Читать книгу Schlussakt - Joana Goede - Страница 5

Kinobesuch

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Die Aufregung hatte sich bald gelegt. Nach den Feiertagen war ein Arzt gekommen und hatte mich von oben bis unten genau untersucht, allerdings nichts Ungewöhnliches festgestellt, außer, dass der junge Patient unter Stress litt. Das könne durch alles Mögliche verursacht worden sein, sagte er, doch wie das gerade in der Mitte der Ferien passieren konnte, war ihm schleierhaft. Zwar äußerte ich mich nicht dazu, ich war sowieso sehr viel ruhiger geworden, als vorher, aber im Stillen fragte ich mich das auch. Mein Geheimnis hatte ich mit niemandem geteilt und aus Angst, mich irgendwie zu verraten, zog ich es vor zu schweigen. Musste schließlich niemand wissen, dass ich im Stillen eine Flucht plante. Wäre dieser Fluchtplan nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt und mit zahlreichen Hindernissen gespickt gewesen, hätte ich mich mit Sicherheit wohler gefühlt.

Der Arzt vermutete, dass es sich um einen starken Migräne-Anfall handelte, der mir so zugesetzt hatte und er schrieb mir Tabletten auf, die ich beim nächsten Mal nehmen sollte. Das warf allerdings die Frage auf, wie ich in diesem Zustand der geistigen Umnachtung, in den mich die Migräne versetzt hatte, in der Lage sein sollte zu denken und das Gedachte in die Tat umzusetzen. Ich bezweifelte meine Kompetenzen, in genau diesem Moment eigenständig zu den Tabletten zu greifen und sie zu schlucken. Diese Zweifel behielt ich allerdings für mich, aber ich dachte mir meinen Teil. Dass das eine harmlose Migräne gewesen war, begleitet von starken Kreislaufproblemen und an sich nichts gefährliches, war mir klar, doch ich grübelte Tagelang vor mich hin, was sie denn verursacht haben könnte. Das war die Preisfrage. Leider verhielt es sich mit dieser Frage so ähnlich, wie mit dem seltsamen Traum in der Silvester-Nacht, denn ich konnte mich bald an nichts mehr erinnern, bis auf ein schreckliches Gefühl und die Angst. Die Angst vergaß ich nicht. Alles andere flutschte mir durch die Finger wie ein glitschiger Fisch, ungreifbar für mich. Da ich keine sehr durchsetzungsfreudige und selbstüberzeugte Natur war, gab ich schließlich auf und fügte mich meinem Schicksal, zurzeit mein größter Feind.

Das neue Jahr tat ein paar Sprünge nach vorne und Constanze behandelte mich in seinen ersten Tagen ganz besonders zuvorkommend, wohl aus Angst, sie habe etwas mit meinem merkwürdigen Verhalten zu tun, doch ich wusste, dass wenn sie etwas damit zu tun haben sollte, sie höchstens eine untergeordnete Rolle dabei spielte. Aber ich genoss es, dass sie mich zum ersten Mal so behandelte, wie es sich für eine besorgte Schwester gehörte.

Der Schnee draußen war geschmolzen und nur der graue, scheußliche Matsch am Straßenrand erinnerte noch an die Winterliche Pracht vergangener Tage. Ich verließ das Haus nicht, kein einziges Mal. Ich las auch nicht, oder spielte Gitarre, denn ich hatte alles Produktive und Kreative aufgebenden. Meistens saß ich einfach nur da und starrte vor mich hin, Gedanken nachhängend, die ich niemandem mitteilen wollte. Das schwarze Loch der Motivationslosigkeit hatte mich eingesogen und verschluckt. Jetzt war es mein Problem, es wieder zu verlassen. Doch im Augenblick fühlte ich mich dort eigentlich ganz wohl.

Madeleine schien das zu beunruhigen. Ständig brachte sie mir Erkältungstee und machte viele verschiedene Nudelgerichte, die ich sonst sicherlich sehr gern gemocht hätte, doch in diesen Tagen fehlte es mir an Appetit, so wie an allem anderen auch. Ich stocherte nur in meinem Essen herum, und den Erkältungstee würgte ich nur herunter, um meine Pflegemutter zu beruhigen. Natürlich war ich nicht erkältet und schon gar nicht krank. Bis auf die Schwäche und die Müdigkeit, die mich nicht loslassen wollte, fühlte ich mich gesund und schrieb meine Appetitlosigkeit meiner Verwirrtheit zu. Typisch menschlich, die eigene Schuld immer auf andere zu schieben. Ich hätte lieber einmal mich selbst nach der Ursache durchforsten sollen.

Am dritten Tage meiner Lethargie wurde ich gestört. Das kam mir sehr ungelegen, schließlich hatte ich mich so erfolgreich in meinen Panzer zurückgezogen, dass ich alles um mich herum einfach abgeschaltet und vergessen hatte. Madeleine trug Constanze auf, mit mir ins Kino zu gehen, um mich abzulenken. Danach, sagte sie, könnten wir machen, was wir wollten. Sie gab Constanze genug Geld, um zwei jungen Leuten damit einen angenehmen Abend zu bescheren. Aber ich hatte selbstverständlich keine Lust. Ich fühlte mich nicht danach, das Haus zu verlassen. Constanze sagte, ich sähe bleich und krank aus. Da widersprach ich ihr nicht, denn ich wusste, dass ich aussah, wie eine lebendige Leiche, und dazu kam noch, dass ich schon vier Tage dieselbe Kleidung trug. Das hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht im Mindesten gestört. Und jetzt zwang man mich auch noch dazu, meine ganze Gemütlichkeit abzulegen und mein geliebtes Loch zu verlassen. Eine Zumutung sondergleichen! Meine Privatsphäre wurde eindeutig unterdrückt.

Constanze tat das Schlimmste, was sie mit mir machen konnte und schleppte mich an diesem kalten, grauen Nachmittag an den Ort, den ich am meisten hasste, nämlich zum Kaufhaus.

So, wie ich jetzt aussähe, wollte sie mich auf keinen Fall mit ins Kino nehmen, sagte sie, da müsse sie sich ja schämen. Das war Ansichtssache. Sie war auch nicht gerade der Typ Frau, mit dem ich mich gern in der Öffentlichkeit zeigte. Nur gut, dass mir die Öffentlichkeit egal war. Im Grunde genommen war mir gerade sogar alles egal, sonst hätte ich mich niemals zum Mitgehen überreden lassen.

Constanze hatte kurz vor Weihnachten ihren Führerschein bestanden und hatte von ihrer Oma das alte Auto gekriegt, das selbst auf der Autobahn nicht mehr als 110 km/h schaffte. Seitdem fuhr sie selbst die kürzeste Strecke mit ihrem kleinen Auto, das noch nicht einmal ein Radio hatte. Es hatte sowieso fast nichts. Erstaunlich, dass es über ausgeleierte Anschnallgurte verfügte.

Widerstandslos zog ich meine Jacke an und wickelte mir meinen langen Schal viermal um den Hals. Ich warf einen zweifelnden Blick aus der Tür, wo es kalt und nass war und die Autos so vorbeirasten, als müssten sie die vergangenen freien Tage wieder aufholen.

Constanze fasste mich am Ärmel und zog mich nach draußen, wo mich die Kälte fast erschlug. Warum hörte ich nur auf meine Schwester, warum blieb ich nicht einfach zu Hause? Ich entwickelte so etwas wie einen eigenen Willen, allerdings in noch nicht sehr ausgeprägter Form. Aber ich fühlte mich nicht kräftig genug um zu argumentieren, das war mein derzeitiges Problem. Madeleine winkte aus dem Fenster, als ihre beiden Kinder sich in das hässliche kleine Auto zwängten und lostuckerten. Vermutlich wunderte sie sich nur darüber, warum Constanze sich auf einmal so um mich kümmerte, doch aus keinem von uns hatte sie auch nur ein Wort über die Silvester-Nacht erfahren, und das wunderte sie und machte sie misstrauisch. Ich beobachtete ihren zweifelnden Blick, den sie uns durchs Fenster zuwarf und da wusste ich, dass sie etwas ahnte.

Hinter ihr in einem Körbchen im Wohnzimmer, balgten sich meine Kätzchen. Sie waren die einzigen, mit denen ich noch sprach, als könnten nur sie mich verstehen. Madeleine seufzte und drehte dem Fenster und damit auch mir ihren Rücken zu. Irgendetwas lief hier falsch, doch niemand wollte ihr sagen, was. Am allerwenigsten ich.

Das Auto hatte keine Heizung. Das wurde mir schlagartig bewusst, als ich nach fünf Minuten immer noch entsetzlich fror. Constanze schien von der Kälte nichts zu merken, aber wer das ganze Jahr über mit bauchfreien Tops bekleidet war, verlor vermutlich jegliches Gefühl für Wärme und Kälte. Das Thermometer zeigte vier Grad. Es erschien mir wesentlich kälter und unangenehmer als letzte Woche, als der Schnee noch gelegen hatte.

Das Auto war von innen genauso hässlich wie von außen. Während es hellblau lackiert war, hatte jemand, dem alles Farbgefühl abhanden gekommen sein musste, die Sitze mit orangenem Stoff bezogen, der schon sehr verblichen und an vielen Stellen kaputt war. Da, wo einmal das Radio gewesen sein musste, ragten nur bunte Kabel aus einem schwarzen Loch. Immerhin war alles sauber. Abgesehen von seiner absoluten Hässlichkeit, war das Auto auch noch ohrenbetäubend laut, so laut, dass man hätte Schreien müssen, um sich zu unterhalten. Doch ich wollte mich natürlich nicht unterhalten. Stattdessen saß ich da, zitterte und wünschte mich zurück in mein Bett. Leider erfüllte mir niemand meinen Wunsch und so zog ich den Schal höher und konzentrierte mich auf die Fußgänger auf den Gehwegen. Die Straßen waren voll von ihnen und von Radfahrern und natürlich Autos. Wir befanden uns genau in der Zeit, in der die Haupt-Arbeitszeit des Tages vorbei war und alle nach Hause gingen. Wie gerne wäre ich mitgegangen, hätte mich neben die warme Heizung gesetzt und aus dem Fenster geschaut, die Stille und Wärme genießend. All das blieb mir verwehrt. Stattdessen tuckerte ich meinem Untergang entgegen, dem Kaufhaus.

Constanze bog auf den Parkplatz des größten Kaufhauses ein, das unsere kleine Stadt zu bieten hatte und ich verzog unwillkürlich das Gesicht, angewidert von dem Anblick der zahlreichen Werbeplakate und der Menschenmasse, die wohl alle unnütze Weihnachtsgeschenkte umtauschen wollten, oder ihr frisch verdientes Geld für irgendwelche sinnlosen Dinge herauszuwerfen wünschten.

Constanze parkte ein, alles andere als geschickt und sehr nah am Auto daneben, so dass ich über ihren Sitz klettern musste, um auszusteigen, weil meine Tür nicht aufging. Leider war es draußen noch kälter als im Auto, das wenigstens den eiskalten Wind abgehalten hatte, der mich nun so lange quälte, bis ich im Eingang des Kaufhauses stand. Dort war es warm. Beinahe hätte ich so etwas wie Sympathie für dieses Gebäude empfunden, doch dieses Gefühl verdrängte ich rasch, als ich die ersten Osterhasen sah, die mich mit traurigen Augen anblickten. Allerdings waren sie aus Schokolade, genauso wie die letzten Weihnachtsmänner, die direkt daneben standen und für die sich niemand mehr interessierte. Ich musterte sie traurig und schüttelte unmerklich den Kopf. Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu.

Constanze rauschte durch die ihr wohl bekannten Gänge und zog mich mit sich, eine Rolltreppe hinauf und noch eine und noch eine, bis wir in der Herrenabteilung standen und ich mit größtem Desinteresse die vielen Hosen und Pullover betrachtete, die meiner Meinung nach alle gleich aussahen und viel zu teuer waren. Ich fühlte mich wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen und an Land geworfen hatten, sprich: Ich war vollkommen hilflos und völlig fehl am Platze.

Meine Schwester schubste mich in eine Umkleidekabine und dort wartete ich. Umkleidekabinen waren mir bislang fremd und während ich mich unsicher umsah stellte ich auch fest, dass sie mir äußerst unsympathisch waren. Oben in einer Ecke lebte eine Spinne, die dort ihr Netz wohl schon seit langer Zeit immer mehr verfeinerte und ihr Endprodukt gerade zur Perfektion führte, als ich sie beobachtete. Der Teppich war übersät mit Flusen und Papierschnipseln (woher auch immer) und mir gegenüber erblickte ich eine magere Gestalt in einem Ganzkörperspiegel, die ich, hätte ich sie auf der Straße getroffen, gleich nach Hause ins Bett geschickt hätte. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit mir, sah aber so aus wie ich mich fühlte, denn ich fühlte mich richtig mies. Allerdings blieb mir nur so lange Zeit dazu, mich selbst zu bemitleiden und mein Dasein zu verfluchen, bis meine Schwester begann, mir ein Kleidungsstück nach dem anderen hineinzureichen, die ich alle nacheinander anprobierte und mit jedem die Kabine verließ, sie Constanze vorführte und dann zum nächsten überging. Diese Prozedur kam mir wie Stunden vor und schließlich stand ich da in einem weißen Hemd und einer schwarzen Jeans, beides so dünn, dass ich schon bei dem Gedanken daran, damit dieses Gebäude zu verlassen, beinahe eine Lungenentzündung davontrug. Das war mein Tod, soviel stand fest. Mir wurde übel.

Constanze betrachtete mich zufrieden und hängte die anderen Sachen zurück. „Aber das ist mir zu kalt.“, murmelte ich leise, nicht fähig zu einem erfolgreichen Protest, als sie mich zur Kasse schleppte und bezahlte. Ich sollte die Sachen gleich anbehalten, sagte sie.

Selten hatte ich mich so unwohl gefühlt wie jetzt. Ich sah so aus, als würde ich im nächsten Moment im teuersten Restaurant der Stadt die Speisekarte studieren und ich kam mir lächerlich vor, weil ich diese Kleidung für einen Siebzehn-jährigen für unangemessen hielt, und erst recht für einen Kinobesuch.

Ich ging einige Schritte zur Seite, als Constanze bezahlte, denn ich wollte gar nicht wissen, wie viel sie wohl für das bisschen Stoff ausgab. Da stand ich wieder vor einem Spiegel und fand mich auf einmal noch magerer und bleicher, ich sah wirklich krank aus, ich gehörte ins Bett. Ich glaubte nicht, auch nur noch einen Schritt gehen zu können. Die Augen der anderen Kaufhausbesucher schienen mich mitleidig zu verfolgen. Was für eine Misere. Und keine Chance auf ein Entrinnen.

Eigentlich hatte meine Schwester mich danach noch zum Friseur schleppen wollen, doch das ließ die Zeit nicht mehr zu, da in einer halben Stunde der Film im Kino beginnen sollte. Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass wir es bitte nicht mehr rechtzeitig schaffen sollten.

Dann wickelte ich mir meinen Schal nun fünfmal um den Hals und verließ mit meiner Schwester widerwillig das Kaufhaus, in dem ich wenigstens nicht gefroren hatte. Wir würden etwa eine Viertelstunde zum nächsten Kino brauchen. Hätte ich doch bloß eine Mütze mitgenommen.

Der Parkplatz vor dem Kaufhaus war nun fast wie ausgestorben, keine Rede mehr von Menschenmassen, die so viel Geld wie möglich ausgeben wollten. Die saßen nun alle zufrieden zu Hause vor ihrem Fernseher. Nur ich zitterte am ganzen Körper und verwünschte den Winter, während wir in das kleine Auto einstiegen und Constanze mit Vollgas losfuhr. Es war draußen so dunkel und so still, dass es mitten in der Nacht hätte sein können, dabei war es erst kurz nach halb acht an einem Mittwochabend.

Die Fahrt kam mir vor wie mehrere Stunden, auch wenn es nur einige Minuten waren. Ich starrte gedankenverloren aus dem Fenster und wünschte mich weit fort, in eine unbekannte Welt, in der es noch so etwas wie Abenteuer und Entdeckungen gab. In eine Welt, in der ich lange Reisen durch nicht erschlossene Landstriche unternehmen konnte, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Das war mein Traum, das war meine ganz eigene Utopie und das war gleichzeitig das, was mich an meiner gegenwärtigen Welt ununterbrochen störte. Man wusste einfach zu viel für meinen Geschmack. Es gab zu wenige Geheimnisse und zu viele Lösungen. Es war nicht mehr möglich, einfach etwas zu glauben ohne es zu beweisen oder etwas abzulehnen ohne das zu begründen.

Gott bildete für mich dabei die große Ausnahme. Denn ich war mir sicher, dass noch sehr viel Zeit vergehen würde, bis jemand einen stichhaltigen Beweis für oder wider die Existenz Gottes würde erbringen können. Ich wünschte mir, das nicht mehr miterleben zu müssen, denn dann, so glaubte ich, würde die Menschheit elendig zu Grunde gehen, da sie die Fähigkeit zu glauben verloren und sich allein dem Wissen verschrieben hätte. Und die Fähigkeit zu glauben erachtete ich als etwas sehr wichtiges, etwas, das für ein glückliches Leben unerlässlich wäre.

Ich spürte einmal mehr, dass irgendetwas in meinem Leben gehörig schief lief, auch, wenn ich es immer noch nicht genau benennen konnte. Es war eben dieses Gefühl der Unzugehörigkeit und des allgegenwärtigen Fremden, das mich erschreckte, abstieß und das mich von sich weg schob. Eine gewaltige, nicht überwindbare Antipathie zwischen meinem wirklichen Leben und meiner Traumexistenz, an deren beider Rand ich nur deshalb leben konnte, weil sie sich gegenseitig akzeptierten und tolerierten, aber fürchteten sich zu überlappen und deshalb stets einen gewissen Sicherheitsabstand einhielten, um der Gefahr möglichst aus dem Weg zu gehen. Ich stand praktisch auf Messers Schneide, jeder Schritt bedeutete Gefahr.

Als ich bei diesem Gedanken angekommen war, hatte ich zum ersten Mal den Eindruck, verflucht zu sein. Vielleicht nicht verflucht im ursprünglichen Sinne, denn an Zauberei verlor ich keinen Gedanken, sondern eher daran, verdammt viel Pech zu haben, mehr als ein normaler Mensch. Das erschien mir plausibel, denn ich war in einer Situation, in der beides falsch war, zwischen dem ich mich entscheiden musste.

Einerseits konnte ich bei der Familie bleiben, bei der ich es relativ gut hatte und bei der zumindest mein Überleben gesichert war, war dann aber gezwungen, ein mir fremdes Leben zu leben. Oder andererseits, nahm ich in Kauf, sie zu verlieren und machte mich stattdessen auf die Suche nach meinem wahren Leben und meiner wirklichen Existenz. Es war die denkbar schwierigste Situation, in der man sich befinden konnte, denn ich musste zwischen zwei Fehlern wählen. Auf der einen Seite lauerte Scylla, auf der anderen Charybdis, und beide beobachteten mich mit gierigen Augen, nur darauf wartend, dass ich einen Fehler begehen würde, damit sie leichtes Spiel hatten, mich zu verschlingen.

Unglücklicherweise war ich kein weiser Odysseus, der auf alles eine Antwort wusste. Ich wusste nur, dass, wenn ich den schwierigen Weg wählen, also mein Zuhause verlassen würde, ich vermutlich genauso lange auf unkontrollierbaren Irrfahrten umher segeln würde, wie mein großes griechisches Vorbild. Allerdings wohl mit weniger Erfolg und ohne festes Ziel, denn mein Ithaka kannte ich noch nicht.

Ich seufzte bedrückt und ließ den Kopf in meine Hände sinken. Das Motorengeräusch war mir jetzt nur angenehm in den Ohren, da es mir eine Art Schutzwall bot. Ich hatte eine Grenze erreicht, an der ich nicht mehr weiter wusste. Beide Richtungen schienen ins Nichts zu führen und eine schien undurchschaubarer zu sein, als die andere. Das Ziel war ohnehin kaum mehr als ein grober Umriss, von dem ich zwar nicht genau sagen konnte, was er war, der mich aber magisch anzog und mich mit einem Gefühl lockte, dass mir bislang praktisch völlig fremd war, nämlich dem Gefühl der Geborgenheit und der Zugehörigkeit. Prachtvolle Lockvögel.

Das war also das Ergebnis der letzten Tage und unzähliger Stunden des verzweifelten Nachgrübelns über meine Zukunft. Denn in wenigen Monaten war auch mein einziger Leitfaden, die Schule, dahin, denn dann hatte ich mein Abitur(oder auch nicht, wer wusste das schon?). Dann wäre es an der Zeit, endlich zu entscheiden.

Ich lehnte meinen Kopf gegen das Fenster und schloss die Augen. Wahrscheinlich gab es kein Richtig und kein Falsch. Wahrscheinlich war sogar alles eine große Lüge, auf die ich hineingefallen war, und wohl auch viele andere. Ich musste also überlegen, ob ich stark genug war, um mich dagegen zu wehren, oder ob ich still leiden und es als mein Schicksal annehmen würde.

In diesem Moment verschwand das Motorengeräusch und es wurde unheimlich ruhig. Ich wurde unsanft angeschubst und genervt riss ich die Augen auf. Es gab Menschen, die ein unleugbares Talent dafür besaßen, einen anderen immer im ungünstigsten aller Momente zu unterbrechen. Gerade jetzt war ich davon überzeugt, dass Constanze genau zu dieser Sorte Mensch gehörte und ich musste mich trotz meines gefassten Gemüts und meiner körperlichen Schwäche stark zusammenreißen, um sie nicht böse anzufahren und es stattdessen mit einem resignierenden Gesichtsausdruck zu ertragen. Aber irgendwann musste sicherlich auch mir der Geduldsfaden endgültig reißen.

Ich quälte mich aus dem Auto, fühlte mich schwach und eingefroren und blickte zu dem großen, eckigen Gebäude mit der übertrieben bunten Leuchtschrift auf, die verkündete, dass es sich bei diesem außergewöhnlich scheußlichen Klotz um ein sehr modernes Kino handelte, was der Betrachter sich auch unschwer aus der unüberblickbaren Vielzahl an Film-Plakaten hätte erschließen können, doch selbst dieser Schritt wurde ihm abgenommen. Der Zweck dieses Gebäudes war sicherlich meilenweit nicht zu übersehen.

Ich fühlte mich auf einen Schlag noch unwohler und es widerstrebte mir mich in dieses Gebäude hineinzubewegen und mich irgendeinem fiktionalen Ereignis, das nach allen Regeln der Kunst unglaublich spannend und nervenkitzelnd arrangiert war, als normaler Konsument hinzugeben. Abgesehen davon war ich mir schon, bevor ich alle Plakate eingehend studiert hatte, zweifelsfrei sicher, dass ich mich für nicht eine der beschränkten Thematiken interessieren würde, die hier angeboten wurden. Selbst Historien-Filme standen in dem Ruf, mehr Unterhaltungswert als Informationswert zu besitzen, und dass sie nicht nur zu wenig historische Begebenheiten darstellten, sondern diese wenigen, die es dann doch in die Unterhaltungs-Branche schafften, auch noch völlig verfälscht und zum Teil schlicht und einfach historisch falsch wiedergaben.

Das spiegelte selbstverständlich nicht die allgemeine Meinung wieder, aber zumindest meine, als ich mit zweifelndem Blick einige dieser Neuerscheinungen begutachtete und sie alle nacheinander verwarf, während sich Constanze mit leuchtenden Augen die Nase an der Scheibe vor den Action - und Horrorfilmen platt drückte, bei deren Anblick mir bereits die Haare zu Berge standen. Leider konnte ich ihr keine überzeugende Alternative bieten und so fand ich mich schließlich im Inneren des Kinos wieder mit einer Tüte Popcorn in der linken und einer Karte für den neusten und blutigsten Horrorfilm in der rechten Hand wieder, welcher eigentlich erst ab achtzehn war, den ich also eigentlich gar nicht hätte besuchen dürfen, was mich noch mehr abschreckte. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal im Kino gewesen war, vielleicht noch nie, vielleicht als kleines Kind, ich wusste es nicht. Wie so viele Erinnerungen aus den vergangenen Jahren war auch diese, sofern eine da gewesen war, einfach verschwunden. So als hätte jemand meine Geschichte umgeschrieben und unwichtige Ereignisse gelöscht um Platz für kommende, wichtigere zu schaffen. Nur dass dieser jemand mich nicht vorher um Erlaubnis gebeten hatte.

Erschöpft von der langwierigen Eskapade des Einkaufens, wankte ich hinter Constanze die Treppe zu den Vorführräumen hinauf. Die Schwäche in meinem Körper übermannte mich fast. Meine Hand mit der Popcorntüte zitterte. Die rechte Hand formte ich zu einer Faust und als ich die oberste Treppenstufe erreicht hatte, blieb ich kurz stehen, schloss die Augen und holte tief Luft.

Plötzlich schrak ich zusammen, als mich der Kartenkontrolleur von rechts anstieß und nach der Eintrittskarte verlangte. Ich schwankte einen halben Schritt zur Seite, währenddessen ich die Faust öffnete, wo ich die zerknitterte Karte fand. Der Kontrolleur verdrehte die Augen, nahm die Karte aber trotzdem entgegen und riss eine Ecke ab. Danach stieß er mich zur Seite um eine Gruppe kichernder Teenager mit einem breiten Lächeln zu empfangen. Ich taumelte ziellos weiter, bis ich in dem überschaubaren Gewühl meine Schwester ausmachte, die gelangweilt an der Wand lehnte und nach mir Ausschau hielt. Als sie mich sah, zog sie eine Augenbraue hoch und nahm mich zur Seite. „Du siehst total krank aus“, sagte sie, allerdings ohne mich beleidigen zu wollen. „Ist dir nicht gut?“

Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte. Schließlich war ich mir selbst nicht sicher, ob es mir nun wirklich schlecht ging, oder ob ich vielleicht einfach nur Angst vor dem Film hatte. „Ich weiß nicht“, nuschelte ich und wendete mich dann ab, mich nach einer Toilette umblickend, die ich schließlich hinter einer langen Schlange von Kinobesuchern entdeckte. Keine Chance für mich, mir noch schnell etwas Wasser ins Gesicht zu klatschen, denn in diesem Moment wurden schon die Türen zu unserem Saal geöffnet, zu dem ich von Constanze gezerrt und zu unseren Plätzen gelotst wurde. Ich hätte nicht einmal gewusst, in welchen Raum ich musste, geschweige denn, welchen Platz ich besetzen durfte, denn ich hatte bis jetzt noch keinen Blick auf meine Karte geworfen. Es wurde mir auch schlagartig bewusst, dass ich auch nicht wusste, wie der Film hieß, vielleicht hatte ich es vergessen. Oder ich hatte wirklich gar keine Ahnung. Immerhin kannte ich das Genre und konnte mich auf Angst und Schrecken einstellen.

Constanze hatte schon die halbe Tüte Popcorn geleert, bevor überhaupt die Werbung anfing. Das war übrigens das nächste Indiz, das dafür sprach, dass ich noch kein Kino von innen gesehen hatte. Ich dachte nämlich, dass es, sobald das Licht gelöscht würde, sofort mit dem Hauptfilm losginge, was aber nicht stimmte. Die halbe Stunde voll Werbespots für alles und jeden und haufenweise Filme, die ich fürchterlich fand, stempelte ich sofort als überflüssig ab und so nutzte ich die Zeit, doch noch die Toilette aufzusuchen.

Der Saal war nicht einmal halb voll, wohl deswegen, weil einige Filme parallel liefen und es an einem Mittwochabend nicht allzu viele ins Kino zog (wie mir Constanze erklärte). Trotzdem bereitete es mir gewisse Schwierigkeiten, mich bis zum Ausgang durchzukämpfen, da meine Reihe fast bis auf den letzten Platz besetzt war. Mir wurde von den ständig wechselnden, riesigen Bildern sehr schnell schummerig, obwohl sich mein Zustand während des Sitzens ein bisschen gebessert hatte. Jetzt erhielt ich auf jeden Fall einen Rückschlag, was mich völlig aus der Bahn warf, allerdings erst, nachdem ich durch die Tür nach draußen gewankt war und mich das grelle Licht der Deckenleuchten vollends schikanierte. Mich an der Wand entlang tastend, suchte ich meinen Weg zur Toilette, die nun verlassen dalag. Ich musste mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür werfen, um sie zu öffnen, denn sie erschien mir schwer wie ein riesiger Stein.

Als erstes stützte ich mich auf das Waschbecken und holte tief Luft, die Augen geschlossen haltend, um Kraft zu sammeln. Ich ging tief in mich und suchte nach Reserven, da ich fürchtete, den Weg sonst nicht mehr zurück zu schaffen und hier nach zwei Stunden von einer völlig verstörten Constanze aufgefunden zu werden, was mir sicherlich viel mehr Aufmerksamkeit eingebracht hätte, als ich an diesem Abend gebrauchen konnte. Leider fand ich keine Kraftreserven mehr in mir, die ich hätte herausholen und zur Verarbeitung frei geben können. Als ich die Augen öffnete, erkannte ich mich nicht mehr wieder. Ich starrte mir selbst ungläubig aus geröteten, geschwollenen Augen entgegen. Mein Gesicht war bleich und fahl, meine Lippen blutleer und farblos. Hätte ich mich in einen Kanal gelegt, die Ähnlichkeit mit einer Wasserleiche wäre verblüffend gewesen. Eine ganze Weile stand ich da und starrte nur, ohne zu wissen, wie ich in ein paar Tagen so krank und hilflos hatte werden können. Ich fühlte mich matt, als ich den Arm hob und den Wasserhahn aufdrehte, aus dem das kühle Nass herausströmte und gleich darauf im Abfluss verschwand. Dabei stellte ich mir vor, dass es genauso mit meiner Kraft sein müsste. Irgendwer musste einen Hahn aufgedreht und vergessen haben in zu schließen, durch den nun all meine Kraft langsam abfloss und auf Nimmerwiedersehen im Nichts verschwand, wo ich keinen Zugriff mehr auf sie hatte. Vielleicht eine Meuterei meines eigenen Körpers.

Meine Hände waren eiskalt und zitterten, als ich Wasser in ihnen auffing und es mir ins Gesicht spritzte. Ein eisiger Schauer überlief mich und zwang mich fast in die Knie, so dass ich mich an die Wand lehnen und mich sehr auf meine Muskeln konzentrieren musste, damit sie mich aufrecht hielten. Fast wäre ich wie ein Gerüst aus morschem Holz einfach zusammengekracht. Das dröhnende Rauschen des Wassers verstummte kurze Zeit später von selbst und Stille umgab mich, die allerdings durch das Summen der Elektrischen Spannungen einiges an Intensität verlor. Das künstliche Licht surrte unangenehm, so als wäre eine kleine Fliege in meinem Kopf, die immer im Kreis flog und keinen Ausweg fand, so wie ich in diesem Moment. Es fiel mir schwer zu denken. Obwohl ich mir dieser Tatsache bewusst war, war mir auch klar, dass ich das nicht ändern konnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mir zutraute den Weg zurück in den Saal zu gehen und meinen Platz zu finden. Ich hoffte, dass es so hell sein würde, dass ich Constanze würde sehen können, um zu wissen, wo ich hin musste, doch ich bezweifelte, dass ich irgendetwas in diesem unsteten Licht würde erkennen können. Außerdem sah ich momentan sowieso sehr schlecht, denn die Kontraste zwischen den einzelnen Gegenständen erschienen mir so unscharf, so dass alles zu einer blubbernden Brühe verschwamm. Ich blinzelte ein paar Mal und wankte dann in Richtung Tür, die wieder ein fast unüberwindbares Hindernis bot. Es erschien mir wie eine halbe Ewigkeit, bis ich sie endlich geöffnet hatte und draußen im großen Flur stand, von dem die Türen zu den Sälen abgingen. Gerade, als ich unsicheren Schrittes meine Tür erreichte, wollte ein Mann sie schließen. Schnell schob ich mich noch vorbei und stand dann in erschlagender Finsternis da, jeglichem Orientierungssinn beraubt. Als ich meine Sehkraft Stück für Stück zurückerhielt, bis ich immerhin vage Umrisse wahrnehmen konnte, sah ich auch eine leuchtende Schrift auf der Leinwand, die wohl den Titel des Films darstellen sollte. Ich konnte zwar die meisten Buchstaben erahnen, schaffte es aber nicht, das Wort, das sich daraus ergeben hätte, zusammenzufügen. Nach mehreren Versuchen verwarf ich das Vornehmen, auf diese Art den Titel zu erfahren und wankte unentschlossen eine Treppe hinunter, mich suchend umblickend und nach einem Hinweis suchend, in welche Reihe ich mich einordnen sollte. Vermutlich war ich so müde, weil ich nachts einfach nicht richtig schlafen konnte, dass meine Wahrnehmung Schaden davon getragen hatte. Die Geräusche erschienen mir wie ein unerträgliches Getöse, die Dunkelheit war beängstigend schwarz und das Licht so beißend hell, dass ich am liebsten all meine Sinne zugesperrt hätte. Ging natürlich nicht, denn dann wäre ich die Treppe hinuntergefallen. Auch kein verlockendes Ziel.

Nach einiger Zeit fühlte ich mich am Arm gepackt und in eine Reihe gezogen, die mir gänzlich unbekannt erschien, fand mich aber schließlich auf einem Platz neben Constanze wieder, die es wohl nicht mehr hatte mit ansehen können, wie ich ziellos hin und her lief, wie ein kleines Kind auf der Suche nach seiner Mama. „Wo warst du?“, zischte sie ungehalten, doch, wie mir schien, auch ein wenig besorgt, da selbst für mich ein so anormales Verhalten untypisch war. Ich war nur froh, endlich auf meinem Platz zu sitzen und mich nicht mehr auf Bewegungen konzentrieren zu müssen, die meine Grenzen des Machbaren bei weitem überstiegen. Nun starrte ich auf die immer noch schwarze Leinwand, auf der nun wohl die Namen der Darsteller abliefen, untermalt von einer schaurigen Musik, die schon allein ausgereicht hätte, um mich zu vertreiben, wäre es mir denn möglich gewesen, den Weg von gerade zum wiederholten Male zurückzulegen.

Zwar verließ mich im Sitzen nicht das Gefühl der Schwäche, doch immerhin konnte ich den Schwindel etwas aus meinem Körper verbannen, so dass ich mich etwas gefestigt und ermutigt fühlte, den Weg zum Auto, in zwei Stunden, vielleicht doch noch zu schaffen. Ich hoffte nur, dass ich nicht wieder diese Migräne kriegen würde, denn das würde mich mit Sicherheit ganz umwerfen und dann hätte ich keine Chance mehr, unbeschadet mein Bett zu erreichen. Außerdem wollte ich Constanze nicht den Abend verderben, denn ich hätte es nicht ertragen können, wenn sie wieder angefangen hätte, mich zu hassen. Auf das Bisschen frisch gewonnene Zuneigung wollte er dann doch nicht gleich wieder verzichten. Eigentlich war es so ganz nett.

Meine Befürchtungen, was den Film betraf, wurden zu meinem Ärgernis bei weitem überboten.

Schon die erste Szene konnte ich kaum mit geöffneten Augen ertragen. Die Leinwand triefte förmlich vor Blut und Grusel, so dass ich meine Kraftlosigkeit beinahe vergaß. Constanze starrte wie gebannt auf das Geschehen, ohne einmal zusammen zu zucken oder weg zu gucken, während ich aus dem Erschrecken und Ekeln gar nicht hinaus kam. Selbst, wenn ich die Augen geschlossen hielt und ich nur die Musik und die Geräusche hörte, spielte mir meine gut ausgebildete Fantasie den bitterbösen Streich, dass sie mir Bilder in den Kopf malte, die fast noch grausiger und Furcht einflößender waren, als das Original, sofern das denn möglich war. Ich achtete erst nach etwa einer halben Stunde wieder auf meinen eigenen körperlichen Zustand und stellte fest, dass ich mich nicht nur besser fühlte, sondern auch kräftiger. Ob ich mich nun allein durch das Sitzen erholte oder auch durch die Ablenkung durch den widerlichen Film, der meine eigenen Probleme tonlos in den Schatten stellte, lassen wir mal offen, doch mir wurde klar, dass ich noch nie so viele fürchterliche Bilder auf einmal gesehen hatte. Ich konnte mir auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich Menschen so etwas nicht nur freiwillig, sondern auch noch gern ansahen. Das war für mich noch grotesker, als die öffentlichen Hinrichtungen, die es zum Glück bei uns nicht mehr gab. Dieser Film war auf jeden Fall darauf angelegt, möglichst authentisch und grausam zu wirken und ob das der Zweck der Unterhaltungsindustrie war, stellte ich sehr in Frage.

Nach einer weiteren halben Stunde, bemerkte ich, dass ich mich mit den Fingern am Sitz festklammerte und meine Hände sich völlig verkrampft hatten, so dass es mich Mühe und Zeit kostete, meinen Griff zu lockern. Mir wurde klar, dass ich nicht die nötige Erfahrung und die Veranlagung dazu besaß, diesen Film mit der unabdingbaren Distanz eines normalen Kinobesuchers zu betrachten, um den Abstand zu gewinnen, der es mir ermöglicht hätte, nicht jedes Mal vor Angst und Schrecken zu erstarren, wenn irgendetwas Bösartiges geschah. Die Handlung des Films war ohnehin ohne Belang, was für das Publikum zählte, waren die modernen Spezialeffekte und die Intensität der Brutalität.

Ich betrachtete Constanze, die sich genießerisch weit zurückgelehnt hatte und jede Sequenz gierig einsog, während sie die letzten Krümel aus der Popcorntüte pulte und sie sich auch noch in den Mund stopfte. Hätte ich Popcorn gemocht, wäre ich sicherlich beleidigt gewesen, aber so war es mir egal, dass sie mich nicht ein einziges Mal gefragt hatte, ob ich nicht auch etwas wolle. Sie war eben ein unverbesserlicher Egoist.

Als ich meine Aufmerksamkeit nach einem besonders Schrecken erregenden Geräusch wieder dem Film zuwandte, überlief mich ein kalter Schauer. Der Held des Films befand sich gerade auf einem verlassenen Schiff, das immer gern in neuen und alten Grusel-Filmen als Kulisse verwendet wird, und dieses Schiff bewegte sich durch tiefen Nebel, ohne dass es jemand steuerte. Einzelheiten des Schiffes waren nicht zu erkennen, nur die ungefähren Konturen auf dem schwarzen Wasser. Das Schrecken erregende Geräusch gehörte zu einem großen, kantigen Felsen, der wie aus dem Nichts direkt vor dem Schiff auftauchte, den Metall-Bug des Schiffes meterweit aufriss und alles zerschmetterte, als wäre es Glas. Es war nicht so, dass ich diese Szene besonders beunruhigend fand, denn im Gegenteil gehörte sie wohl zu den Harmlosesten im ganzen Film, doch das Unvorhersehbare und Erschreckende für mich, das mich hatte erschauern lassen, war, dass ich mit dieser Situation mitfühlte, als wäre ich dabei. Ich sah nicht nur das gerammte Schiff, nein, ich spürte die Erschütterung im ganzen Körper.

Auf meiner Stirn brach der Schweiß aus. Was erlaubte sich meine Fantasie? War ich so übermüdet, dass sich die Fiktion mit der Realität vermischte? Auf dem Schiff setzte lautes Geschrei ein und alles rannte wild durcheinander, es entstand ein rücksichtsloser Kampf um die Rettungsboote, und ich schluckte bei diesem Anblick und hielt den Atem an. In diesem Moment, der nur einen winzigen Teil einer Sekunde dauerte, war ich mir sicher, dass ich genau diesen Augenblick miterlebte, nur der Zusammenhang war mir nicht klar. Selbstverständlich verschwand dieser Gedanke gleich wieder im Nichts, denn es war absolut utopisch, dass ich mich zugleich im Kino und bei einem so verheerenden Schiffsunglück befinden könnte, doch diesen Bruchteil der Sekunde war ich davon überzeugt, ich wäre es, wie und wo auch immer. Denn in dieser Zeit befand ich mich mitten in dem Geschehen auf der Leinwand, als hätte sie mich eingesogen und mir eine Rolle in dieser Geschichte gegeben, ohne mir die Möglichkeit zu lassen, abzulehnen.

Zwar befand ich mich nicht wirklich körperlich in diesem Horrorszenario, doch mein Verstand schwitzte Blut und Wasser vor Angst, Todesangst. Ich spürte, wie ich von anderen flüchtenden Passagieren, die ihrem unglücklichen Tod entgegen rannten und sich verzweifelt in die Fluten stürzten, zur Seite gestoßen wurde und auf die harten Planken des Schiffes niederkrachte, was mir die Besinnung zu rauben drohte. Erstaunlich lange hielt ich mich zwischen Realität und Fiktion hängend in einem äußerst verwirrten Zustand, bis ich aus diesem Trauma erwachte und wieder in dem Kinosessel saß, einen Film anschauend, der mich nicht interessierte und den ich für ein Verbrechen an der Menschlichkeit hielt. Unwillkürlich tastete ich mit den Fingern meine Stirn nach einer Beule ab, von der ich überzeugt war, dass es sie geben müsse. Natürlich war sie nicht da. Wie sollte sie auch? Ich atmete schnell, wie nach schwerer, körperlicher Anstrengung und hätte meinen Kopf am liebsten auf die Sitzlehne vor mir fallen lassen. Müdigkeit ergriff von mir Besitz.

Conclusio: Hier hatte meine Fantasie mir tatsächlich einen so mächtigen Streich gespielt, dessen Auswirkung auf meinen Körper ich mir nur durch den Schlafmangel erklären konnte. Ich konnte meiner Wahrnehmung folglich kein Vertrauen mehr schenken. Ohne meine Zustimmung war ich mit einer fiktionalen Welt kollidiert und ich hatte mich gerade noch aus ihr herausretten können, bevor sie mich verschluckte. Eine beängstigende Erfahrung, deren Erinnerung mich noch Wochen später in Alpträumen verfolgte.

Die nächste Szene war um einiges grotesker, denn während ich mich dem Schiffsunglück unheilvoll und bedrohlich nahe gefühlt hatte, war der Angriff ganzer Armeen von skurrilen Seemonstern auf die verbliebenen Menschen auf dem Schiffswrack, die in abertausend Teile zerfetzt und zerrissen wurden, nur noch unglaubwürdig und in höchstem Maße abscheulich, so dass ich angewidert den Blick abwendete und stattdessen die Kinobesucher vor mir fixierte, oder besser gesagt, die Umrisse der Kinobesucher. Alle hatten ihren Blick auf die blutrünstigen Monster geheftet und schienen wie verzaubert von dem Anblick der zerfleischten Menschenmassen.

Das war der Augenblick, in dem ich begann innerlich vor Wut und Unverständnis zu kochen. Diese absurde Aneinanderreihung von Ekel und Horror, die Mark und Bein erschütterte, verdiente nicht mehr meine Aufmerksamkeit. Dafür war ich mir zu fein. Constanze hin oder her, das konnte sie nicht von mir verlangen. Der Film war es weder wert, dass ich ihn anschaute, noch, dass ich auch nur einen Gedanken an ihn verschwendete. Ich warf einen Blick auf die Uhr und sah, der der Film in etwa einer dreiviertel Stunde enden würde. Eine Minute lang ging ich tief in sich, um festzustellen, ob ich genug Kraft geschöpft hatte, mir den Weg hinaus zuzutrauen. Dort konnte ich mich ja wieder hinsetzten und auf das Ende des Films warten. Constanze wirkte nicht so, als ob es sie stören würde, wenn ich den Saal verließe. Ich bezweifelte sogar stark, dass sie es bemerken würde, da sie gerade mit aufgeregtem Blick den Hauptdarsteller verfolgte, der, erstaunlicherweise, bislang ohne Verletzung davon gekommen war. Das hielt ich, angesichts der vielen verrückten Mörder, Monster und des untergegangenen Schiffes, für eine wahre Höchstleistung. Der Mann war ohne Zweifel unglaublich zäh und widerstandsfähig. So sah also der moderne Held aus. Nie stieß er an seine Grenzen. Ich wandte mich gelangweilt ab. So etwas Unglaubwürdiges! Sollte Constanze mich doch für verweichlicht halten, ich hielt schließlich auch nichts von ihrer Vorliebe für diesen grausamen Schund. Das wollte ich nicht mehr länger über mich ergehen lassen.

Es dauerte eine Weile bis ich genug Vertrauen zu meinem Gefühl entwickelte, dass mir von Stärke und Kraft erzählte, die angeblich in meinen Körper zurückgeflossen war. Da ich mich also nicht mehr an dem Leid anderer weiden wollte, flüsterte ich Constanze zu, ich wolle draußen auf sie warten, und erhob mich leicht schwankend. Sie hatte nur durch ein leichtes Nicken auf meine Bekundung reagiert und schenkte mir keinen weiteren Blick, als ich mich durch die vollbesetzte Reihe in Richtung Ausgang schob. Soviel also zur Schwesterliebe.

Es ging besser, als ich gedacht hatte, denn meine Beine hielten mich ohne übermäßig zu zittern und mir wurde auch nicht wieder so schwindelig.

Nachdem ich mich die Treppe hinauf gekämpft und die Tür geöffnet hatte, erschien mir die Welt des Lichtes nicht mehr wie der Alptraum aus greller Künstlichkeit und geistiger Leere, den ich vorhin mit Mühe und Not verlassen hatte, sondern wie der rettende Ausweg aus der traumatischen Erfahrung Horrorfilm, die mich lehren sollte, mich nicht noch einmal auf etwas einzulassen, von dem ich schon vorher wusste, dass ich mich davor fürchtete, und dass es mir eine Reihe schlafloser Nächte bescheren würde, aber gewiss kein Vergnügen.

In der Lichterwelt, die ich mit einem dankbaren Lächeln begrüßte, ließ ich mich auf einer Bank am Fenster nieder und starrte auf die vor Nässe glänzende Straße. Nur wenige Autos fuhren vorbei und es zeigten sich kaum Fußgänger in dem gelblichen Licht der Straßenlaternen.

Bekümmert dachte ich an meine kleinen Kätzchen zu Hause, die ich in den letzten Tagen etwas vernachlässigt hatte, obwohl ich es nicht hatte tun wollen. Ich war gefangen gewesen in meiner eigenen Welt des Grübelns, doch das sollte jetzt ein Ende haben. Schließlich wusste ich, was zu tun war. Ich musste mich nur für eine meiner beiden Optionen entschieden, und um das zu tun, blieben mir immerhin noch einige Monate. Wenn ich zwischen den beiden gewählt hatte, würde ich klarer sehen, doch dies war keine Entscheidung, die von heute auf Morgen getroffen werden konnte. Immerhin hatte ich mich schon dazu entschlossen, mich jemandem anzuvertrauen und zu diesem Zweck wollte ich morgen Nachmittag die Kirche aufsuchen um mit dem einzigen zu sprechen, der mich verstand und der mir zuhörte. Zu Ihm hatte ich ein unerschütterliches Vertrauen, auch wenn ich mir keine ertragreichen Ratschläge erhoffte. Auch, wenn ich es dankend angenommen hätte, hätte mir jemand diese schwere Entscheidung abgenommen, wusste ich doch, dass es eine war, die ich selbst fällen musste, da es nur mich etwas anging und sonst niemanden, in gewissem Sinne noch nicht einmal Gott. Er hatte schließlich Familie, zumindest einen Sohn. Außerdem war der ganze Himmel sicherlich bis zum Bersten gefüllt mit freundlichen Menschen, also fühlte man sich da oben gewiss nicht allein.

Ich betrachtete die vielen kleinen Regentropfen, die gegen das Fensterglas schlugen und die Erde mit einem feuchten Schleier bedeckten, der sich auf jeden legte, der ihn durchquerte. Der Schimmer der Laternen verblasste und wurde immer undurchsichtiger, je mehr Regen fiel und je dichter die Masse der sich herunterstürzenden kleinen Wassertropfen auch wurde. Ein Rinnsal hatte sich irgendwo über mir gebildet und rann nun auf der Scheibe an mir vorbei, wie ein kleiner Fluss, der sich seinen Weg durch ein Meer suchte. Ich folgte ihm mit den Augen so weit es ging, bis er am Fenstersims verschwand und seinen Weg außerhalb des für mir einsehbaren Bereichs fortsetzte, dem kürzesten Pfad zur nächsten Pfütze folgend, wo sich viele Rinnsale sammelten und sich zu einem großen See winziger Tröpfchen vereinten.

Nun endete die Vorführung in einem anderen Kinosaal und der breite Flur, der als Empfangshalle diente und auch ungefähr solche Ausmaße hatte, dass er diese Bezeichnung verdiente, füllte sich schneller, als ich es nachvollziehen konnte. Die Menschen waren wie die Regentropfen, die nun alle gemeinsam die Treppe hinunterströmten um sich im Foyer zu sammeln. Das Gemurmel erhob sich, da Menschen zusammentrafen, die sich kannten, und natürlich sofort die Eindrücke austauschen mussten, die sie aus diesem Film gewonnen hatten. Von mir nahm niemand Notiz, als wäre ich unsichtbar. Das Getrappel der Füße auf dem Fußboden ergoss sich über mich wie ein Wasserfall und zusammen mit der Vielzahl an Stimmen erzeugte diese Menschenmasse ähnliche Geräusche, wie eine Gewitterwolke. Und auch sie zogen weiter und irgendwann waren nur noch einzelne da, die auf Freunde oder Familie warteten, die eine andere Vorstellung besuchten. Niemand setzte sich zu mir auf die Bank (sah ich wirklich so krank aus?), alle schienen froh zu sein, endlich stehen und die Glieder recken zu können, nach dem langen Sitzen. Ich dagegen verspürte überhaupt kein Verlangen dazu, mich zu bewegen. Am liebsten hätte ich mich sofort ins Bett gelegt und wäre eingeschlafen, auch wenn ich ahnte, dass mich die abschreckenden Bilder aus dem Film nicht loslassen und auch im Traum verfolgen würden. Trotzdem erschien mir der Schlaf jetzt wie ein lohnendes Unternehmen, denn ich hatte viel Kraft aufzuholen. Am besten war es wohl, wenn ich niemandem von meinem erneuten Schwächeanfall berichtete, am allerwenigsten Madeleine, die dann vermutlich sofort den Arzt rufen und sich schreckliche Vorwürfe machen würde, mich ins Kino geschickt zu haben.

Ich sah an mir herunter und registrierte zum ersten mal, dass ich noch immer Jacke und Schal trug, aber überhaupt nicht schwitzte. Wahrscheinlich lag es an dem dünnen Hemd, das ich darunter trug, und das die Funktion eines Kleidungsstücks, zu wärmen, offenbar nicht erfüllte. Ich lockerte den Schal um meinen Hals etwas und wischte mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die mich schon seit einer Weile störte. Mich an die Wand lehnend verharrte ich, auf Constanze wartend, deren Film allerdings nicht enden zu wollen schien.

Die aus den einzelnen Vorführräumen dringenden Geräusche der unterschiedlichen Filme, waren kaum zu hören. Ich konnte nicht feststellen, was für Filme sonst noch liefen, doch offenbar war der Horrorfilm der lauteste und meist besuchte, denn er wurde im größten Saal gezeigt und seine Töne waren am deutlichsten von den anderen zu unterscheiden. Ich fragte mich, wie ich es wohl solange bei diesem Lärm, eingepfercht mit unzähligen das grausame Schauspiel bewundernden Menschen, ausgehalten hatte, ohne wahnsinnig zu werden. Durch die ungeheure Lautstärke und die rasch wechselnden Bilder, mussten das Gehör und die Sehkraft doch innerhalb kürzester Zeit rapide Verschlechterungen erleiden und der Verstand stumpfte wahrscheinlich beim regelmäßigen Konsum solcher brutalen Filme immer mehr ab. Gut, dass ich mich dem rechtzeitig entzogen hatte. Meine Wahrnehmung funktionierte ja sowieso nicht gut.

Da überfiel mich ein vergessenes Gefühl. Zum ersten Mal in den letzten Tagen verspürte ich tatsächlich so etwas wie Hunger, denn mir fiel auf, dass ich den ganzen Tag über noch nichts gegessen hatte. Kein Wunder, dass ich mich so dünn und schwach fühlte und erstaunlich, dass ich nicht schon früher darauf gekommen war, etwas zu essen und dieses Gefühl zu verbessern. Ich wusste, dass es unten im Foyer etwas zu essen gab, auch andere Sachen als Popcorn. Allerdings hatte ich kein Geld dabei, für das ich mir etwas hätte kaufen können, ich musste also auf meine Schwester warten, damit sie mir etwas besorgte. Folglich verdrängte ich das mulmige Gefühl in der Magengegend und studierte stattdessen eines der Film-Poster, mit denen die Wände praktisch zugekleistert worden waren. Nach einigem Suchen fand ich eines, dass meine Aufmerksamkeit erregte. Es war das Poster, das wohl zu dem Horrorfilm gehörte, den ich soeben aus Protest verlassen hatte. Es zeigte unverkennbar den Hauptdarsteller, der mit weit aufgerissenen Augen ins Nichts starrte und dessen Gesicht einige blutige Kratzer zierten. Da hatte er wohl doch noch etwas abgekriegt. Im Hintergrund war ein düsterer Wald dargestellt, in dem man vereinzelt Gestalten zu erkennen glaubte, die aber auch nur besonders gespenstisch geformte Bäume sein konnten. Das fand ich nun wieder albern. Hatte ich mich vorhin noch vor eben diesem Wald auf der riesigen Leinwand gefürchtet, so wurde jetzt auf dem Bild überdeutlich, dass es sich nur um Computertechnik handelte, also um nichts, wovor man sich hätte fürchten müssen. Da war meine Fantasie wohl mal wieder mit mir durchgegangen und hatte alles schlimmer gemacht, als es eigentlich war. Ich war heute aber auch besonders anfällig.

Meine Uhr sagte mir, dass der Film eigentlich in zehn Minuten enden müsste, wenn er die normale Filmlänge nicht überschritt, das hatte zumindest Constanze gesagt, und die musste es ja wissen.

Ich freute mich immer mehr auf mein Bett und mein Buch, das ich in den letzten Tagen stark vernachlässigt hatte, wie alles andere auch. Ich wüsste nur gern, was genau mich zu dieser Vernachlässigung getrieben hatte. Im Grunde genommen war ich die ganze Zeit mit meinen Gedanken beschäftigt gewesen, doch das Nachdenken hatte zu keinem richtigen Ergebnis geführt. Es war eigentlich gar kein richtiges Nachdenken gewesen, sondern eher ein stilles vor sich hin vegetieren, wie es mir noch niemals passiert war. Dieser Tatendrang wie ein Eisblock, der über Tage angehalten hatte und in gewissem Sinne noch nicht besiegt worden war, hatte mich sehr verunsichert. Vielleicht war ich der melancholische Typ, vielleicht war ich auch völlig introvertiert und gedanklich immerfort realitätsfern, doch was hatte mich zu diesem inhaltslosen Dasein gebracht? Wahrscheinlich war es dieser plötzliche Anfall gewesen, die äußerst schmerzliche Erfahrung am ersten Tag im Neuen Jahr, die mich so verunsichert und erschreckt hatte, dass ich eine Weile gebraucht hatte, um sich wieder aufzurappeln. Nun saß ich hier im Kino, nach einem kleinen Schwächeanfall, den ich so gut es ging vertuschen wollte, um niemanden zu beunruhigen, doch ich selbst war beunruhigt. Es konnte eine Krankheit sein, natürlich, doch irgendetwas sagte mir, dass ich gesund war, kerngesund, dass nur etwas mit meinem Verstand nicht stimmte.

An dieser Stelle schreckte ich selbst zusammen. Wenn mein eigener Verstand an seinem Verstand zweifelte, was blieb dann noch von mir übrig, als eine leere Hülle, angefüllt mit Nichts? Verfiel ich langsam dem Nihilismus? Das konnte doch nicht sein. Das war viel zu absurd.

Ich stierte in eine Ecke des breiten Flurs und fixierte den dunklen Schatten einer Säule. Ich musste mir eingestehen, dass ich Angst hatte. Ich selbst erschreckte mich, ich fühlte mich verfolgt, beobachtet, als wenn irgendjemand Fremdes gewaltsam die Kontrolle über mich an sich gerissen hätte und mich jetzt steuerte, wie ein Spielzeug. Oder hatte ich nur deshalb den Eindruck, weil ich die Kontrolle selbst verloren hatte, durch mein eigenes Unvermögen?

Da war es wieder, dieses Gefühl, dass irgendetwas falsch lief, ein Gefühl, dass mich in letzter Zeit öfter überkam und das mich jedes Mal aufs neue ängstigte. Doch benennen, um was es sich dabei handelte, konnte ich immer noch nicht, obwohl ich sonst doch auf beinahe alles eine Antwort wusste, oder sie mir aus Büchern zusammensuchen konnte. Diese Angewohnheit half mir nur jetzt leider nicht weiter, denn ohne nachgeschaut zu haben, wusste ich, dass kein Buch auf der Welt eine Antwort für mein Problem enthalten konnte, weil es absolut individuell war, eine unglückliche Ausnahme, die gerade mich getroffen hatte, bedingt durch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.

Die Türen öffneten sich. Kinobesucher strömten heraus. Ich beobachtete sie angeekelt, wie ein Knäuel aus sich windenden Würmern, in sich verknotet und untrennbar, aus dem einfachen Grunde, weil sie alle gleich waren, für mich, den neutralen Beobachter. In der Masse ging das Individuum völlig unter.

So bereitete es mir auch einige Schwierigkeiten, meine Schwester in diesem Trubel aus geschockt und gleichermaßen begeistert blickenden Menschen auszumachen. Zum Glück fand sie mich, den Außenstehenden, der ich durch meine Isolation am Rande des Raumes und vielleicht auch durch meine kränkliche Erscheinung ins Auge stach, also kaum zu übersehen war.

Constanze strebte, hatte sie mich einmal erblickt, direkt auf mich zu, mit dem gewohnten, verständnislosen Gesichtsausdruck, doch sie fragte nicht, meinen abweisenden Blick richtig deutend. Ich wollte jetzt nicht erklären, warum ich diese Grausamkeiten nicht ertragen konnte, weil es sicherlich wieder zu Streit geführt hätte, und für eine ordentlich gegliederte Argumentationskette fehlte mir nun einfach die Kraft. Ich erhob mich von der Bank, als der Besucherstrom etwas abgeebbt war und folgte Constanze die Treppe hinunter ins Foyer, in Richtung Ausgang.

Die kühle Nachtluft brachte mich zum Frösteln, erschien mir aber auch angenehm, nach der chronisch sauerstoffarmen Luft in Räumen, wo sich viele Menschen tummeln. Immerhin hatte es aufgehört zu regnen, und so ging ich mit gesenktem Blick, um den kolossalen Pfützen auch rechtzeitig ausweichen zu können. Der Weg zum Auto erschien mir unnatürlich lang. Ich stolperte ungeschickt hinter meiner Schwester her, die einige Male stehen bleiben und auf mich warten musste. „Du musst unbedingt schlafen“, sagte sie und musterte mich misstrauisch, als ich mich ins Auto zwängte. „Du siehst nicht so aus, als könntest du ohne Hilfe stehen.“

Ich nickte bedrückt. Da hatte sie ausnahmsweise einmal Recht. Eigentlich hatte ich gehofft, dass man mir meine Schwäche nicht so sehr ansehen würde, doch das war natürlich nur ein Wunsch ohne realistische Basis gewesen. Ein Gefühl, das einem praktisch die Beine unter dem Körper wegriss und eine Schwäche, die einem das Gehirn lahm legte, musste sichtbar sein, so etwas konnte ich nicht verstecken, so sehr ich mich auch bemühen mochte. Während der Fahrt sprachen wie wieder kein Wort. Ich fror vor mich hin und observierte den Straßenrand mit akribischer Genauigkeit, als wenn ich erwartete, etwas zu sehen, das mir die Lösung zu meinem Problem auf einem Silbertablett präsentierte. Es waren nur sehr wenige Autos unterwegs und natürlich überhaupt keine Fußgänger, aber vielleicht war es auch gut. Vielleicht hatte ich die Einsamkeit ja nötig, um wieder die Kraft zu sammeln, die ich benötigte, um mich in wenigen Monaten auf die Suche zu begeben. Wahrscheinlich würde sich alles in Luft auflösen, wen ich mein richtiges Leben fand und in es hineinschlüpfte, denn im Stillen hatte ich mich entschieden, den schwereren Weg zu wählen, von den beiden, die möglich waren, denn eines wusste ich sicher. Ein richtiger Fehler konnte es nicht sein, denn falsch waren schließlich beide Wege. Ich hatte also eine Chance von hundert Prozent das Falsche zu tun. Wann hat man schon einmal so ein Glück?

Schlussakt

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