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4 Die frühen Phasen der Trauer

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Bis ich das Grässliche habe erzählt, brennt in mir mein Herz. Samuel Taylor Coleridge

Eine Mutter beschrieb folgende Situation, in der sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr:

Der Arzt trat ins Zimmer. Es war nach Mitternacht. Er sagte so kalt und unbeteiligt und gefühllos, wie ich noch nie jemanden habe reden hören: „Wir konnten nichts mehr tun. Er ist tot.“ Dann verließ er das Zimmer und wir waren wieder allein bis auf den Krankenhausseelsorger, der bestürzt dreinblickte. Ich weinte noch nicht einmal. Ich verstand all das gar nicht wirklich. Ich meine, ich hatte zwar die Worte gehört, aber ich hatte meinen Körper verlassen. Ich war monatelang nicht in meinen Körper zurückgekehrt. Ich kann auch immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr da ist.

Zuerst hören wir Nachrichten wie diese vielleicht nur mit den Ohren – und noch nicht mit dem Herzen. Die Tiefe und Weite des Verlustes ist unergründlich, sein ganzes Ausmaß lässt sich nie sofort erfassen, sondern nur allmählich im Laufe der Zeit. Der Verstand versucht, uns vor dem fast tödlichen ersten Schock zu schützen, und oft folgt darauf eine Art emotionale Betäubung, sodass wir uns fühlen wie in einem Film – oder als ob alles in Zeitlupe ablaufen würde. Töne, Bilder und Bewegungen wirken anders und wir versetzen uns möglicherweise in einen stark veränderten Bewusstseinszustand.

Wenn der Schock über den Verlust dann allmählich seinen betäubenden Schleier fallen lässt, steigt ein unbeschreiblicher Schmerz aus unserer Magengrube auf. Dieser Schmerz bringt Gefühle mit sich, die wir vielleicht noch nie empfunden haben – fremdartige und grauenhaft bestürzende Gefühle. Alles in uns will vor der Wirklichkeit des Verlustes wegrennen, aber der tiefe Schmerz will gefühlt werden. Immer wieder fordert er unsere ganze Aufmerksamkeit. In gewissem Sinne ist der Trauerprozess eine Äußerung von Liebe, die jetzt keinen physischen oder zwischenmenschlichen Platz mehr hat, um zum Ausdruck gebracht zu werden.

Es ist nicht ungewöhnlich, wenn hinterbliebene Eltern, Kinder, Geschwister, Großeltern und Ehepartner feststellen, dass ihr Selbstwertgefühl Schaden nimmt, sie sich unentwegt nach dem Verstorbenen sehnen und sie dem Schmerz unter allen Umständen entkommen wollen – auch wenn dabei ihr eigenes Selbst stirbt. Viele Eltern, mit denen ich gearbeitet habe, sagten mir, sie hätten das Gefühl, ihr altes Selbst, die Person, die sie einmal waren, sei gestorben. Einige Menschen berichten von Schuld- und Schamgefühlen über den Tod des geliebten Menschen, obwohl diese Gefühle von außen betrachtet ungerechtfertigt erscheinen. So erwarten Eltern natürlich, dass ihre Kinder länger leben als sie selbst und ein Kind beerdigen zu müssen, fühlt sich unnatürlich und nicht in Ordnung an und führt in eine lähmende, herzzerreißende Trauer. Nach einem schweren Verlust kommen diese Gefühle häufig vor und sind normal, wenn auch schmerzvoll. Auch tiefe Verzweiflung, Bestürzung und Ungeduld, Apathie, Verlust der Lebensfreude und fehlendes Interesse an Dingen, die dem Trauernden früher wichtig waren, werden häufig beschrieben und sind ebenfalls ganz normal.

Welche Eltern, deren Kind gestorben ist, würden sich nicht danach sehnen, diese starke Verbindung wiederherzustellen? Welches Kind würde sich nicht unsicher, verängstigt und allein auf der Welt fühlen, wenn ein Elternteil gestorben ist? Welcher Mensch würde nach dem Tod seines Lebenspartners nicht eine mitunter niederschmetternde Einsamkeit empfinden? Ein Verlust wie dieser kann die ganze Sinnhaftigkeit des Lebens in Frage stellen.

Oft treten Furcht, übermäßige Sorgen und Ängstlichkeit auf. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, wird uns akut der Tod und unser aller Endlichkeit bewusst (die so genannte Mortalitätssalienz) und wir beginnen, uns mit dieser Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Gleichzeitig kann sich die Sinneswahrnehmung und die Umweltsensibilität erhöhen, was ängstlichen Sorgen, besonders um andere geliebte Menschen, Vorschub leisten kann. Uns wird bewusst und wir fürchten, dass auch sie sterben werden. Auch Neid gegenüber anderen, die noch haben, was wir schon verloren haben, kommt oft auf, ebenso kann Wut oder starker Zorn auftreten.

Trauer kann sich in subtilen wie auch in dramatischen Verhaltensweisen zu erkennen geben – vor allem, wenn wir nicht bereit sind zu fühlen, was sie von uns fordert. Drogenmissbrauch, Glücksspiel, Überkonsum, Promiskuität, zwischenmenschliche Konflikte, Fahrlässigkeit und sogar suizidales Verhalten sind häufige Symptome dieser Dynamik. Es kann sein, dass wir es schwieriger, vielleicht sogar unmöglich finden, uns lange auf irgendetwas anderes als auf den Verlust zu konzentrieren. Natürlich kann dadurch unsere Arbeit erschwert werden, aber sie wird nicht unmöglich, wenn wir hilfsbereite Kollegen haben. Umgekehrt können einige sich völlig in Arbeit, Sport oder Spiritualität vertiefen, um jeden Gedanken an den Verlust und die damit verbundenen Gefühle zu vermeiden.

Trauer kann sich im Nichtvorhandensein von Freude, Konzentration und so weiter niederschlagen, aber auch im Vorhandensein etwa von außergewöhnlichen Sinneserfahrungen. Ich habe mit Hinterbliebenen gearbeitet, die berichteten, dass sie Dinge sehen, hören oder riechen konnten, von denen andere nichts bemerkten. Einige berichteten über „Zeichen“ ihrer geliebten Menschen, oft in Form von Symbolen wie Schmetterlingen oder Zahlenkombinationen. Eine bedeutende Minderheit gab an, beim Träumen oder kurz vor dem Einschlafen Halluzinationen zu erleben, manche davon beängstigend, manche beruhigend.

Zwischenmenschliche Beziehungen können leiden, besonders in trauernden Familien. Vielleicht sind wir müde und erschöpft von der Trauer und haben nicht die Energie, uns eingehend mit anderen zu beschäftigen. Es kann sein, dass wir ungeduldiger und intoleranter werden. Vielleicht haben wir noch nicht gelernt, offen über unsere Gefühle zu sprechen, oder andere waren bisher nicht bereit, uns aufmerksam zuzuhören, oder wir fühlen uns nicht sicher genug dafür. Viele Trauernde berichten, dass sie alte Freunde verlieren (und manchmal neue gewinnen), wenn ihre Paarbeziehungen sich wandeln.

Kinder in Familiensystemen können sich übergangen (ich nenne das „unsichtbar gemacht“) fühlen, und Eltern können aus den Augen verlieren, dass auch ihre Kinder trauern. Eine trauernde Familie leidet individuell und kollektiv. Jeder trauert und handelt auf seine Art aus dieser Trauer heraus und jeder bringt diese Trauer in seinen Beziehungen zum Ausdruck. In dieser Situation werden die Räume in und zwischen uns stark mit Trauer belastet.

Das fast physische Gewicht der Trauer kann sich direkt auf den Körper auswirken und zu Veränderungen bei Appetit, Gewicht, Energieniveau und Schlaf und zu weiteren Problemen führen. Einige Menschen berichten von Atemproblemen und sensorischen Fehlfunktionen wie dem Verlust des Geruchs- oder Geschmackssinns. Andere klagen über Symptome, die sich nach dem Verlust erstmals zeigen, wie diffuse Schmerzen, schmerzende Arme, Schmerzen im Brustkorb, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen und Lethargie. All das kann eine Folge der anhaltenden (aber normalen) psychischen Belastung sein, die mit der Trauer einhergeht. Trauer kann aber auch mit einer vorzeitigen Sterblichkeit der Trauernden im Zusammenhang stehen, besonders bei hinterbliebenen Eltern, auch wenn das Studien zufolge eher mit chronischem Stress und abnehmender Selbstfürsorge verbunden ist als mit einer medizinischen Krise.

Die emotionalen, geistigen, existenziellen und physischen Begleitzustände der Trauer haben zur Folge, dass sich Trauernde in einem Umfeld, das der Trauer und der damit einhergehenden Mortalitätssalienz manchmal ablehnend gegenübersteht, sehr verwundbar fühlen. Viele Familien, mit denen ich gearbeitet habe, sagen, ihre Verwundbarkeit in der frühen Trauerphase habe dazu geführt, dass sie sich von ihren scheinbar teilnahmslosen Mitmenschen zurückziehen wollten. Viele Trauernde empfinden einen unausgesprochenen oder expliziten gesellschaftlichen Druck, „sich wieder besser zu fühlen“ oder „darüber hinwegzukommen“. In solchen Fällen führt die Diskrepanz zwischen den Botschaften, wie sie sich fühlen sollten, und der inneren Weisheit des tatsächlich Gefühlten dazu, dass viele an ihrem eigenen Herzen zweifeln. Diese fehlende Übereinstimmung zwischen sich selbst und den anderen trägt mit dazu bei, dass Trauernde zusätzlich zu ihrem natürlichen, also unvermeidlichen und sinnvollen, auch noch einen vermeidbaren, sinnlosen Schmerz erleiden müssen.

Wie wir mit unserer Trauer umgehen und wie andere uns in ihr begegnen, ist von genauso großer Bedeutung wie die Trauer selbst. Der spanische Philosoph Miguel de Unamuno sagte: „Wir sterben an der Kälte und nicht an der Dunkelheit.“ Am Anfang meiner Trauer um Cheyenne war diese Dunkelheit (die für mich zuweilen reine Schwärze war) unsagbar qualvoll – aber sie drohte nicht, mich umzubringen. Wesentlich gefährlicher in meinem fragilen Zustand war die Kälte der anderen – die chronische Einsamkeit, der Kampf um die Würde meines toten Kindes, die abweisenden Kommentare und die Art und Weise, wie viele meiner Mitmenschen sich von dem hässlichen, entsetzlichen Gesicht der Trauer abwandten. Diese Dinge verstörten mich.

Dunkelheit tötet nicht – aber Kälte kann töten.

Andererseits hat Trauer das Potenzial, uns der Wärme, Liebe und Verbindung in und zwischen uns näherzubringen. Wenn andere uns mit unvoreingenommenem Mitgefühl begegnen, entsteht in uns ein Zugehörigkeitsgefühl, das die harten Kanten der Trauer glättet. Aber wenn unsere Spaßkultur uns unter Druck setzt, unseren Schmerz nach einem festen Zeitplan zu bewältigen oder uns „für das Glück zu entscheiden“ statt für die Trauer, wenn die Gesellschaft uns einengt und wir unsere Gefühle nicht zum Ausdruck bringen dürfen, dann fühlen wir uns verunsichert, unverstanden und isoliert. Und dann kann es passieren, dass wir uns zulasten der Menschlichkeit aus der Welt zurückziehen, da wir wegen des Umgangs mit unserer aufrichtigen Trauer zu Recht verängstigt und misstrauisch geworden sind.

In solchen Situationen wird Trauernden oft vorgeworfen, sie würden es nicht schaffen, „daran zu wachsen“, „darüber hinwegzukommen“ oder „einen Sinn darin zu finden“ – ein Vorwurf, der unfair und auch noch völlig unangebracht ist. Um Trauernde zu unterstützen, muss die Gesellschaft uns allen einen Raum anbieten, in dem sich unser Herz und Verstand ausruhen können, einen Raum voller Güte und Mitgefühl, frei von Voreingenommenheit, Zwängen und prüfenden Blicken.

Nur dort und nur, wenn wir bereit dazu sind, werden wir (wenn auch unter Schmerzen) eine neue Freude in uns erblühen lassen können, die gemeinsam mit der Trauer besteht, statt diese beiseitezuschieben oder auszutauschen.

Kehren wir noch einmal zu Karen und zum Tod ihres 14-jährigen Sohnes Kyle zurück. Andere maßregelten Karen, sie solle nicht über Kyles Tod sprechen, weil sie dadurch nur traurig würde. Solche verletzenden Ratschläge sind oft auf die mangelnde Bereitschaft anderer zurückzuführen, mit Schmerz konfrontiert zu werden, weil sie sonst ihren eigenen Schmerz und ihre eigene Angst spüren.

Nachdem ihr diese Einstellung bei anderen begegnet war, stellte Karen fest, dass es ihr jetzt viel schwerer fiel, ihre rechtmäßige Trauer zu verarbeiten und zu integrieren. So wurde ihre traumatische Trauer für sie psychologisch destruktiver, als sie es ursprünglich gewesen war. Auf eine grundlegende Art und Weise brachte Kyles Tod die Fassade ihres früheren Lebens zum Einsturz, zerstörte ihre Identität und konfrontierte sie damit, was es bedeutet, Mensch zu sein: sich verletzlich zu fühlen, zu leiden, Angst zu haben und für die Liebe auch Trauer zu riskieren. Durch die überflüssige Last der Vermeidung, die andere ihr aufbürdeten, verstärkten sich ihre Selbstzweifel, Einsamkeit, Angst und Selbstunterdrückung, sodass sie völlig aus dem Gleichgewicht geriet.

Doch irgendwann, mit einer Unterstützung, die ihre Trauer würdigte und ihr Raum gab, statt auf Vermeidung zu setzen, begriff Karen, dass die Liebe, die sie vierzehn Jahre lang mit Kyle geteilt hatte, nichts war, worüber man „hinwegkommen“ musste, was man abtun musste oder als unwichtig anzusehen hatte. Im Mittelpunkt stand die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, eine unvergleichliche, einzigartige Beziehung, die nicht mit dem Tod eines Kindes endet. Anfangs sagte Karen mir, sie wolle ihre Trauer „überwinden“, aber durch unsere gemeinsame Arbeit erkannte sie, dass sie alles fühlen wollte, was danach rief, gefühlt zu werden, kurz gesagt, dass sie „Mut zum Leiden“ haben wollte.

Leiden ist ein interessantes Wort, das sinnvollerweise als „Fähigkeit, Schmerz zu ertragen, ohne ihn ändern, sich ihm widersetzen oder daran festhalten zu müssen“ definiert werden kann. Meine Arbeit mit Karen begann damit, dass ich ihr einen Raum gab, in dem sie sich ohne Druck oder Erwartungen mit ihren Emotionen sicher fühlen konnte. Es war ein Raum, in dem sie sich an Kyle erinnern und ihre Liebe zum Ausdruck bringen konnte. So gelang es Karen schließlich, sich selbst wieder zu vertrauen.

Sie lernte, dass die Trauer nicht ihr Feind ist und ihr Schatten sie nicht verschlucken oder auslöschen würde. Sie passte sich an, schuf sich einen Raum für die Trauer und erlaubte der Trauer von einem Moment zum anderen jeweils das zu sein, was immer sie war. Allmählich merkte sie, dass sie fähig war zu ertragen und zu leiden, und die harten Kanten der Trauer glätteten sich dann von ganz allein in ihrem eigenen Tempo. Karen hatte sich nicht mehr mit ihrem Körper verbunden gefühlt, sodass wir auch an der Körperlichkeit des Traumas arbeiteten. Wir unternahmen gemeinsame Wanderungen, manchmal barfuß. Irgendwann, als sie sich bereit fühlte, fing sie mit Yoga an. Sie begann wieder ihren Geist und ihren Körper zu bewohnen.

Heute kennt Karen diesen Ort in ihrem Herzen, diesen verehrten und verehrenswerten Ort, in den Kyles Name eingeschrieben ist. Sie kann ihn, wenn nötig, immer besuchen, auch wenn sie sich dann eine Weile „k. o.“ fühlt. Sie weiß, dass der Sturm unter den Gewitterwolken nur die halbe Wahrheit ist – und dass die Sonne darüber weiterhin scheint. Sie vertraut darauf, dass jeder dunkle Tunnel, in den sie gerät, irgendwann endet und sie wieder ins Licht der Welt entlassen wird, wieder und wieder. Und auch wenn es lange Zeitspannen gibt, in denen die Trauer nicht in den Vordergrund tritt, weiß sie doch, dass sie immer da ist, still, im Hintergrund.

Wenn die Trauer gesehen werden möchte, gewährt Karen ihr das und umarmt sie, wie sie es mit einer alten Freundin tun würde, die zu Besuch kommt.

Jetzt, sagt sie mir, würde sie es gar nicht mehr anders haben wollen.

Das unerträgliche annehmen

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