Читать книгу Das unerträgliche annehmen - Joanne Cacciatore - Страница 14
6 Kulturelles Feingefühl
ОглавлениеGewalttaten verbannt man aus dem Bewusstsein – das ist eine normale Reaktion. Bestimmte Verletzungen … sind zu schrecklich, als dass man sie laut aussprechen könnte: Das ist mit dem Wort „unsagbar“ gemeint. Doch Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Judith Herman
An einem frühen Samstagmorgen klingelte mein Telefon. Es war die leitende Gerichtsmedizinerin des Instituts, für das ich als ehrenamtlicher Familienkontakt arbeitete. „Komm bitte sofort“, sagte sie. Sie erklärte, gerade sei ein Baby gestorben, sein Leichnam sei zur Autopsie geschickt worden, um die Todesursache festzustellen, aber die Familie verweigere die Zustimmung. „Sie sind aus dem Reservat”, sagte sie. „Das ist ein echtes Problem für uns.“
Mir schien die Sache klar: „Dann mach eben keine Autopsie.“ Aber sie erinnerte mich daran, dass es in dem US-Bundesstaat bei jedem plötzlichen Todesfall gesetzlich vorgeschrieben war, eine Autopsie durchzuführen. Davon gab es nur eine Ausnahme: falls sich der Tod in einer souveränen Nation (einem Reservat) amerikanischer Ureinwohner ereignet hatte. Nun hatte der Junge zwar in der souveränen Nation gelebt, war aber mit dem Hubschrauber in ein lokales Krankenhaus geflogen worden, wo er dann verstorben war.
Zwei Paare mittleren Alters und ein junges Paar warteten eng beieinanderstehend im Parkhaus auf mich. Einer der älteren Männer, Henry, der sich später als Großvater väterlicherseits herausstellte, trat aus der Gruppe heraus. Ich stellte mich nur ihm vor und vermied es, mich den anderen Familienmitgliedern zuzuwenden oder Blickkontakt mit ihnen aufzunehmen. Im Institut angekommen, bot ich Wasser und Taschentücher an und sicherte ihnen zu, ihre Fürsprecherin zu sein. Ich spürte keine Gefühlsregung in der Familie, nicht einmal Trauer. Doch das jüngere Paar saß auf den Stühlen in der Ecke und umarmte sich, mit gesenkten Köpfen, als würden sie beten. Nur Henry blickte mich an, daher sprach ich direkt und ausschließlich ihn an.
„Es tut mir sehr leid“, sagte ich. „Möchten Sie mir die Geschichte erzählen?“
Henry erklärte, dass sein Enkel Joseph ein gesundes, gut gedeihendes, achtzehn Monate altes Kleinkind gewesen war. Dann wurde er urplötzlich krank, und als er Fieber bekam, wandten sich seine Eltern (das junge Paar in der Ecke) an den Medizinmann. Josephs Symptome hielten den ganzen Tag lang an, sodass Henry sie drängte, ins Gesundheitszentrum zu fahren. Kurz nach ihrer Ankunft im Gesundheitszentrum erlitt Joseph einen Anfall und wurde ins lokale Krankenhaus geflogen, wo er einige Stunden später für tot erklärt wurde. Die behandelnden Ärzte schickten Josephs Leichnam zur Autopsie und benachrichtigten die Familie – die dann begann, gegen das Verfahren zu protestieren: Autopsien sind in ihrer souveränen Nation verboten.
Während Henry die Geschichte erzählte, bemerkte ich, dass andere Familienmitglieder zu weinen anfingen, sich in der Ecke zusammendrängten und einander festhielten. Josephs Eltern zitterten. „Wo wir herkommen, sind keine Autopsien erlaubt!“, sagte Henry. „Sie stören den Aufstieg des Geistes. Es ist ein Verstoß gegen unsere Gebräuche.“ Ich versicherte ihm nochmals, dass ich als Fürsprecherin seiner Familie handeln würde. Ein paar Minuten lang erklärte ich das übliche Verfahren im gerichtsmedizinischen Institut.
Mit seiner Einwilligung ging ich ins Büro des Instituts. Samstags arbeitete dort nur eine Gerichtsmedizinerin. Ich berichtete ihr über die Familie und unterstrich die Notwendigkeit, ihre Kultur und Gebräuche zu respektieren. Sie verstand und schlug eine Alternative vor. „Wenn wir mit Röntgen und Labortests anfangen, können wir vielleicht auch ohne Autopsie die Todesursache herausfinden“, sagte sie. „Würde die Familie das erlauben?“
Zurück im Warteraum erklärte Henry sich mit dieser Option einverstanden.
Zwei Stunden lang warteten wir gemeinsam schweigend auf die Ergebnisse. Henry flüsterte mit seiner Familie leise indigene Gebete. Ich blieb die ganze Zeit über bei ihnen, saß dabei aber schweigend auf der anderen Seite des Zimmers.
Schließlich bat mich die Gerichtsmedizinerin durch das Sicherheitsfenster zwischen Wartebereich und Büro, zu ihr zu kommen – und zum ersten Mal nahmen die Angehörigen Blickkontakt mit mir auf. Henry sah mich an, ich erwiderte seinen Blick. „Ich bin sofort zurück“, sagte ich.
Die Gerichtsmedizinerin hatte die Todesursache tatsächlich gefunden, ohne eine Autopsie durchführen zu müssen: Joseph hatte einen Darmverschluss erlitten, der sich entzündet hatte. Er war an einer Blutvergiftung gestorben. Die Gerichtsmedizinerin und ich gingen in den Warteraum, um die Familie zu informieren. Ich sprach Henry direkt an, während die Gerichtsmedizinerin zuhörte, und Henry senkte den Kopf. Die Familie begann zu weinen, als ich Josephs Todesursache erklärte. Henry zeigte weiter keine Gefühlsregung. Ich sagte: „Es tut mir sehr leid, Henry. Haben Sie Fragen, die ich für Sie beantworten kann?“
„Nein“, sagte er leise.
„Henry, möchten Sie Joseph sehen?“, fragte ich. Aus dem Augenwinkel sah ich Josephs junge Mutter mit großen Augen aufblicken, aber sie sagte nichts.
Henry antwortete: „Nein, nein, nein. Wir wollen ihn nicht sehen. Wir dürfen das nicht.“ Im Raum herrschte völlige Stille. Besorgt, dass ich Henry womöglich beleidigt hatte, entschuldigte ich mich umgehend und erklärte, dass ich mit ihrem Glauben nicht vertraut war. Ich wollte ihnen ein wenig Zeit alleine als Familie geben und bat sie deshalb um ihre Erlaubnis, den Raum zu verlassen.
Als ich in den Warteraum zurückkehrte, trat Henrys Frau sofort auf mich zu. „Wir wollen Joseph sehen. Wir haben beschlossen, dass wir ihn sehen wollen“, sagte sie. Henry nickte zustimmend. Sofort ging ich ins Büro und bereitete einen kleinen Nebenraum für sie vor. Ich funktionierte einen Bürotisch zu einem Bett um, indem ich Decken und Kissen darauf verteilte, um eine Art Wiege für den toten Jungen Joseph herzurichten. Ich holte genügend Stühle für alle und dimmte das Licht.
Wenige Minuten später kehrte ich mit Joseph zurück, der in eine angewärmte Decke gewickelt war. Henry stand sofort auf und sah mich direkt an. Einen Moment hielt er inne, blickte auf Joseph hinunter und nahm ihn mir dann behutsam ab. Seine Gesichtszüge wurden weicher. Alle waren still. Henry hielt Joseph in den Armen und begann, mit ihm in ihrer Muttersprache zu sprechen. Er küsste Josephs Füße, Arme und Wangen. Er weinte. Alle weinten. Henry band eine heilige Feder des Medizinmanns an Josephs Hemd, dann gab Henry das Kind an seine Frau weiter. Sie ließen sich zwei Stunden Zeit, damit jedes Familienmitglied einzeln Abschied nehmen konnte.
Irgendwann dachte ich, ich sollte besser gehen, und sagte Henry, dass ich sie nun alleine lassen würde. Er fasste mich am Arm und bat: „Bitte – bleiben Sie. Sie sind jetzt eine von uns.“ Nachdem sie schließlich endgültig Abschied genommen hatten, legten sie Joseph widerstrebend zurück in meine Arme.
Die Familie wartete im Parkhaus auf mich.
Ich sagte ihnen, dass ich ihnen gerne zur Verfügung stand, falls sie Fragen hätten oder in Zukunft irgendetwas bräuchten. Ich dankte ihnen für ihre Geduld, verabschiedete mich und machte mich auf den Rückweg zum Institut. Dann gellte die Stimme von Josephs junger Mutter durchs Parkhaus. Gerade an der Tür angekommen, hielt ich inne und drehte mich um. Sie ging langsam auf mich zu, dann begann sie zu laufen. Die anderen folgten ihr. Sie schlang die Arme um mich und begann zu weinen.
„Vielen, vielen Dank“, sagte sie immer wieder. Ihr junger Mann holte sie ein, umarmte uns beide und dankte mir unter Tränen. Dann trat einer nach dem anderen – auch die Großeltern – hinzu und umarmten mich.
Ich hatte sehr viel von ihnen gelernt. Ich hatte gelernt, Schülerin, Anfängerin zu sein und meine eigenen Überzeugungen hintanzustellen, um anderen zu helfen. Ich hatte etwas über Geduld und über die Kraft der Stille gelernt.
Und ich verbeugte mich dankbar vor Joseph, meinem Lehrer.
Wie so viele andere Todesfälle in diesem Buch war Josephs Tod traumatisch für die, die ihn liebten. Aber Mitgefühl und Liebe glätteten die harten Kanten des Traumas für Josephs Familie – und auch für mich. Die Begleitumstände eines von Natur aus ohnehin schon traumatischen Todes können durch die Art und Weise der Benachrichtigung der Menschen, durch dilettantische, trauerleugnende Therapien oder auch durch rechtliche Bestimmungen und unsensible Maßnahmen im medizinischen, spirituellen und gemeindenahen Bereich, die den Kontext des Traumas und seine Auswirkungen nicht berücksichtigen, massiv verschlimmert werden. Josephs Tod war für seine Eltern traumatisch – und nichts, was ich tat, konnte daran etwas ändern. Zumindest aber konnte ich dafür sorgen, dass ihnen zusätzlicher Schmerz durch ängstliche, trauervermeidende Menschen und Bürokraten erspart wurde, die nicht darauf vorbereitet waren, mit den Realitäten und Folgen traumatischer Trauer umzugehen oder sie nachzuvollziehen.
Ein traumatischer Tod verursacht traumatische Trauer. Und ein traumatischer Tod ist jeder plötzliche, unerwartete Tod, jeder gewaltsame oder entstellende Tod, jeder nach langem Leiden eintretende Tod, jeder Selbstmord, jeder Mord und jeder Tod eines Kindes jeden Alters aus jeglichem Grund. Wenn jemand, den wir lieben, auf traumatische Weise stirbt, fühlen wir uns in beängstigendem Ausmaß entwurzelt und zutiefst verunsichert. Unser Vertrauen in die Welt fühlt sich dann massiv bedroht an – was es auch ist.
Traumata wirken sich sowohl psychologisch als auch körperlich aus. Das kann sich in einer Beschleunigung von Atmung und Herzschlag, erweiterten Pupillen, kognitiven Beeinträchtigungen und Gedächtnisstörungen, Übererregbarkeit, belastenden Gedanken und Bildern, dem Gefühl, sich außerhalb des Körpers zu befinden oder keine Persönlichkeit mehr zu haben, Veränderungen der Zeitwahrnehmung, emotionaler Abstumpfung und Vermeidungsverhalten äußern. Letzteres, also der Versuch, etwas zu vermeiden oder nicht zu fühlen, ist wohl eine der fehlangepasstesten Reaktionen auf traumatische Trauer.
In dem Bemühen, nicht zu fühlen, können Trauernde in eine ständige Suche nach Ablenkung verfallen. Drogen und Alkohol, Fernsehen, Essen, Sport, Sex, Glücksspiel, Shopping, zwischenmenschliche Konflikte und sogar die spirituelle Praxis können unbewusst zu Figuren eines Schachspiels werden, das zum Ziel hat, den Schmerz zu vermeiden. Wenn es um Ablenkung geht, sind Menschen äußerst kreativ, die Möglichkeiten sind schier endlos. Wir können praktisch alles dazu nutzen, um uns von unseren Gefühlen zu distanzieren. Denn still zu bleiben und einfach bei der niederschmetternden Trauer zu sein, ist ohne den richtigen Beistand und das Gefühl körperlicher und emotionaler Sicherheit einfach zu bedrohlich.
Unser Körper reagiert auf eine Bedrohung entweder durch Flucht oder Kampf oder emotionale Erstarrung. Bei einer wahrgenommenen körperlichen oder psychologischen Bedrohung kommt es zu einer komplexen physiologischen Kettenreaktion. In weniger als einer halben Sekunde setzt das Gehirn Neurochemikalien frei, die als biologisches Alarmsystem auf die Gefahr reagieren. War die Gefahr von kurzer Dauer, wurde etwas unternommen und ist die Bedrohung vorüber, dann kehren wir rasch wieder in einen Zustand des Gleichgewichts zurück.
Bei traumatischer Trauer jedoch brauchen wir für wesentlich längere Zeit mehr Unterstützung, als viele Menschen wissen und zulassen. Traumatische Trauer ist ein anhaltender Zustand des Ungleichgewichts, an den sich der Trauernde nicht anpassen kann. Verstärkt wird das noch dadurch, dass in einer Gesellschaft, die Angst vor Leid und Schmerz hat, die den authentischen Ausdruck von Gefühlen pathologisiert und der es an unterstützenden Strukturen und Ritualen zum Gedenken an ihre Toten mangelt, keine Gewöhnung und Anpassung an Bedrohungen stattfinden kann. Diese Gesellschaft treibt Trauernde dazu, ihre Trauerreaktionen negativ zu beurteilen und falsch zu bewerten. Dann sehen wir bei uns mangelhafte Anpassungsfähigkeit („Inzwischen sollte es mir doch bessergehen“), persönliche Unzulänglichkeit („Was stimmt nicht mit mir?“) oder gar psychische Erkrankungen („Ich habe schwere Depressionen“).
Solche irrigen Glaubenssätze über Trauer führen dazu, dass wir verdrängen, uns ablenken und natürliche Trauerreaktionen vermeiden – was uns am Ende nur noch mehr Kummer und Leid beschert.