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Einleitung: Verschollen im Niemandsland

Seit letzter Nacht gibt es mich nicht mehr, ich bin ein Niemand im Niemandsland. Ich stehe mit meinem Vierzig-Tonner-Sattelzug mit Kühlauflieger in einer idyllischen Gegend an der Theiß, im Grenzgebiet zwischen Ungarn und der Ukraine, kann weder vor noch zurück und habe keine Ahnung, wie dieses Problem nun gelöst werden soll. Ich hatte die Chefs gewarnt, aber ich bin ja nur ein Trucker, und auf uns hört sowieso niemand. Und ich habe plötzlich etwas, was in meinem Beruf sehr, sehr selten ist: Zeit! Viel Zeit, sogar mehr Zeit, als mir lieb ist.

In gut zwei Metern Umkreis um mich herum habe ich in meiner Fahrerkabine alles, was ich brauche, um halbwegs komfortabel überleben zu können, selbst wenn ich hier mehrere Tage warten müsste. Ich hatte erst kürzlich all meine Wäsche waschen können und auf der Durchreise irgendwo in Tschechien Wein, Brot und Käse eingekauft. Auch meine Trinkwasservorräte sind aufgefüllt, ich habe fast zwanzig Liter dabei. Hinter dem Sitz befindet sich mein Bett, ich habe eine Taschenlampe, meinen privaten Werkzeugkasten, gute Bücher und Hörbücher, Laptop und noch einige DVDs. Außerdem ein Handy mit deutschen, ungarischen und ukrainischen SIM-Karten sowie einen dicken Stapel guter Straßenkarten von vielen Ländern. Aber die brauche ich gerade nicht, denn an Fahren ist derzeit nicht zu denken.

Um mich herum ist alles dunkel und wunderbar ruhig. Ab und zu bellt von weitem ein Zollhund, und irgendein Nachtvogel singt ein Klagelied. Das wäre ja ganz romantisch, wenn ich nicht in dieser misslichen Lage im Niemandsland wäre.

Eigentlich sollte ich auf dem Weg nach Kiew sein. Letzte Nacht kam ich von Budapest und habe nach »nur« wenigen Stunden die ungarischen Grenzformalitäten im Grenzdorf Zàhony hinter mich gebracht. Ich habe offiziell die EU verlassen, was mir durch viele wichtig aussehende Stempel auf meinen diversen Papieren bestätigt wurde. Um Mitternacht verlasse ich Ungarn, überquere den Grenzfluss Theiß und gelange nach wenigen hundert Metern zur ukrainischen Grenzstation. Die Gegend hier nennt sich Transkarpatien, die ukrainische Grenzstadt heißt je nach Schreibweise Chop oder Tschop, auf den Schildern steht aber nur auf Kyrillisch: Чоп.

An der Grenzstation beginnt die übliche Prozedur: Waage, Laufzettel, erste Kontrolle der zahlreichen Papiere, dann fünfzig Meter Fahrt zum Zollparkplatz. Nun sollte eigentlich der Hürdenlauf an den diversen Abfertigungsschaltern beginnen, doch bereits am ersten Schalter gibt es Probleme. Hier residiert die in Truckerkreisen gefürchtete Behörde SMAP, die nationale ukrainische Transportkontrollbehörde. Zuerst scheint alles reibungslos zu verlaufen, an den rund zwei Kilo Zoll- und Fahrzeugpapieren gibt es nichts zu beanstanden. Als der uniformierte Beamte jedoch die Taschenlampe aus dem Schrank holt, ahne ich schon, was nun folgen wird: Fahrzeugkontrolle. Ich weiß, was er sehen will, sie kontrollieren immer das Gleiche. Unter anderem die Reifen an den drei Hinterachsen. Zumindest auf jeder einzelnen Achse sollte links und rechts das Profil gleich sein. Die Vorschrift ist sinnvoll, in EU-Ländern wird das allerdings eher selten kontrolliert. Nicht so bei der SMAP. Meine holländische Firma hatte schon oft Probleme damit, und ich verstehe einfach nicht, wieso die Büromenschen nicht darauf achten, dass dieses Detail eingehalten wird – im Allgemeinen wegen der Verkehrssicherheit und im Besonderen bei Fahrten in die Ukraine wegen der SMAP. Nun haben wir den Salat, und ich muss innerlich ein wenig grinsen.

Viele ukrainische Polizisten und Zöllner sind korrupt. Man kann durch die diskrete Überreichung eines kleineren Euro-Scheins viele Probleme aus der Welt schaffen. Ausgerechnet bei der SMAP sind allerdings relativ wenige Beamte bestechlich, von »meinem« Kontrolleur weiß ich von früheren Grenzübertritten, dass ich es gar nicht erst zu versuchen brauche. Er bleibt sehr freundlich, weist mich aber darauf hin, dass ich mit diesen Reifen mit Sicherheit nicht in die Ukraine einreisen dürfe. Zurück im Büro, sammelt er die Papiere zusammen, gibt mir den ganzen Packen zurück und fordert mich auf, mitsamt meinem Lkw die Ukraine wieder zu verlassen. Ein Kollege erklärt mir das alles auf Englisch. Man habe meine Firma schon lange im Auge, jedes Mal gebe es Beanstandungen an den Fahrzeugen, nun reiche es, ihre Geduld sei zu Ende, ich dürfe nicht einreisen, und damit basta.

Irgendwie sehe ich sogar ein, dass sie recht haben. Ich verlasse also die Ukraine wieder, ohne überhaupt richtig eingereist zu sein. Die Ungarn aber wollen mich nicht wieder in ihr Land lassen. Ich habe keine Einfuhrpapiere für die Ware, denn deren Ausfuhr aus der EU war ja erst vor wenigen Stunden amtlich bestätigt worden. Da es weder vor noch zurück geht, bleibt mir keine andere Wahl, als im Niemandsland zu warten und für heute Feierabend zu machen. Dieses Problem sollen morgen Leute lösen, deren Meinung höher bezahlt ist als meine.

In der Kantine der ukrainischen Grenzstation habe ich mir noch ein kühles Feierabendbier kaufen können. Während ich es genieße, überdenke ich meine Situation. Seit einem Jahr bin ich also nun wieder Fernfahrer. Seitdem bin ich fast pausenlos unterwegs in ganz Europa und darüber hinaus. Ich war in 24 Ländern, immer eilig und getrieben, fast jeden Tag in einem anderen Land. Weihnachten war ich in Kiew, Ostern in Istanbul, Pfingsten in Leicester und an meinem 50. Geburtstag stand ich in einem Industriegebiet in der Vorstadt von Marseille. Zu Hause in meinem eigenen Bett habe ich schon seit Monaten nicht mehr geschlafen. Kurz gesagt: Ich habe einen ganz normalen Truckerjob.

Mit Romantik hat diese Arbeit allerdings ungefähr so viel zu tun wie das Weihnachtsgeschäft am vierten Adventssamstag mit Besinnlichkeit und Frieden. »Kapitän (oder gar König) der Landstraße«, »Freiheit und Abenteuer«, »lonesome Cowboy« – all diese Klischees haben mit der Wirklichkeit eines Fernfahrers absolut und überhaupt nichts zu tun. Diejenigen, die das am besten wissen und – wenn sie ehrlich sind – bestätigen können, sind wir selbst.

Jede Sekunde meiner Arbeit wird dokumentiert, über Satellitenpeilung kann die Firma nicht nur meinen aktuellen Standort sehen, sondern auch, ob ich fahre, stehe oder die Türen öffne. Für jede Pinkelpause habe ich mich zu rechtfertigen, ich muss sieben Tage die Woche 24 Stunden der Firma zur Verfügung stehen, der kleinste Fehler kann mich noch Wochen später bei einer Lkw-Kontrolle teuer zu stehen kommen. Oder zwei Monate später zu einem Lohnabzug führen.

Auch die Tatsache, dass ich oftmals in Gegenden fahren muss, die meine Landsleute normalerweise nur mit Urlaub assoziieren, reißt mich nicht mehr vom Hocker. Dafür habe ich dort schon zu viel hinter die Kulissen schauen können. Nach Griechenland zum Beispiel fahre ich nur, weil es mein Job ist und ich Geld dafür kriege. Ich würde niemals mehr Geld dafür ausgeben, um dort meinen Urlaub zu verbringen.

Ich fahre für einen niederländischen Familienbetrieb mit einigen Dutzend Lkw, der dieses Geschäft in der dritten oder vierten Generation betreibt. Daher habe ich leider auch gleich mehrere Chefinnen und Chefs. Neben dem Buchhalter und der Putzfrau arbeiten als Angestellte in dem Betrieb noch zwei bis drei sogenannte Disponenten, das sind die Planer der Touren. Sie sind zwar eigentlich Kollegen und auf unsere Zusammenarbeit angewiesen, aber diese Schreibtischhengste behandeln alle Fahrer so, als wären sie ebenfalls unsere Vorgesetzten. In dieser Firma herrscht ein rauer Ton. Vorher hielt ich Niederländer immer für freundlich und tolerant. Von diesem Bild ist nichts mehr übriggeblieben. Sowohl den Chefinnen und Chefs als auch den Disponenten scheint es wichtig zu sein, die Fahrer so schlecht wie möglich zu behandeln. Zu den niederländischen Kollegen sind sie unfreundlich, zu uns Ausländern geradezu feindselig. Die Chefs sind zudem launisch und oft auch cholerisch. Es herrscht ein Klima von Angst, Einschüchterung und guter Miene zum bösen Spiel. Wir Fahrer sind immer froh, wenn wir endlich wieder auf Tour gehen und uns dieser aggressiven Atmosphäre entziehen können.

Möglicherweise ist dieser Betrieb extrem ausbeuterisch und verstößt mit geradezu krimineller Energie gegen zahlreiche Gesetze, aber das Muster kennt fast jeder Trucker. Folgende Dinge gehören in der gesamten Branche zum Alltag der Fahrer: Respektlosigkeit, Einschüchterung, Kontrollen, Unregelmäßigkeiten bei der Abrechnung von Spesen und Arbeitsstunden, Lohnkürzung, Lohnausfall, Lügen gegenüber Kunden und Fahrern, Verstoß gegen zahlreiche Sicherheitsauflagen sowie der ständige Druck, gegen alle möglichen Gesetze verstoßen zu müssen. Aber begleiten Sie mich doch am besten auf einigen Touren und machen Sie sich selbst ein Bild von den Lebensbedingungen der sogenannten »Könige der Landstraßen«.

Geschlafen wird am Monatsende

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