichen und es zu meiden. Ich steckte darin fest. Der ganze Weihnachtstrubel musste mich verwirrt haben. In dieser Zeit der feierlichen Gottesdienste und der Ferien hatte ich mich von dieser Welt entfremdet. Hier war nichts möglich. Man konnte nicht einmal gehen, wohin man wollte und wann man wollte.

Ich hatte nun die Innenstadt verlassen und schlenderte durch die verschneiten Nebenstraßen, die nur durch einzelne Straßenlaternen etwas erhellt wurden. Inzwischen war der Himmel schwarz. Ich näherte mich dem Stadtrand, obwohl ich wusste, dass es unvernünftig war, was ich tat. Bald würde ich umkehren müssen, dieser Wendepunkt kam immer, früher oder später. Ich hatte schon ein bisschen Erfahrung mit dem Davonlaufen. Früher war ich auch schon regelmäßig aus diversen Kinderheimen geflohen, doch es war unmöglich, sich als Kind versteckt zu halten und irgendwie zu überleben. Nach ein paar Tagen hatte ich immer aufgeben müssen. Meistens hatte man mich irgendwo entdeckt und sofort in ein anderes Heim gesteckt. Das war wieder typisch. Anstatt sich mit einem Kind, das Probleme macht, besonders intensiv zu beschäftigen, schickte man es einfach weg und glaubte damit, die Sachlage entschärft zu haben. Das war falsch, denn dadurch wurde alles nur noch schlimmer

Und jetzt war auch noch Winter, das machte die Lage noch prekärer. Die Nächte waren kalt, der Wind fraß sich unbarmherzig durch alle Kleider. Ich wusste, dass ich einen Fehler machte. Ich wusste auch, dass ich wieder würde aufgeben müssen, wenn mein Geld zu Ende ging oder ich es vor Kälte nicht mehr aushielt. Ich überlegte einen Moment lang umzukehren, doch dann verwarf ich den Gedanken wieder, obwohl es eigentlich das Vernünftigste gewesen wäre. Was erwartete mich denn, wenn ich tatsächlich kehrtmachte? Eine Geschichte, in der ich nichts zu suchen hatte, in die ich nicht gehörte. Es war nicht die erste gewesen, aus der ich hinauskatapultiert worden war. Schon meine erste Geschichte hatte mich nicht haben wollen. Irgendetwas musste ich falsch machen, von Anfang an. Oder ich war einfach nur unter einem ungünstigen Stern geboren, der sich einen Spaß daraus machte, mich umher zu schubsen, wie es ihm gerade passte. Meine Eltern hatten mich als Fünfjährigen abgegeben, weil sie mich nicht wollten. Sie waren jung, sie hatten eigentlich kein Kind gewollt. Sie wollten wieder unabhängig sein, wie früher. Aber ich fand, es hätte ihnen auch ruhig etwas früher einfallen können. Jahre später hatten sie sich meiner entledigt und waren fortgezogen, wohin, wusste ich nicht. Vermutlich sehr weit weg. So weit, dass sie auf keinen Fall von ihrer missglückten Vergangenheit eingeholt werden konnten. Ich war vermutlich der dunkle Fleck in ihrem Leben, doch ich hätte viel dafür getan, in einer heilen Familie aufzuwachsen, bei Eltern, bei denen ich mich geborgen und zugehörig fühlen konnte. An meinem jetzigen Aufenthaltsort war ich ein Fremder. Aus solchen Kindern wurde nie etwas, dass hatte ich mehrmals gelesen. Denn wenn man schon in der Kindheit kein ordentliches Elternhaus hat, bleiben tiefe psychische Schäden. Die hatte ich gewiss auch.

Ich dachte an meine Eltern und versuchte mich zu erinnern, doch ich konnte es nicht. Meine Pflegemutter hatte mir einmal erzählt, warum sie mich abgegeben hatten und aus ihrem Mund hatte es nicht einmal schlimm geklungen, doch ich hatte immer gewusst, dass es schlimm war. Zumindest für mich war es das. Auch wenn ich es mit meiner Pflegefamilie natürlich hätte schlechter treffen können. Ich beschwerte mich ja nicht. Aber irgendetwas schrie laut in mir auf vor Ungerechtigkeit, die mir zweifelsohne widerfahren war. Eigentlich musste doch bald einmal etwas passieren, um diese Ungerechtigkeit auszugleichen. Ich musste doch auch einmal Glück haben.

Mein Verstand schob das Selbstmitleid zur Seite. Das konnte ich nicht mehr ertragen, nicht heute. Ich wusste, dass ich von vorne herein in der falschen Geschichte gewesen war und es nun an mir war, in meine Richtige hineinzufinden. Das war unmöglich, wenn ich mich in einem Zuhause versteckte, in das ich nicht gehörte. Doch es war ebenso unmöglich, indem ich einfach davonlief, ohne ein Ziel oder die Mittel dafür zu haben. Es war noch nicht der richtige Tag dafür, es war zu früh.

Ich verlangsamte meinen Schritt und blieb schließlich stehen, überdachte meine Entscheidung noch einen Moment und machte vor dem Ortsausgangsschild kehrt. Es machte keinen Sinn, mich in Träumen zu verlieren. Ohne einen Plan kam ich hier nicht weiter. Ich musste wieder zurück, und das möglichst schnell, damit es nicht so sehr auffiel. Sicherlich sorgte man sich bereits um mich. Ich eilte also die Straßen entlang, machte jedoch einen kurzen Umweg zur Kirche, denn ich hatte die leise Hoffnung, dass ich den Schlüssel vielleicht dort vergessen haben könnte. Ich hatte schon oft Sachen in der Kirche liegen lassen, also war es durchaus eine Möglichkeit, eigentlich auch meine einzige, um größerem Ärger aus dem Wege zu gehen, eben dort nachzusehen. Ich fürchtete mich sehr vor der Reaktion Bernhards. Seine Aggressivität machte mir nicht selten Angst.

Die Straßen waren wie ausgestorben, doch es bereitete mir Mühe, zu rennen, ohne in den Kurven auszurutschen, da der Boden unter dem Schnee gefroren war. Erleichtert stand ich schließlich vor der von außen angestrahlten Kirche und fühlte mich gleich etwas besser. Nun war ich überzeugt, dass der Schlüssel dort liegen musste, unter meiner Bank. Woher diese Überzeugung kam, wusste ich aber nicht.

Ich öffnete die quietschende Kirchentür. Sie war nicht verschlossen, vielleicht war noch der Küster in der Kirche. Rechts und links neben dem Altar ragten die großen Weihnachtsbäume in die Höhe, die feierlich geschmückt waren und Größe und Erhabenheit ausstrahlten. Das Innere der Kirche war nur noch durch Kerzenschein erhellt und vor dem Altar kniete eine Gestalt. Es musste wohl der Pastor sein. Erschreckt fuhr dieser herum, als er die Kirchentür hörte. In dem Moment, als er mich erkannte, lächelte er. „Hast du etwas vergessen?“ Ich nickte stumm, ging zu meiner alten knarrenden Bank und hob meinen Schlüssel auf. Der Pfarrer beobachtete mich, sagte jedoch nichts mehr. Der Schlüssel lag tatsächlich unter der Bank. Bevor ich ging, verabschiedete ich mich durch ein kurzes Nicken in Richtung des Pfarrers und verließ dann schnellen Schrittes die Kirche. Auch dieses Mal wandte ich nicht den Kopf, doch jetzt schaute der Pfarrer wohl auch nicht mehr so verwundert hinterher. Aber im Stillen fragte er sich sicherlich, was es wohl mit mir, diesem sonderbaren Jungen, auf sich hatte.

Ich erreichte mein Zuhause mit etwa zwei Stunden Verspätung. Also keine Chance, dass mein Zuspätkommen niemandem auffallen könnte. Als ich die Tür öffnete, schlug mir die erwartete Strafpredigt Bernhards (immerhin in weihnachtlicher Milde), Madeleines erleichterte Umarmung und Constanzes an Enttäuschung grenzende Gleichgültigkeit entgegen. Ich war eben wieder zu Hause, ein komisches Gefühl.

Ich ertrug all dieses ohne Murren, entschuldigte mich und dann schritt die Familie zur Bescherung. Es ist noch nicht an der Zeit, dachte ich mir. Ich muss noch etwas warten. Natürlich verlief die Bescherung wie bei anderen Familien auch. Begleitet von viel Gezeter und Streitereien, die so überhand nahmen, als hätten sie das ganze letzte Jahr darauf gewartet, gerade jetzt, am Tage der Geburt Christi, endlich loszubrechen und sich in ihrer ganzen Monstrosität zu entladen, wurden die Geschenke verteilt. Anschließend aßen wir Braten, den ich nicht anrührte. Irgendwie sah er für mich so aus, als hätte er vor kurzem noch gelebt, was wahrscheinlich auch der Fall war. Vielleicht hatte er sogar einen Namen gehabt. Ich konnte nichts essen, das einmal einen Namen gehabt hatte.

In dieser Nacht machte ich keine Sekunde die Augen zu, sondern las einen neuen Roman, den ich zu Weihnachten bekommen hatte. Vielleicht sieht meine Geschichte so aus, dachte ich dabei. Aber wahrscheinlich war sie doch ganz anders, denn keine Geschichte gleicht einer anderen. Der Protagonist in dem Roman erlebte Abenteuer, doch alles ging immer gut aus, wie gefährlich und aussichtslos die Lage auch sein mochte. Am liebsten hätte ich seine Identität angenommen, doch das Buch wollte mich nicht. Ich fand den Eingang nicht in diese Welt. In gewissem Sinne fühlte ich mich wie der Graf von Monte Christo, der sich durch Unmengen von Gestein wühlen musste, das ihn von der Welt trennte. Nur ein schmales Fenster zeigte ihm das wahre Leben, von dem man ihn ausgeschlossen hatte. Ich selbst verzog mich ganz automatisch in meine Fantasie und das Fenster zur Realität wurde immer kleiner. So kam es mir vor und es ängstigte mich. Ich wusste nichts über mich und konnte mich demzufolge auch nicht richtig verstehen. Wie sollte ich auch wissen, wieso ich war, wie ich war?

Die Weihnachtstage vergingen wie im Fluge. Ich hatte viel Zeit, darüber nachzudenken, wie ich das Problem angehen könnte. Leider kam ich nie zu einem eindeutigen Ergebnis.

Aber trotzdem war es genau die Zeit, die ich brauchte, um mich auf meine lange Reise vorzubereiten, die ich plante. Im Sommer könnte ich mich endlich auf die Suche nach meiner eigenen Geschichte machen, damit ich mich nicht mehr in fremden Geschichten verkriechen musste. Hier gehöre ich nicht her, dachte ich mir. Doch wohin gehöre ich?

*

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich sie, die Fliege. Sie schwirrte immer wieder um die Deckenlampe herum, ohne sich mal länger zu setzen. Dabei gab sie das typische, nervige von allen Fliegen verursachte Brummen von sich, doch ich hatte den Eindruck, dass das keiner außer mir selbst wahrnahm. Sie flog immer im Kreis, die ganze Zeit. Manchmal setzte sie sich kurz, wohl um zu verschnaufen, doch dann breitete sie wieder ihre kleinen dünnen Flügelchen aus und erhob ihren haarigen, hässlichen Insektenkörper in die Lüfte. Fliege müsste man sein.

Die Deckenlampe, die sie manchmal als Rastplatz nutzte, war sehr altmodisch und mit einem nicht minder hässlichen, etwas vergilbten braunen Stoff bezogen, auf dem kleine Blümchen abgebildet waren, die an ihrer Scheußlichkeit beinahe die Tapete übertrafen. Diese war gelb mit braunen Mustern darauf, wobei nicht mehr zu erkennen war, was die Muster einst dargestellt hatten, denn sie waren so stark verblichen, dass meine Augen zu brennen begannen, wenn ich lange darauf schaute wie auf ein unscharfes Photo. Ich konnte sie unmöglich geöffnet halten, also musste ich ununterbrochen Blinzeln, denn den Blick von der Tapete abwenden konnte ich nicht. Sie zog meinen Blick immer wieder magisch an, wie bei einem Kind, das mehrere Male helle Glühbirnen berührt, obwohl seine Erfahrung es lehrt, dass es sich die Finger verbrennt. Allerdings war es wohl nicht nur meine kindliche Naivität, die da von der Langeweile zu Tage befördert wurde, sondern vermutlich trug das schummerige Licht auch seinen Teil dazu bei, in dem man eigentlich nichts so richtig scharf sehen konnte, was sich nicht in unmittelbarer Reichweite des Lampenlichts befand, so wie das schwarze, schwirrende Insekt.

Vielleicht war es aber auch der Zigarrenrauch, der in meine Augen stach. Dieser bewegte sich langsam in beinahe unsichtbaren, aber deutlich riechbaren Schwaden immer direkt auf mich zu, als wenn er es gerade auf mich abgesehen hätte. Ich also mal wieder als das Opfer. Selbst eine so leblose und gänzlich gefühllose Substanz wie dieser Zigarrenrauch schien mir diese Rolle zugeteilt zu haben. Ich war beleidigt und drehte mein Gesicht in die andere Richtung. Möglicherweise half das ein wenig.

Onkel Viktor hatte die Gewohnheit vor dem Essen, beim Essen und nach dem Essen Zigarren zu rauchen, und dies ohne Pause, wie es mir erschien, also keine Chance auf ein fröhliches Entrinnen. Die anderen schien das nicht zu stören, sie hatten sich wohl daran gewöhnt. Aber ich konnte das nicht. Obwohl ich nun schon seit sieben Jahren im Hause Bernhards und Madeleines lebte, konnte ich die unverwüstliche Verwandtschaft nicht recht akzeptieren. Unverwüstlich deshalb, weil beispielsweise Onkel Viktor, trotz seines unbeschreiblichen Zigarrenkonsums, die achtzig schon seit einigen Jahren überschritten hatte. Ebenso seine Frau Martha, deren sechsundachtzigster Geburtstag heute, am 28. Dezember, gefeiert wurde. Diese Erfahrung ließ mich die Vorträge, die man uns in der Schule über die fürchterlichen Konsequenzen des Rauchens und des Alkoholtrinkens gehalten hatte, schlagartig vergessen, doch den Lehrern hatte ich sowieso nie richtig getraut. Trotzdem verwunderte es mich immens, dass der breite Klotz Onkel Viktor tatsächlich immer noch atmend neben mir saß und zwar gelegentlich hustete, aber ansonsten keine Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung zeigte.

Ich beobachtete, während ich in einem besonders unappetitlichen, fettigen und matschigen Stück Sahnetorte herumstocherte, die Fliege. Diese hatte es mittlerweile aufgegeben, um die Lampe herumzufliegen und surrte nun scheinbar nach Beute Ausschau haltend über den Tisch. Die Beute waren natürlich Kuchen und Sahnereste, vielleicht auch Kekse. Die Fliege schien sich nicht entscheiden zu können, auf welchen Teller sie sich stürzen sollte. Ich hatte neulich gelesen, dass Fliegen ihre Nahrung erst ansabbern, bevor sie sie mit ihrem kleinen Rüssel einsaugen. Ich starrte fasziniert die Fliege an und studierte ihr Verhalten genau, als sie sich auf einem dicken Klecks Sahne niederließ. Das Objekt meiner Beobachtung war allerdings so klein, dass ich aus dieser Entfernung leider nichts Interessantes erkennen konnte. Eigentlich war die Vorstellung einer auf Sahne sabbernden Fliege ja auch eher abstoßend. Ich schüttelte mich möglichst unauffällig, um meine verwirrten und verrückten Gedanken wieder an den richtigen Platz zu zwingen. Die schlechte Luft und die merkwürdige Gesellschaft taten offensichtlich ihre Wirkung.

Leider hatte ich wohl durch meinen verklärten und geistig umnachteten Gesichtsausruck die unerwünschte Aufmerksamkeit meines Sitznachbarn auf mich gezogen.

Onkel Viktor stieß mich von der Seite her an und schlug mir mit der flachen Hand väterlich auf den Rücken, so dass ich unwillkürlich zusammenzuckte und ein Stück nach vorne klappte. Gut, dass ich saß, so konnte ich nicht umkippen.

„Hast du keinen Hunger, mein Junge? Madeleine, ist er vielleicht krank?“

Madeleine schüttelte unsicher den Kopf, alle am Tisch wandten ihren Blick zu mir und musterten mich ganz genau. Am liebsten wäre ich unter den Tisch gekrochen und hätte gewartet, bis sie sich nicht mehr für mich interessierten. Man starrte mich erwartungsvoll an, als wäre die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ich im nächsten Moment irgendetwas besonders Krankheitstypisches machen würde. Da ich auf Kommando weder blau anlaufen noch zwanzig rote Pocken im Gesicht kriegen konnte, stopfte ich mir schnell ein extra großes Stück Torte in den Mund.

„Mir geht es gut“, sagte ich und erreichte somit, dass die allgemeine Aufmerksamkeit Stück für Stück wieder von mir abfiel. Ich begann die Fliege zu suchen, und entdeckte sie schließlich auf einem großen Kuchenkrümel sitzend. Manchmal wünschte ich mir, dass ich genauso unauffällig wäre wie eine Fliege. Doch da war leider nichts zu machen.

Die Fliege entpuppte sich auf Dauer als ziemlich langweiliges Untersuchungsobjekt, so dass ich mich gezwungen fühlte, mir etwas anderes vorzunehmen. Folglich ließ ich meinen Blick von einem zum anderen lebenden Wesen in dieser Sitzrunde schweifen, was aber auch nicht unbedingt aufregender war. Wir saßen zu siebt um den Kaffeetisch, um den wir am 2. Weihnachtstag auch schon genauso gesessen hatten. Wahrscheinlich war es sogar dieselbe Torte. Alle hatten ihre festen Plätze, auf denen unsichtbar ihr Name stand, und wehe dem, der sich einmal auf einen anderen als ihm angestammten Platz setzte. Nur die Fliege war noch nicht da gewesen, sonst hatte sich nichts verändert. Ich saß wie immer genau neben dem Weihnachtsbaum, an dem echte Kerzen brannten. Vermutlich handelte es sich bei diesem um den einzigen in dieser Zivilisation, der nicht mit elektrischem Licht versorgt wurde. Immer wieder warf ich ihm einen beunruhigten Blick zu. Er stand schon so schief, dass das Wachs von den kleinen roten Kerzen auf die unteren Zweige tropfte. Bald würde auf dem alten Teppich wohl eine große Wachslache entstehen, und dann würde das gemütliche Kaffeekränzchen in Geschrei und wüste Beschuldigungen ausarten und Tante Martha würde sich ins Bad einschließen und weinen, weil es der Teppich ihrer Mutter war; Onkel Viktor würde vor der Tür stehen und ihr gut zu reden, dass er ihr einen neuen Teppich kauft und so weiter. Dann wäre ich so unauffällig wie die Fliege, denn dann würde sich keiner für mich interessieren.

Leider tropfte das Wachs unglaublich langsam. Auf das konnte ich mich also nicht verlassen, jedenfalls nicht dieses Weihnachten.

Deshalb trank ich nun schon die vierte Tasse Tee, um einem Grund entgegenzuarbeiten, die fröhliche Festgemeinschaft für einen Augenblick zu verlassen. Aber auch die Wirkung des Tees ließ doch sehr zu wünschen übrig. Wahrscheinlich war ich mittlerweile resistent.

Während ich also noch hoffnungsvoll an der vierten Tasse nippte, war Onkel Viktor schon bei der fünften, nur dass er zu jeder Tasse ein Gläschen Schnaps trank. Ich war überzeugt, dass Onkel Viktors Existenz ein medizinisches Wunder darstellte, das es zweifelsohne mit einem Ernährungsplan, der sich auf Nikotin, hochprozentigen Alkohol und Fleisch beschränkte, bis zu hundert Jahren am Leben halten würde. Ich selbst lehnte selbstverständlich jeden Versuch Onkel Viktors, auch mich zu einem solchen Lebenswandel zu bekehren, bestimmt ab. Es reichte mir schon ein paar Mal im Jahr, nämlich bei allen Geburtstagen und Feiertagen im engen Familienkreise, unfreiwilliger Passivraucher zu sein. Ich wollte das Glück schließlich nicht unverschämt herausfordern. Wobei es sich selbst eigentlich schon ziemlich frech verhielt, indem es den Onkel ohne gesundheitliche Konsequenzen am Leben erhielt, aber mich mit unzähligen Allergien überhäufte, obwohl ich noch nicht einmal so viel Zeit gehabt hatte, meinem Körper ernsthaft zu schaden. Mein schlechtes Gewissen klopfte bei diesem Gedanken vorsichtig an das hintere Törchen meines Ichs und erinnerte mich dezent daran, dass dieser Gedanke ganz und gar nicht den christlichen Verhaltensregeln entsprach. Das grenzte ja schon an Neid. Eigentlich müsste ich mich über Onkel Viktors Glück freuen. Ich nickte ihm also freundlich lächelnd zu, als er das kleine Schnapsglas erneut zu den Lippen führte und er prostete mir im Sinne der guten Gemeinschaft zu. Doch mein Neid blieb und um ehrlich zu sein, muss ich zugeben, dass ich ihn genoss.

Nachdem der Kuchen verschlungen war und alle satt waren, ging es zum noch unangenehmeren Teil der Veranstaltung über. Nun wurden Gespräche geführt, an denen ich mich weder beteiligen konnte, noch beteiligen wollte. Ich unterstützte nur gelegentlich Onkel Viktors Streitpunkt durch ein halbwegs überzeugt wirkendes Kopfnicken oder ein zustimmendes Gebrumme, aber nur, damit niemand auf die Idee kam, mich zu meiner Meinung zu befragen. Angeführt wurde das Geschwader der unsinnigen Themen von Kritik an der Politik, Kritik an der Wirtschaft, Kritik an der Kirche, und, wenn alles andere schon ausgeschöpft war, Kritik an der Jugend. Hierbei wurde nach jedem zweiten Satz hervorgehoben, dass Constanze und ich natürlich über jegliche Kritik erhaben seien. Die Diskussionen blieben immer in etwa auf dem Niveau von regionalen Klatschblättern, was eventuell daran liegen könnte, dass beinahe alle Anwesenden sich auf die Lektüre dieser Zeitungen beschränkten. Hinzu kamen Vermutungen und selbst aufgestellte Statistiken, in denen rücksichtslos pauschalisiert wurde und das mit solcher Intensität, dass ich nicht wagte, ein „Aber“ auszusprechen. Doch da ich mich noch weniger als alle anderen mit diesen Themen beschäftigte und nur über ein relativ passables Grundwissen verfügte, weil mich die Schule damit täglich konfrontierte, hätte ich mich wohl sowieso nicht beteiligen können. Constanze pflegte bei diesem Teil der Veranstaltung nur schweigend dabei zu sein und sie setzte einen abweisenden Gesichtsausdruck auf, so dass sich niemand traute, sie in das Gespräch einzubinden. Ich nahm mir vor, mir endlich auch einen solchen Gesichtsausdruck anzueignen, um mich vor ungewünschten Übergriffen zu schützen. Mein großes Manko war, dass ich einfach nicht böse aussehen konnte. Müde ja und krank, vielleicht auch etwas genervt von Zeit zu Zeit, aber niemals böse oder abweisend. Mir wurde klar, dass ich daran etwas ändern musste.

Die Kritik an der Jugend war meistens das Thema, was Madeleine zum Aufbruch blasen ließ und wir Vier verabschiedeten uns, bedankten uns herzlich, verabschiedeten uns noch mal, und wenn wir das alles heil überstanden hatten, saßen wir endlich im Auto und winkten zurück. Da standen dann Onkel Viktor, Tante Martha und der ruhige, kleine, dicke Cousin Karl, der immer gern übersehen wurde, an der Straßenecke und schauten solange hinterher, bis das Auto um die nächste Ecke bog. Das war der Moment, in dem alle hörbar ausatmeten. Meistens waren alle ziemlich gereizt nach einer solchen Festivität und die Stimmung war auch jetzt wieder sehr geladen und wartete nur auf einen Auslöser zur endgültigen Explosion, doch sie blieb aus.

Diese Fahrt verlief ohne Streit zwischen Constanze und mir, ohne verzweifelte Schlichtungsversuche von Madeleine und ohne, dass Bernhard das Radio laut drehte, um den Streit zu übertönen. Es gab auch keine friedlichen Gespräche. Vermutlich lag es daran, dass alle die Ruhe genossen, die im Auto herrschte. Die wilden Diskussionen auf der Feier hatten dann doch allen den Rest gegeben, nachdem wir jeden Tag zu anderen Verwandten gefahren waren und Weihnachten gefeiert hatten. Irgendwann hatte man einfach genug Weihnachten gehabt. Da wollte man keine Tannenbäume mehr sehen, keine bunten Lichter in den Fenstern, keine kleinen Rentiere, die neben dicken Engeln auf der Fensterbank standen. Letzteres war sowieso ein Verrat an dem Fest, da die heidnische Vorstellung des nordischen Weihnachtsmannes mit seinen Rentieren auf die christliche mit Jesus und Bethlehem und den Engeln traf. Diese Mixtur hatte sich wohl schon so eingebürgert, dass sie niemand außer mir mehr hinterfragte. Für meinen Geschmack passte es so einfach nicht. Entweder das eine streichen oder das andere, aber beides war für mich zu viel. Ein gutes Beispiel für die dekadente Moderne.

Ich lehnte meinen Kopf an die Autofensterscheibe, lauschte dem Brummen des Motors und ging auf gedankliche Fehlersuche der Weihnachtstradition. Das verkürzte mir die Fahrt nach Hause immerhin etwas.

Zuhause angekommen stürmte ich sofort hoch in mein Zimmer und zählte das Geld, das ich zu Weihnachten bekommen hatte. Insgesamt brachte ich es auf etwa hundert Euro, was selbst zusammen mit meinen Ersparnissen noch lange nicht für die Verwirklichung eines Planes reichte, ganz egal, wie er lauten mochte. Ich hing hier also immer noch fest und kam nicht vom Fleck. Da musste ich mir noch etwas anderes überlegen. Mein Blick fiel auf die Gitarre, die in einer Zimmerecke neben dem Bücherregal stand. Ich hatte mal gehört, dass Straßenmusiker, wenn sie gut waren, eine Menge Geld verdienen konnten. Ein paar Akkorde greifen und dazu singen konnte ich wohl, doch ob das reichte? Musste man das vorher bei der Stadt anmelden und durfte ich das überhaupt, obwohl ich minderjährig war?

Ich verwünschte die Bürokratie, die mir wie schon oft meine Pläne vernichtete. Und wenn ich es ohne Erlaubnis täte? Wahrscheinlich war ich dazu wieder einmal zu feige. Lange starrte ich das Instrument an und dachte an die nasse Kälte. Ich stellte mir vor, wie ich mehrere Stunden in der Fußgängerzone vor mich hin vegetierte und drei Lieder in einer Endlosschleife spielte, bis man mich wegen öffentlicher Ruhestörung vertrieb. Bei dieser Vorstellung verwarf ich den Gedanken an diese Art Geld zu verdienen. Ich gab wieder einmal auf, typisch für mich.

Die Nacht verlief wie jede andere, in der ich mich unruhig herumwälzte und mir Fechtkämpfe mit vielen Banditen lieferte. Wieder einer dieser Mantel- und Degen- Träume. Ich suchte eben das Abenteuer, aber das lief immer vor mir weg und ich hatte nicht die Motivation dazu, es zu jagen und einzufangen.

Am nächsten Morgen sah die Welt für mich allerdings völlig anders aus. Mein Abenteuer suchender Geist wurde plötzlich zu einer anderen Gedankenführung gezwungen. Ich wurde von einem Moment zum anderen häuslich.

Es begann mit einem hohen, quietschenden Schrei, der mich in den frühen Morgenstunden weckte, und der sich danach in einen Ausruf der Verzückung und der Begeisterung wandelte. Erst ignorierte ich ihn, doch da er von draußen kam und ich das Fenster einen Spalt offen hatte, blieb mir keine Chance in meinen Traum zurückzukehren. Ich trennte mich also widerstrebend von meiner Wunschidentität und quälte mich aus dem warmen Bett.

Angelockt von dem Schrei stürzten alle Familienmitglieder nach unten zur weit geöffneten Haustür, auf deren Schwelle Madeleine stand und auf den Boden starrte. Als ich näher kam und den eisigen Luftschwall des winterlichen Frostes spürte, entdeckte auch ich den Korb, der vor der Tür stand. Auf den ersten Blick konnte ich von seinem Inhalt nicht viel erkennen, denn der Rand war sehr hoch und außerdem quoll er beinahe vor Decken über. Vorsichtig beugten wir uns alle über den Korb, dessen Inhalt, sobald wir ihn identifiziert hatten, bei jedem Familienmitglied eine andere Reaktion auslöste. Constanze, die mit ihrem verwischten Make-up und dem zerknautschten Nachthemd aussah wie ein Gespenst, wendete sich sofort wieder ab, um sich mit gelangweiltem Blick wieder in ihr Bett zu begeben. Bernhards Gesichtsausdruck wechselte von Begeisterung zu Unentschlossenheit und Madeleine stand immer noch da und starrte einfach nur, ohne ein Wort zu sagen. Nach einiger Zeit des Stillschweigens nahm ich schließlich den Korb an mich und trug ihn mit der Bemerkung, es sei schließlich kalt draußen, in die Küche. Offenbar war ich der einzige, dessen Gehirn einigermaßen wach war und arbeitete. Es soll vorkommen, dass bei manchen das Gehirn selten bis nie arbeitet und ich glaube, bei Constanze war das meistens der Fall.

In der Küche entfernte ich die oberste Deckenschicht und deckte somit drei kleine Kätzchen auf, die vorher nur zum Teil sichtbar gewesen waren. Meine Pflegeeltern waren mir in die Küche gefolgt. Ich muss erwähnen, dass ich kleine Tiere liebe, eigentlich Tiere generell, und dass ich die Kätzchen sofort ins Herz schloss. Meine beiden Optionen waren: mit Erlaubnis behalten oder verbotenerweise behalten.

Vorsichtig nahm ich nun die Kätzchen einzeln heraus, sie passten genau in eine Hand, und ich betrachtete sie lange, um zu sehen, ob sie gesund waren. Dabei gaben die Drei leises, klägliches Maunzen von sich, wie es sich für kleine Katzen gehört. Sie waren so niedlich, dass ich tatsächlich lächelte, was bei mir erstens nicht gerade sehr häufig vorkommt und zweitens schon gar nicht am frühen Morgen.

Madeleine sah Bernhard an und er nickte ihr genervt zu. „Ben“, sagte sie leise. „Wenn du sie behalten möchtest, dann ist das in Ordnung. Ich denke, unser Haus ist groß genug.“

Ich lächelte noch mehr. Tiere hatte ich immer besonders geliebt, mit ihnen kam ich auch meistens besser aus als mit Menschen. Besonders Katzen liebte ich, weil sie einen stark ausgebildeten Charakter und stets ihren eigenen Willen hatten. Ich wandte mich an meine Pflegeeltern und bedankte mich bei ihnen, indem ich sie einmal kurz umarmte. „Ich werde nachher mal einkaufen fahren. Mal sehen, was man für kleine Katzen alles braucht.“, murmelte Bernhard, überrascht von meiner Umarmung und verließ die Küche. Eigentlich war es nicht meine Art, so einen Akt der Dankbarkeit durch Umarmungen zu unterstreichen, da ich nicht viel von überflüssigen Sentimentalitäten hielt. Ich folgte Bernhard mit dem Korb und setzte mich im Wohnzimmer auf das Sofa. Die kleinen Kätzchen begannen schon in dem Korb herum zu klettern und als das erste herauspurzelte und neben mir aufs Sofa plumpste, nahm ich sie alle drei heraus und setzte sie auf meinen Schoß. Dort kuschelten sie sich in meinen Wollpullover und dösten vor sich hin, wodurch ich Zeit hatte, sie eingehend zu betrachten. Faszinierend fand ich besonders die großen blauen Babyaugen und die im Vergleich zum winzigen Kopf riesigen Fledermausohren. Meine Ferien waren also gerettet. Und meine Einsamkeit musste ich nun auch nicht mehr allein ertragen.

Auch wenn kleine Kätzchen schlafen, bewegen sie sich die ganze Zeit, geben unruhige Laute von sich und fahren ständig ihre Krallen aus und ein, als wenn sie sich im Schlaf im Kampf erproben würden. Ich musterte die Drei genau, um mir ihre Eigenheiten einzuprägen. Zwei waren braun und beige getigert, mit weißen Pfoten und eine hatte auch noch weiße Flecken an Schwanz und Kopf. Die andere war schwarz, bis auf eine weiße Schwanzspitze. Alle Drei waren sie unheimlich niedlich, so dass es mir sehr schwer fiel, den Blick überhaupt von ihnen abzuwenden, als Madeleine mit warmer Milch hereinkam. Die Katzen standen für die nächsten Stunden im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, wurden verhätschelt, verwöhnt und mit allerhand Spielzeug überhäuft. Zum Schlafen kamen sie gar nicht, obwohl sie wohl noch so klein waren, dass sie es nötig gehabt hätten.

Schon vor Mittag war Bernhard mit Babykatzenessen und zwei Katzentoiletten, sowie diversen Katzenspielsachen und mehreren Fressnäpfen aus der Stadt zurück gekommen, und zu dieser Zeit hatte ich den Kätzchen auch schon allen Namen gegeben.

Die getigerte hatte ich Felix genannt, der typische Katzenname, der mir aber zu dieser besonders gut zu passen schien. Zwar wusste ich noch nicht, welche der Tiere weiblich oder männlich waren, aber es gab ja zu fast jedem männlichen Namen eine weibliche Komponente. Das getigerte Kätzchen mit den weißen Flecken nannte ich Balthasar, da es besonders kräftig wirkte und Balthasar wie ein starker Name für eine Katze klang. Vielleicht spielte auch das Weihnachtsgefühl noch eine Rolle bei der Namensgebung, aber ich sträubte mich gegen die Namen Kaspar, Melchior und Balthasar, obwohl Madeleine darauf bestand und erst nach einigen Diskussionen davon abzubringen war.

Das schwarze Kätzchen war das kleinste, aber auch das verspielteste und dieses erhielt von mir den Namen Figaro. Begründen kann ich das nicht. Es passte einfach. Außerdem hörte ich damals sehr gern Opern, unter anderem auch Le Nozze Di Figaro von Mozart. Das erklärt vermutlich zumindest meine Assoziation.

Am Nachmittag stellte sich heraus, dass es sich bei dem getigerten Kätzchen um ein Mädchen handelte, jedenfalls behauptete das der Tierarzt. Es wurde also kurzerhand in Felicitas umbenannt, aber das schien es wenig zu stören.

Der Tierarzt war eine sehr merkwürdige Gestalt. Ich hatte alle Kätzchen in einem Korb und saß mit Bernhard im Wartezimmer in dessen Praxis. Da wimmelte es nur so von erkälteten Katzen, Hunden, die im Kampf ein halbes Ohr oder ein Auge verloren hatten, Kaninchen aller Arten und Größen und Meerschweinchen, die mir ziemlich normal erschienen und vielleicht nur ein bisschen Bauchweh hatten. Die Kätzchen interessierten sich für alle anderen Tiere und ich hatte alle Hände voll zu tun, da ich aufpassen musste, dass keines blitzschnell aus dem Korb verschwand, um den großen Hund unter dem Stuhl neben mir zu beschnuppern.

Der Tierarzt, ein älterer Herr mit tausend Tierhaaren auf seinem Kittel und einer dicken Hornbrille, die seine Augen derart vergrößerte, dass ich es mit der Angst bekam, bat uns nach einiger Zeit in den Behandlungsraum, wo ich den Korb auf den Tisch stellte. Ohne Bernhard und mich in irgendeiner Form zu begrüßen, grabschte er sich mit hartem, rücksichtslosem Griff eines der Kleinen heraus und starrte es fachmännisch an, als wäre es irgendein wertloses Ding. Es war Felicitas, die es als erstes erwischte. Zunächst wurden wir über ihr Geschlecht informiert und dann begann der Arzt mit einem langen, ausführlichen Vortrag über die unausbleiblichen Konsequenzen, wenn man kleine Kätzchen zu früh von ihrer Mutter trennte. Dabei beäugte er erst Bernhard und dann mich äußerst kritisch und seine Augen funkelten böse. Durch die Vergrößerung der Brillengläser wirkte dieses Funkeln noch eindrucksvoller. Als er geendet hatte, klärte ihn Bernhard darüber auf, wie wir die Kätzchen erhalten hatten, um ihm klar zu machen, dass wir nicht die Bösewichte in diesem Spiel waren, und der Tierarzt runzelte betrübt die Stirn, nahm sich ein Kätzchen nach dem anderen vor und untersuchte es genau, äußerte sich allerdings nicht dazu. Meine Kleinen aber schrien natürlich wie am Spieß und fingen erst an sich zu beruhigen, als wir das Zimmer verlassen hatten und ich draußen mit ihnen beim Auto wartete, während Bernhard bezahlte. Hauptsache sie waren gesund.

Ich hatte mir indessen mehrmals die Frage gestellt, woher die Kätzchen eigentlich kamen. Es war weder eine Karte noch ein Brief bei ihnen gewesen, der es erklärt hätte. Madeleine meinte, dass es so viele Katzen gäbe, dass gewiss jemand eine Möglichkeit gesucht hatte, seine loszuwerden.

Damit gab ich mich zunächst zufrieden. Schließlich war ich froh darüber, dass ich die Drei hatte, denn ein bisschen einsam hatte ich mich schon gefühlt. Aber die Frage beschäftigte mich doch immer wieder.

Fortan schliefen sie in meinem Zimmer. Mal lagen sie im Bett oder eingekuschelt in ein weiches Sofakissen, dann dösten sie auf dem Teppich oder im Kleiderschrank, aber sie waren unzertrennlich, denn ich traf nie eines allein an.

Über diese Aufregung hatte ich meinen Plan, die Familie zu verlassen und mein wirkliches Leben zu finden, zur Seite geschoben. Außerdem hatte ich jetzt Verantwortung für die drei Katzen, die mir immer überallhin im Haus folgten und mit denen ich den ganzen Tag spielte. Das war irgendwie eine völlig neue Art zu leben. Ich fragte mich nicht selten, wie ich es solange ohne Tiere hatte aushalten können. Wie ich schon sagte, ich wurde häuslich.

Nun rückte Silvester näher. Die Straßen waren immer noch mit einer puderigen Schneeschicht bedeckt, nur die Hauptstraßen waren frei, bis auf den grauen Schneematsch, der sich an ihren Rändern auftürmte. Diese hässliche Seite des Winters zeigte sich immer nur hier bei uns, davon war ich überzeugt. Auch der Schnee war nicht gerade toll. Zum Fahrrad fahren, ohne sich in den Kurven unfreiwillig und äußerst schmerzhaft hinzulegen, war es zu viel Schnee, und um einen Schneemann akzeptabler Größe zu bauen, war es definitiv wieder einmal zu wenig. Winter ade, dachte ich jedes Mal, wenn ich aus dem Fenster sah. Wer wusste denn schon, wie lange wir überhaupt noch Schnee haben würden?

Sylvester verbrachte ich immer auf die gleiche Art und Weise. Ich saß in meinem Zimmer und las oder schrieb etwas, doch um Mitternacht ging ich hinaus auf den Balkon und betrachtete den buntbesprenkelten Himmel, an dem immer neue Farben und Formen entstanden.

Meine Familie besuchte zu Sylvester immer Freunde in einer größeren Stadt, etwa zwei Autostunden entfernt. Dort blieben sie die ganze Nacht, um kamen meistens erst in der Mitte des nächsten Tages wieder.

Seit ich alt genug war, um allein zu bleiben, hatte ich mich geweigert mitzufahren und den Beginn des neuen Jahres mit Menschen zu feiern, die ich nicht mochte. Diese Familie mochte ich deshalb nicht, weil ich alle ihre Mitglieder unglaublich nervig fand. Sie hatten drei kleine Kinder und eines brülle lauter als das andere oder machte auf jede erdenkliche Weise Krach. Das älteste spielte ununterbrochen die zahlreichen Handyklingeltöne ab, da es ein neues Handy zu Weihnachten bekommen hatte (übrigens passierte das jedes Jahr). Das Mittlere schrie die ganze Zeit nach Süßigkeiten und quengelte so lange, bis die Mutter nachgab. Und das Jüngste, das noch so klein war, dass ich ihm nie zugetraut hätte, irgendetwas zu tun, terrorisierte alle anderen, weil es wie angestochen brüllte und nacheinander den ganzen Inhalt seines Bettchens auf den Fußboden warf, so dass der Vater gezwungen war, immer wieder aufzustehen und alles zurückzulegen. Denn wenn das Kind alles hinausgeworfen hatte, wurde das Brüllen noch lauter. Ich wunderte mich, dass die Eltern überhaupt noch Freunde hatten und nicht schon längst aus der Gesellschaft verbannt worden waren.

Anstatt mir diese Ohrenfolter anzutun, genoss ich lieber die ruhigen Stunden allein, bis die Uhr Zwölf schlug und verbrachte meine Zeit auf angenehme Art.

Da nun die Kätzchen da waren, war ich auch nicht länger ganz allein. Wir würden uns schon einen gemütlichen Abend machen.

Als die Familie winkend abgefahren und Constanze ohne ein Wort zu einer Party mit Freunden verschwunden war, die darin bestand sich sinnlos zu betrinken und anschließend durch die Stadt zu ziehen und Böller in Briefkästen zu stecken, machte ich mich mit meinen drei Gefährten im Wohnzimmer breit, wo wir uns behaglich einrichteten und alles bereitstellten, um einen schönen, gemütlichen Silvesterabend zu verbringen.

Die Kätzchen lagen auf und neben mir, so dass ich gar nicht recht zum Lesen meines Buches kam, weil kleine Katzen nie still liegen. Sie bewegten sich die ganze Zeit und lagen bald übereinander, untereinander, bissen einander in die Ohren und in die Schwänze und zupften ordentlich Flusen aus meinem Lieblingswollpullover.

Ein ruhiger Abend sollte es also nicht werden, soviel stand fest.

Wie es manchmal vorkam, schlief ich beim Lesen ein, was meistens durch den nicht vorhandenen Spannungsbogen des Buches zu erklären war. Dass es gerade am Silvesterabend geschah, war natürlich Pech für mich, denn ich schlief sicherlich eine Stunde vor zwölf ein und verschlief somit das ganze Spektakel um Mitternacht. Merkwürdig war nur, dass ich weder von der Knallerei erwachte, noch von den wild auf mir herumtollenden Kätzchen, die natürlich an keinen Nachtschlaf dachten.

Quasi als Entschädigung dafür, dass ich die Festivitäten für das neue Jahr versäumt hatte, träumte ich in diesen Stunden ziemlich wirr. Nach meinem Erwachen erinnerte ich mich an kaum etwas, und das, was mir in Erinnerung geblieben war, konnte ich zu nichts Sinnvollem zusammenfügen.

Es waren nur irgendwelche Bildfetzen, die sich, wie auf einer Drehscheibe, vor meinem geistigen Auge im Kreis drehten und mich damit fast wahnsinnig machten, weil ich eben diesen Kreislauf nicht abzuschalten wusste. Ob ich die Augen geöffnet oder geschlossen hielt, es war mir unmöglich, mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Es musste in den frühen Morgenstunden sein, in denen ich erwacht war, doch es dämmerte noch nicht zum Morgen. Der Schlaf hatte mich, anders als erwartet, eher ausgelaugt als gekräftigt, ich konnte mich nicht aufraffen, um aufzustehen und ins Bett zu gehen. So blieb ich also auf dem Sofa liegen mit zwei kleinen Kätzchen auf dem Bauch, die nun auch endlich Schlaf gefunden hatten. Das dritte hatte sich in die gegenüberliegende Sofaecke gekuschelt. Alle Drei schnurrten leise im Schlaf. Mein Kopf dröhnte und ich fühlte mich schlapp.

Matt streckte ich den Arm nach der Fernbedienung aus, um mir die Zeit mit sinnlosen Fernsehsendungen zu vertreiben und das Wirrwarr aus meinen Gedanken zu überspielen, doch leider lag sie gerade so weit entfernt auf dem Sofatisch, dass ich die Kätzchen hätte wecken müssen, um sie zu erreichen, und das war es mir nicht wert.

Die Bilder, die an mir vorbei schossen und mein geistiges Auge hypnotisierten, wurden schwächer, und ich konnte nicht mehr erkennen, was auf ihnen dargestellt war. Plötzlich brach der Bilderstrom ab, just in dem Moment, als ich begann, mich auf die Bilder zu konzentrieren, um den Zusammenhang zu rekonstruieren. Das war also der Trick.

Es war ganz so, als hätte jemand den Stecker herausgezogen oder den Saft abgedreht. Es dauerte nicht lange, da waren auch meine schwachen Erinnerungen an die Bilder fort, beinahe, als hätte sie jemand mit einem Klick von meiner Festplatte gelöscht. Wahrscheinlich war der Jemand ich selbst gewesen. Das Verdrängen unangenehmer Erinnerungen lag mir irgendwie.

Wie benommen starrte ich an die weiße Zimmerdecke und streichelte vorsichtig den Kopf des kleinen schwarzen Kätzchens, das von mir ja bereits den Namen Figaro erhalten hatte. Der winzige Kopf des Tieres schmiegte sich im Schlaf gegen meine Finger und es schien mir so, als ob es lächelte. Natürlich wusste ich, dass Katzenliebhaber dazu neigten, ihren Tieren allzu viele menschliche Eigenschaften zuzuordnen, doch trotzdem war ich überzeugt davon, dass zumindest die Mundwinkel Figaros leicht gezuckt hatten, was ich einfach mal als ein angedeutetes Lächeln und als Ausdruck tiefster Zufriedenheit interpretierte. Dazu kam noch das wohlige Schnurren des kleinen Kätzchens und schon hatte ich meinen merkwürdig tiefen und plötzlichen Schlaf vergessen und ebenso die Verwirrtheit, die mein Traum in mir ausgelöst hatte. Als hätte das Kätzchen mich verzaubert, einfach nur durch die kindliche Zuneigung, die es mir entgegen brachte. So eine Art der Liebe gab es unter Menschen nicht, davon war ich überzeugt.

Der Himmel draußen war noch pechschwarz und kein Stern zeigte sich an ihm. Dieses dunkle Tuch lag wie ein plissierter Schleier auf der Welt, die ich durch das Fenster erblickte. Ich war ein bisschen wütend. Allerdings hatte ich, wie ich mir bald selbst eingestehen musste, keinerlei Grund dazu. Zwar verbrachte ich den Silvesterabend allein, ohne die Familie, doch das tat ich auf meinen eigenen Wunsch hin, niemand hatte mich zu dieser Einsamkeit gezwungen. Leider neigte ich dazu, meinen Pflegeeltern immer die Schuld an Dingen zu geben, für die sie überhaupt nichts konnten und auf die sie auch gar keinen Einfluss hatten. Ich war mir dessen bewusst, sah mich allerdings außer Lage dieses abzustellen.

Dass meine richtigen Eltern mich nicht hatten haben wollen, das hatte in mir ein Liebesdefizit ausgelöst, das meine Pflegeeltern leider nicht beseitigen konnten, wahrscheinlich auch deshalb, weil ich es gar nicht erst zuließ. Diese Form von Selbstmitleid war bei mir so stark ausgeprägt, dass ich mich sogar selbst darüber ärgerte. Ich verbaute mir praktisch selbst den Weg zu einer Familie, der ich vertraute und die ich liebte. Folglich war ich wütend auf mich selbst. Doch trotz meiner Wut und allen Bemühungen wusste ich, dass es zwecklos war, zu versuchen, diese selbst errichtete Blockade zu brechen. Ich hatte sie in dem Moment aufgebaut, als ich dieses Haus das erste Mal betreten hatte. Damals hatte ich beschlossen, dass ich diese Familie niemals lieben könne, da sie nicht meine eigene war. Ich beschloss sogar, niemals einen Menschen zu lieben, weil ich einfach das Gefühl hatte, ich könnte niemandem mehr trauen, da mich selbst die Menschen verraten hatten, die im Leben eines Kindes die allergrößte Rolle spielen. Diese gestohlene Liebe hatte mir die Fähigkeit zu vertrauen geraubt. Mein Verstand wollte mich vor noch mehr Enttäuschungen bewahren, doch leider bewahrte er mich dadurch auch vor dem glücklichen Gefühl, eine Familie zu lieben. Dass diese Blockade gegen Liebe und Vertrauen ein fundamentaler Fehler gewesen war, stand außer Frage, doch unglücklicherweise war dieser Fehler nicht mehr zu beheben. Je länger die Blockade standhielt, desto mehr verfestigte sie sich. Doch in mancher Hinsicht war es vielleicht auch Glück. Madeleines Liebe mochte echt sein, doch da war sie die einzige in der Familie, die mich wirklich wollte. Bernhard kannte nur Constanze und hatte mich vom ersten Moment an gehasst. Ich konnte mir nur nicht erklären, weshalb das so war.

Ich schrak aus meinen Gedanken hoch, als ich das Geräusch des Haustürschlüssels hörte, der sich im Türschloss herumdrehte und bald darauf drang ausgelassenes Gelächter an mein Ohr. Einen Moment später stand Constanze in der Türöffnung und sah mich mit diesem Blick an, den sie immer aufsetzte, wenn ich sie störte und ihr im Weg war. Hinter ihr erschienen die Gesichter zweier ihrer Freundinnen und zweier Kerle, die mir gänzlich unbekannt erschienen. In ihren Händen hielten sie Bierflaschen und der Alkoholgeruch, den die Gruppe ausströmte, erfüllte den ganzen Raum.

„Möchtest du nicht ins Bett gehen, Ben?“ Constanzes direkte Aufforderung das Feld zu räumen, wurde von ihren Freunden mit breitem Grinsen aufgenommen. „Du kannst doch oben mit deinen Kätzchen weiterspielen!“ Das Grinsen wurde noch breiter. Ich warf einen Blick auf die drei Kleinen, die die Äuglein ein Stück geöffnet hatten und die Ohren in Richtung Tür gedreht hatten. Katzen entgeht nun einmal nichts, und besonders nicht, wenn sie an einem Ort unerwünscht sind. Immer das gleiche. Ich tat immer das, was Constanze wollte und machte mich gleichzeitig auch noch zum Gespött ihrer Freunde, was ich natürlich sowieso war, weil ich einige Jahre jünger war als sie und ohnehin merkwürdig. Ein Junge, der Bücher las und sich nicht jedes Wochenende in hochprozentigem Alkohol ersäufte, war für sie nur eine Abart Mensch, eine fremde Spezies die nur rein äußerlich über gewisse Ähnlichkeiten verfügte, doch die nicht zu verstehen war. Lange starrte ich Constanze an, um so etwas wie Freundlichkeit oder Akzeptanz in ihrem Blick zu erkennen, doch sie zeigte nicht mehr freundschaftliche Regungen für mich als für eine Stehlampe.

Ich sammelte die drei Kätzchen ein und verließ, begleitet von den widerlich gehässigen Blicken meiner so genannten Schwester und deren Kumpanen, das Wohnzimmer. Ich war es gewohnt, auf diese Art und Weise vertrieben zu werden und ich war nicht der Typ dafür, mich gegen so eine Behandlung aufzulehnen. Constanze war älter als ich und konnte tun und lassen, was sie wollte, damit musste ich eben leben. Meine Pflegeeltern sprachen gelegentlich ein ernstes Wort mit ihrer Tochter, darüber, dass sie immer alles für sich beanspruchte und keine Rücksicht auf mich nahm, doch diese Gespräche hätten ebenso gut nicht stattzufinden brauchen. Ändern tat sich sowieso nichts.

Erst auf der zweiten Treppenstufe fiel mir ein, dass ich mein Buch auf dem Fußboden vergessen haben musste. Es war wohl heruntergefallen, als ich eingeschlafen war. Ich verwarf den Gedanken, noch einmal zurück zu gehen und es zu holen, da ich die Gesellschaft dieser Clique, die sich wahrscheinlich schon im Wohnzimmer breit gemacht hatte, möglichst vermeiden wollte.

Aber ich wünschte mir, dass Constanze doch endlich einmal einen festen Freund bekommen solle, damit diese äußert nervigen Trinkgelage im Wohnzimmer, wenn Bernhard und Madeleine nicht da waren, endlich ein Ende hatten. Sicher hätte ich sie beenden können. Ein Wort von mir zu meinen Pflegeeltern und die Sache wäre erledigt gewesen, doch es war nicht meine Art, andere zu verpetzen. Natürlich störte es mich selbst, dass mir die Durchsetzungskraft und der Mut dazu fehlte, Constanze mal eins auszuwischen, doch meinen Charakter konnte ich nicht ändern. Stattdessen hatte ich gelernt, damit zu leben und mich nur innerlich aufzuregen, darauf hoffend, dass Constanze eines Tages erwischt würde. Was brachte es mir schon, wenn sie mir nicht nur gleichgültig, sondern auch noch feindlich gesonnen war? Außerdem war es mir egal, wie sie mich behandelte, bald war ich sie ohnehin los. Sobald sie Geld genug für eine eigene Wohnung verdiente, war sie weg vom Fenster und ich hatte meine Ruhe. Ein wundervoller Traum.

Als ich das dunkle Treppenhaus verlassen hatte und oben den Flur in Richtung meines Zimmers entlang ging, begann der Boden unter meinen Füßen leicht zu vibrieren. Constanze hatte unten die Stereo-Anlage aufgedreht und die Bässe auf die höchst mögliche Stufe gestellt. Das war an sich nichts Neues, doch es war immer wieder nervig. Aber schlafen hätte ich sowieso nicht gekonnt, denn ich war hellwach. Jedenfalls mein Geist. Mein Köper dagegen fühlte sich so schlaff an wie eine leere Hülle. Der Schlaf vorhin hatte wohl versäumt, mich zu erfrischen und zu kräftigen. Doch was konnte man von so einem Schlaf auch erwarten, der einem wirre Träume brachte?

Die Kätzchen protestierten, als ich sie in mein Bett legte, denn sie hatten es unten auf dem Sofa gemütlich gehabt und wollten dort auch gern weiterschlafen. Da ich mein Buch ja unten vergessen hatte, starrte ich eine Weile unschlüssig aus dem Fenster.

Der Morgen war dunkel, es zeichnete sich noch keine Morgenröte am Himmel ab. Wie spät mochte es sein? Ich wandte mich um zu meinem Bücherregal und überflog die Titel derer, die ich schon gelesen hatte. Doch im Augenblick verlangte es mich nach einer neuen Geschichte, deren Verlauf ich noch nicht kannte, und die mich erschrecken, erstaunen und erfreuen konnte. Der Roman, der unten im Wohnzimmer lag, erfüllte diese Kriterien leider nicht. Es war sicherlich ein gutes Buch, doch die Geschichte berührte mich nicht. Sie war so unpersönlich und widersprüchlich. Überhaupt wusste ich nicht so richtig, worauf die Geschichte eigentlich hinaus laufen sollte. Ich stellte fest, dass mich der Inhalt in keiner Form mehr reizte und ich nicht an dem Ende des Buches interessiert war. Das kam vor, war aber immer wieder etwas merkwürdig, weil ich mir sonst immer Gedanken um das machte, was ich gerade las, und die Geschichte nicht in dem Moment aus meinem Kopf verbannte, in dem ich das Buch zur Seite legte. Doch dieses Mal war genau das eingetreten. Das Buch war mir egal.

Ich warf einen Blick auf meine Kätzchen, die sich eng zusammengekuschelt hatten. Auch ich hätte gern geschlafen, aber mein Geist war zu wach und die Musik war zu laut. Ich beschloss, doch nach unten zu gehen und mein Buch zu holen. Es war nicht meine Art, ein Buch abzubrechen, auch wenn es mir nicht gefiel. Nur deshalb war es schließlich nicht schlecht. Außerdem wollte ich ihm noch eine letzte Chance geben, bevor ich es ungelesen in die Tiefen meines Schrankes verbannte. Es sollte noch die Möglichkeit haben zu beweisen, dass etwas Gutes in ihm steckte, so wie es auf seiner Rückseite behauptet wurde.

Während ich die Treppe hinunter schlich, was eigentlich völlig überflüssig war, da die Musik sowieso alles übertönte, hörte ich ein Klirren aus der Küche und aus dem Wohnzimmer drang lautes Gelächter. Ich setzte meinen Weg unbeirrt fort zum Wohnzimmer und warf einen Blick um die Ecke. Dort saß Constanze mit drei Freunden auf dem Sofa. Sie kicherten und lachten und schütteten immer mehr Alkohol in sich hinein. Es stank penetrant nach Bier und Parfum, eine für meinen Geschmack widerliche Mixtur. Leider konnte ich meine Nase nicht verschließen. Dort auf dem Boden vor dem Sofa, lag mein Buch. Ich hielt die Luft an. Constanze würde sicherlich böse, wenn ich sie störte. Vielleicht sollte ich lieber schnell nach oben zurückgehen. Meine Feigheit stand meiner Leselust gegenüber und fletschte die Zähne. Das konnte ja noch spannend werden. Vermutlich würde dieser Kampf in einem entschiedenen Unentschieden enden und in zehn Minuten würde ich immer noch hier stehen. Doch bevor die Feigheit zum Angriff übergehen konnte, wurde der Kampf abgeblasen.

Die Entscheidung, das Wohnzimmer zu betreten oder nicht, wurde mir abgenommen, denn jemand stieß mich von hinten einfach hinein. Ich schloss kurz die Augen, vergaß das Atmen wieder aufzunehmen und starrte auf den Boden. Natürlich half das kein bisschen.

Das Gelächter derer, die mein Wohnzimmer invadiert hatten, verstummte augenblicklich und Constanze drehte die Musik leiser. „Was willst du?“, fragte sie sofort und setzte diesen Blick auf, der signalisierte, ich solle verschwinden. Hinter mir stand einer ihrer Freunde, wohl der, der in der Küche gewesen war. „Ich wollte nur mein Buch holen. Dort auf dem Boden.“ Ich deutete auf es und machte einen Schritt vorwärts. „Nimm es dir!“, forderte sie mich auf und fügte hinzu, dann solle ich nach oben verschwinden und dort bleiben. Das war wieder einmal typisch. Als wenn ich ihr größter Feind wäre, so behandelte sie mich immer. Eigentlich hatte ich keine Lust mehr, dabei mitzuspielen und immer nur der Dumme zu sein.

Mein Blick viel auf die illustre Ansammlung verschiedener Alkoholsorten auf dem Wohnzimmertisch. Augenblicklich wünschte ich mir, ich wäre oben geblieben, doch nun war es zu spät. Ich hatte meine Schwester bei dem ertappt, was ihr eigentlich von unseren Eltern verboten worden war. Doch trotzdem fühlte ich mich ihr keinesfalls überlegen. Die inferiore Stellung war mir quasi auf den Leib geschrieben. Anstatt etwas zu sagen, griff ich nach meinem Buch, drehte mich herum und wollte gehen. Doch der Kerl hinter mir hielt mich auf. Er sah so aus, als würde er die eine Hälfte seines Tages im Sonnenstudio verbringen und die andere Hälfte in einem Fitness-Center. Und nachts ersäufte er vermutlich die wenigen seiner Gehirnzellen, die bis jetzt noch geschafft hatten zu überleben, in Bier. „Du sagst kein Wort!“, zischte er mir zu und stieß mich dann in Richtung Tür. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, etwas zu sagen. Trotz meiner Wut auf Constanze wäre es mir nie eingefallen, sie zu verraten. Das würde nur Unheil nach sich ziehen. Meine Pflegeeltern wären sehr traurig und enttäuscht, wenn sie von der üblen Trunklust ihrer Tochter erfahren hatten. Das wollte ich ihnen gern ersparen. Soviel Mensch war ich immerhin, dass mir zumindest ihr Glück am Herzen lag. Abgesehen davon hätte Bernhard seine Wut über Constanze nie im Leben an ihr selbst ausgelassen. Für diese Dinge hatte ich immer gerade stehen müssen, weil ich die ewige Rolle des Sündenbocks inne hatte. Selbstverständlich ungewollt.

Ich machte einen Umweg in die Küche und holte mir von dort eine Flasche Wasser. Dabei musste ich gehörig aufpassen, dass ich nicht in die Scherben trat, denn auf dem Boden lagen sehr viele davon in einer Bierlache. Seufzend sammelte ich die Scherben auf und warf sie in den Mülleimer. Meine Hände klebten von dem Bier und mir wurde übel. Wie konnte man sich das nur literweise hinein kippen? Vielleicht war ich auch völlig verweichlicht.

Nachdem ich auch das Bier aufgewischt und meine Hände intensiv mit drei verschiedenen Seifensorten gereinigt hatte, setzte ich meinen Weg nach oben fort. Ich musste schon wirklich verrückt sein, dass ich so ein Biest wie Constanze schützte. Ich sollte sie auflaufen lassen, sie und ihre dämlichen Freunde. Das würde ihnen recht geschehen. Leider war ich nicht der Typ für einen wohlorganisierten Racheakt. Ich war noch nicht einmal der Typ für einen planlosen, zum Scheitern verurteilten Racheakt. Mühsam stapfte ich die Treppe hinauf, das Buch in der einen, die Wasserflasche in der anderen Hand. Das dumpfe Klopfen aus dem Wohnzimmer verfolgte mich bis in mein Zimmer und beschallte mich von allen Seiten. So musste es sich anfühlten, wenn der Wahnsinn in einem aufstieg. Ich sprang an den Schreibtisch und brachte ein paar Zeilen guter, pessimistischer Dichtung zu Papier. Ich steckte meine ganze Wut und meine Verzweiflung in diese Verse und anschließend zerriss ich sie und warf sie in den Papierkorb. Ich fühlte mich besser, viel besser. Hätte ich alle Gedichte gesammelt, in denen ich mich schon auf künstlerische Art und Weise an Constanze gerächt hatte, wäre es jetzt sicherlich ein mindestens dreibändiges Werk der schauerlichsten Gruselliteratur. Nicht zumutbar für einen normalen Verstand, der einbahnfrei funktionierte. Ein Geniestreich.

Der erste Tag im neuen Jahr gehörte wie immer zu den sinnlosesten des ganzen restlichen Jahres. Eigentlich hätte man diesen Tag getrost aus dem Kalender streichen können. Die meisten verbrachten ihn im Bett oder vor ihrem Fernseher und dösten regelmäßig wieder ein.

Ich hatte schließlich doch Schlaf gefunden, als die ersten Sonnenstrahlen sich schon am Horizont zeigten, und hatte folglich fast den ganzen nächsten Tag verschlafen. Oder besser, ich hätte ihn sicherlich verschlafen, wenn die Kätzchen mich nicht gegen Mittag geweckt hätten. Ich fühlte mich alles andere als erholt, das schien ja in letzter Zeit zur Gewohnheit meines Schlafes zu werden, mich mehr zu schwächen als zu stärken. Ich fühlte mich von meinem Organismus verraten. Erst kroch ich aus dem Bett, um für die Kätzchen etwas zu essen zu besorgen, doch als ich endlich schwankend da stand und mir die Augen rieb, überfiel mich auf einmal ein fürchterlicher Kopfschmerz. Vor meinen Augen verschwamm das Zimmer zu einer klebrigen Masse nicht kontrollierbarer Bestandteile, die mir einmal ganz nah und dann wieder so weit weg erschienen, dass ich mich klein und hilflos fühlte, als hätte mich alles verlassen. Ich schloss die Augen und ließ mich nach hinten fallen, landete allerdings nicht auf dem Bett, wie ich gehofft hatte, sondern auf dem Teppich und hielt mir vor Schmerz den Kopf. Es war, als würden Stimmen mich zersprengen wollen, Stimmen, deren Sprache und Worte ich nicht verstand, die mich erschreckten und meine Ohren wegen der ungeheuren Lautstärke materten, als stände ich direkt neben einer Flugzeug Turbine. Dann prasselten Farben und Lichtblitze auf mich ein. Die einen brannten in meinen Augen, die anderen stachen hinein, als beständen sie aus unzähligen kleinen Nadeln, die nächsten schlugen mit solcher Wucht zu, dass sie mir fast die Besinnung raubten.

Mit einem Mal fühlte ich mich an der Schulter gepackt und geschüttelt. Ich wehrte mich, wollte die Augen öffnen, doch konnte es nicht, weil das Licht so grell war. Alles um mich herum war fremd, Furcht erregend fremd, ich hörte kein Geräusch, nur die Stimmen, die sich anhörten, wie eine unheimliche Musik, unmenschlich hoher und schiefer Töne, begleitet von einer unvorstellbaren Dissonanz. Eigentlich waren es keinen Stimmen sondern Laute. Ich konnte auch diesem Schwall nicht entkommen, ich war eingeschlossen und gefangen, konnte mich nicht losreißen, wurde festgehalten und herum geschoben. Ich hielt mir die Ohren zu, doch es wurde nur noch schlimmer, lauter, immer lauter.

Dann war alles schwarz und still. Mit einem Mal war alles fort, die Stimmen, die Musik, die Angst, einfach alles. Mit einem Mal lag ich im Bett unter meiner Decke und nahm die Hände von meinen Ohren, die ich mir immer noch zuhielt. Mein Körper war verkrampft und schwach, noch schwächer als vorher und ich fühlte mich wie ausgesaugt, mein Kopf war völlig leer. Und ich spürte Kälte in mir, als wäre ich von innen gefroren und würde nur langsam wieder auftauen. Als ich die Augen einen Spalt weit öffnete, sah ich Madeleines besorgtes Gesicht und ihre erschrockenen Augen. Sie saß neben mir auf der Bettkante, streckte eine Hand aus und streichelte meinen Kopf. „Wir dachten schon, wir hätten dich verloren.“, sagte sie leise, doch ich antwortete nicht. Meine Zunge war so schwer, dass ich kaum schlucken konnte und in meinem Kopf fand ich keine Worte. Ich hörte zwar, was Madeleine mir sagte, konnte es aber nicht verstehen, die Worte ergaben keinen Sinn. Ich wollte schlafen. Nicht nachdenken und auch nicht sprechen, ich wollte nur vergessen und schlafen, also schloss ich die Augen wieder. Ich wollte Ruhe.

Tatsächlich musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich die Augen das nächste Mal öffnete, war es draußen schon wieder dunkel. Nur meine Nachttischlampe brannte und spendete etwas Licht. Neben mir in meinem Schaukelstuhl saß Madeleine und schlief. Sie hatte wohl die ganze Zeit an meinem Bett gewacht, aus Angst, dass sich so etwas noch einmal wiederholen könnte.

Ich betrachtete sie. Sie sah erschöpft aus und unruhig, ihre blonden Haare, die mit vielen grauen Strähnen durchzogen waren, wirkten zerzaust und ungekämmt, ihr Gesicht war bleich und grau.

Ich sah mich suchend um, doch die Kätzchen waren nicht da. Bernhard hatte sie sicherlich nach unten gebracht, wo sie fressen und spielen konnten, ohne jemanden zu stören oder gestört zu werden. Ich richtete mich mühsam auf und griff nach der Wasserflasche auf meinem Nachttisch, die ich gestern Abend dort abgestellt hatte. Es kostete mich viel Kraft, sie zu öffnen, doch als sich der Deckel unter lautem Zischen drehte, öffnete Madeleine erschreckt die Augen. Als sie mich erblickte, schien sie allerdings erleichtert. „Ich bin wohl eingeschlafen.“, sagte sie, überflüssigerweise und lächelte, als wäre es ihr peinlich. Ich schwieg und nahm einen Schluck aus der Flasche. Das Wasser schmeckte säuerlich, als hätte es jemand mit Essig versetzt, doch ich trank es trotzdem, um meinen fürchterlichen Durst zu stillen und meinen trockenen Mund zu besänftigen. Was war das für ein Alptraum?

„Was war denn los mit dir?“, fragte Madeleine, als ich die Flasche wieder geschlossen und zurückgestellt hatte. Ich starrte sie nur an und bekam kein Wort heraus. Einerseits hätte ich mir gern all das von der Seele geredet, um es mit jemandem zu teilen, es belastete mich so sehr, doch andererseits wollte ich mich auf keinen Fall erinnern. So zog ich es vor zu schweigen und Madeleine schien das zu akzeptieren, auf jeden Fall fragte sie nicht mehr weiter nach. So ging der erste Tag im neuen Jahr also zu Ende, ohne dass ich irgendetwas von den anderen Geschichten mitbekommen oder erfahren hätte, denn auf einmal war ich mitten in meiner eigenen Geschichte, auf deren Suche ich mich hatte machen wollen, doch die nun scheinbar mich gefunden hatte, lange, bevor ich dazu bereit gewesen wäre. Welch Ironie, die sich hinter der Fassade des Schreckens verbarg, der mich heimsuchte. Ich hatte Angst davor, noch einmal etwas Vergleichbares zu erleben und ich hatte Angst vor den Folgen. Aber eigentlich hatte ich mir doch ein abenteuerliches Leben gewünscht. Ich hatte es mir jedoch völlig anders vorstellt und war nun durchaus bereit wieder auf dieses Neue zu verzichten. Doch leider war ich schon mitten darin.

Schlussakt

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