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Lenk- und Ruhezeiten: Gut gemeint, aber flächendeckend missachtet

Die Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten für Lkw-Fahrer sind mittlerweile einheitlich in der gesamten EU. Die Verordnung (EG) 561/2006 ist sehr ausgefeilt, dadurch jedoch hochkompliziert und bietet auch an Fernfahrerstammtischen immer wieder Anlass zu ausgiebigen Diskussionen. Dennoch wird von jedem Trucker in ganz Europa erwartet, dass er sie kennt und befolgt. Nicht mal von den kontrollierenden Polizisten verlangt man das – sie haben ein Gerät, mit dem sie die digitalen Tachos auswerten können. Nicht selten meldet diese Technik irgendeinen Verstoß, und die Beamten müssen dann selbst erst mal lange nachblättern, ehe sie herausfinden, gegen was genau verstoßen wurde.

Die Verordnung ist zudem ein Musterbeispiel für effektiven Lobbyismus. Gerade die deutschen Regierungen jedweder politischer Couleur haben sich immer vehement gegen eine sozialere (und dadurch verkehrssichere) Gestaltung dieser Arbeitszeitregelung gewehrt – die Interessen der Wirtschaft sind SPDCDUFDPGRÜNEN offensichtlich wichtiger als die Verkehrssicherheit der Allgemeinheit. Begriffe wie Acht-Stunden-Tag oder Vierzig-Stunden-Woche klingen für Trucker wie Märchen aus einer fremden Welt. Die Brüsseler Bürokraten haben extra für sie den Begriff der Doppelwoche erfunden. Neunzig Stunden Lenkzeit dürfen es in einer Doppelwoche maximal sein, jedoch immerhin bis zu 56 Stunden innerhalb einer Woche. Das sind wohlgemerkt nur die Lenkzeiten, hinzu kommen noch Wartezeiten, Be- und Entladen, Reparaturen, Grenzabfertigungen, Tanken, und so weiter. Diese Zeiten sind zwar eigentlich auch Arbeitszeit, da das Fahrzeug nicht bewegt wird, ist das jedoch schwer zu kontrollieren und wird meistens als Freizeit eingestuft. Übrigens gilt das auch für den Lohn: Viele Speditionen bezahlen nur für die Zeit, in der der Wagen rollt, bei mir war das auch so. Wenn ich also selbst ausladen musste, bekam ich diese Zeit noch nicht einmal bezahlt.

Ein paar weitere Zahlen: Jedes Wochenende muss/darf der Fahrer 24 Stunden Pause einlegen, jedes zweite 45 Stunden.

Die tägliche Lenkzeit darf bis zu neun Stunden und zweimal pro Woche auch bis zu zehn Stunden betragen. Nach spätestens viereinhalb Stunden muss man 45 Minuten Pause einlegen. In der Praxis werden Be- und Entladezeiten, Grenzabfertigungen oder Verzollung oft offiziell als Pause deklariert, der Wagen ist ja schließlich nicht gerollt. Dann hat also nur der Truck Pause, der Fahrer steht währenddessen in irgendeiner Schlange am Schalter, wuchtet Paletten durch die Gegend, wechselt einen Reifen oder betankt das Fahrzeug.

In der Pause darf das Fahrzeug nicht einen Meter bewegt werden. Wenn ein Fahrer nach 25 Minuten Pause den Lkw einige Meter weiter bewegen muss, etwa damit jemand anderes aus- oder einparken kann, ist die (offizielle) Pause im Eimer. So etwas kann dann zwei Wochen später tausende Kilometer entfernt in einer Kontrolle richtig teuer werden, wenn ein Polizist schlechte Laune hat oder seine Arbeit tausendprozentig ernst nimmt: Der Fahrer muss die letzten 28 Tage Arbeitszeit lückenlos nachweisen können. Dieses Detail der ansonsten sehr sinnvollen und eigentlich noch viel zu liberalen Gesetzgebung finde ich diskriminierend. Es ist ja richtig und berechtigt, dass die Einhaltung der Ruhezeiten kontrolliert wird. Dass das aber gleich für die kompletten letzten 28 Tage gilt, halte ich für übertrieben. Ob man ausgeschlafen im Straßenverkehr unterwegs ist, ergibt sich aus den Lenk- und Ruhezeiten der letzten zwei bis drei Tage und nicht der letzten vier Wochen.

Auch die Einhaltung der anderen Bestimmungen sollte kontrolliert werden, aber das könnte ja – wie in jeder anderen Branche – bei jährlichen Betriebsprüfungen geschehen anstatt bei täglichen Polizeikontrollen, schließlich sitzen dort auch die Verantwortlichen für eventuelle Vergehen. Dass es in den Niederlanden mit den Betriebsprüfungen nicht weit her ist, schließe ich aus der Tatsache, dass meine Arbeitgeber mit ihrer Urlaubsscheinpraxis seit Jahren nicht auffliegen – dazu gleich mehr. In Frankreich etwa kommen die Behörden ihrer Aufsichtspflicht sehr viel gewissenhafter nach, die Chefs können sich solche kriminellen Tricks nicht erlauben.

Uns Fahrern hingegen drohen ständige Kontrollen, die oftmals auch schikanös ausfallen. Man muss bezahlen für kleinste bürokratische Verfehlungen. Wer die Tachoscheibe erst nach 24 Stunden und fünf Minuten wechselt, kann dafür in Spanien oder Ungarn ein halbes Monatsgehalt abgeknöpft bekommen. In Istanbul musste ich mal drei Tage warten und bin in ein Hotel gegangen. Weil ich in dieser Zeit aber die Tachoscheibe nicht gewechselt habe, sollte ich in Bulgarien mehrere hundert Euro Strafe bezahlen. Da nutzte weder die Hotelrechnung etwas noch die Tatsache, dass der Wagen in dieser Zeit null Kilometer zurückgelegt hatte.

Stellen Sie sich vor, ein Metzger verkauft einem Kunden irrtümlich Mett statt Mettwurst. Oder eine Sekretärin klebt eine Briefmarke zu wenig auf einen Brief. Oder ein Buchhändler verwechselt Stefan Zweig und Stefanie Zweig und bestellt ein falsches Buch. Stellen Sie sich dann des weiteren vor, dass vier Wochen später die belgische oder ungarische Polizei in diesen Betrieb kommt und alles kontrolliert. Wenn dem Metzger, der Sekretärin oder dem Buchhändler dann eine Geldstrafe von einigen hundert oder gar tausend Euro für diese Verfehlung aufgebrummt würde, käme man der Fernfahrerrealität sehr nahe.

Neben der reinen Lenkzeit gibt es auch Höchstgrenzen für die Schichtzeiten. Eine Schicht darf bis zu dreizehn Stunden und dreimal wöchentlich unter bestimmten Bedingungen sogar bis zu unglaublichen fünfzehn Stunden betragen! Doch selbst diese arbeitgeberfreundlichen Gesetze werden von vielen Spediteuren systematisch übertreten. Zwar gibt es mittlerweile in den meisten europäischen Ländern viele Kontrollen, aber es gibt auch viele Tricks, mit denen versucht wird, die Kontrolleure hinters Licht zu führen. Und wenn die Kontrolleure nicht extra auf solche Vergehen spezialisiert sind, gelingt das auch oft. Aber spätestens in einer Kontrolle, die auf Lkw-Transporte spezialisiert ist, oder bei einem Unfall fliegt das alles sowieso auf.

Bei den Spezialkontrollen wird auch regelmäßig entlarvt, wie flächendeckend die Gesetze im Speditionsbereich übertreten werden. Üblicherweise liegt der Anteil der Fahrzeuge, an denen die Kontrolleure etwas zu beanstanden haben (Ladungssicherung, Mängel am Fahrzeug, Arbeitszeitüberschreitungen und vieles mehr) bei über fünfzig Prozent, nicht selten sogar bei über achtzig Prozent. In der Presse liest man hin und wieder von diesen Spezialkontrollen, aber außer den Kontrolleuren scheint das kaum jemanden zu stören. Ich wundere mich immer wieder darüber, dass es so gut wie keinen Politiker und keinen Verkehrsteilnehmer stört, was da für rollende Zeitbomben auf unseren Autobahnen unterwegs sind. Verkehrstote werden scheinbar so widerspruchslos hingenommen wie Nieselregen oder Schnupfen.

Bis vor wenigen Jahren wurde die Arbeitszeit nur durch einen Fahrtenschreiber dokumentiert, alle 24 Stunden muss der Fahrer die Tachoscheibe wechseln. Seit Mai 2006 ist jedoch der elektronische Fahrtenschreiber europaweit Pflicht bei allen Neufahrzeugen. Alle Daten werden 365 Tage lang auf einem Chip im Fahrzeug und 28 Tage lang auf der Chipkarte des Fahrers, der sogenannten Fahrerkarte, gespeichert. Manipulationen und Tricksereien sind mit dem digitalen Tacho zwar sehr viel schwieriger, aber immer noch möglich. Manch eine Spedition legt sich nur deswegen keine Neuwagen zu, weil der alte Fahrtenschreiber mehr Manipulationsmöglichkeiten bietet.

Die gängigste Manipulationsmethode ist der sogenannte Urlaubsschein, auf Niederländisch »Vakantiebrief«. Diese Urkunde bescheinigt dem Fahrer, dass er die letzten vier Wochen nicht gearbeitet hat, weil er Urlaub hatte oder krank war. Das Gesetz schreibt Format und Inhalt dieses Schreibens bis ins Detail vor. So kann ein Polizist in einem fremden EU-Land die Bescheinigung sofort erkennen, selbst wenn sie in einer anderen Sprache ausgestellt ist, und sieht das Ausstellungsdatum und von wann bis wann der Urlaub gedauert hat. Das Dumme und Unglaubliche daran ist nur: Das kann erfunden und gelogen sein, denn jeder Spediteur darf dieses Dokument für seine Fahrer selbst ausstellen! Ich bekam einen solchen Vakantiebrief von meiner Firma zu Beginn jeder

Tour, also alle ein bis zwei Wochen. Der Chef hat dadurch gleich drei Vorteile: Er muss sich erstens nicht um die maximal erlaubte Arbeitszeit in der Doppelwoche kümmern, kann seinen Fahrer also jede Woche 56 Stunden fahren lassen. Er braucht ihm zweitens auch kein langes Wochenende zu gestatten, 24 Stunden am siebten Tag reichen dann – ich habe zeitweise über Monate kein Zwei-Tage-Wochenende gehabt. Der dritte Vorteil für den Chef ist schließlich der für die Verkehrssicherheit gefährlichste: Ich bekam den Vakantiebrief meistens nachmittags oder abends in die Hand gedrückt und hatte an diesen Tagen oft schon zwölf Stunden gearbeitet, hätte also eigentlich elf Stunden Pause machen müssen. Mit diesem frischen, oder besser gesagt, frisch gefälschten, Dokument musste ich dann ohne Pause an die volle Schicht eine weitere anhängen.

Bei Polizisten erregt dieser Urlaubsschein selbstverständlich Misstrauen. Mir ist es mehrfach passiert, dass die Polizei meine Kabine durchsucht hat, wenn ich den Schein bei einer Kontrolle vorgezeigt habe. Ob sie das ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl überhaupt darf, ist gar nicht so klar, aber sie tut es eben. In der Praxis musste ich in den unterschiedlichsten Ländern mit geballter Faust in der Tasche zusehen, wie Polizisten und sogar privater Werkschutz bei allen möglichen Anlässen mein Bettzeug, meine persönlichen Sachen, ja sogar meine Dreckwäsche durchwühlt haben. Die Polizisten suchen nach Belegen dafür, dass ich in der Vorwoche sehr wohl gearbeitet habe. Hätten sie auch nur eine einzige Quittung gefunden, ein von mir unterschriebenes Formular oder irgendeinen anderen Beleg, dann hätte mich das mehrere tausend Euro gekostet. Denn dann wäre nicht nur eine satte Geldstrafe wegen Überschreitung der zulässigen Lenkzeit fällig gewesen, sondern auch ein Strafverfahren gegen meinen Chef und gegen mich wegen Betrugs und Urkundenfälschung. Als Fahrer befindet man sich mal wieder in der Zwickmühle: Einerseits soll man das befolgen, was der Chef sagt, ansonsten droht die Kündigung. Andererseits soll man die Gesetze einhalten, ansonsten drohen Geldstrafen, Führerscheinentzug, Punkte in Flensburg, Strafverfahren und Schlimmeres. Wenn nun das Gesetz und der Chef unterschiedliche Dinge von einem wollen, dann muss man, will man den Job nicht verlieren, gezwungenermaßen zum Rechtsbrecher werden. Das erinnerte mich an den alten Sponti-Spruch: »Du hast keine Chance, nutze sie!«

Da ich immer einen gefälschten Urlaubsschein bei mir hatte, war es auch nur schwer möglich, Aufzeichnungen über meine Touren zu machen, gar Tagebuch zu führen sowie die gefälschten Dokumente aufzubewahren. Aber ich habe einen Weg gefunden, zahlreiche Beweise für die ständigen Gesetzesverstöße zu dokumentieren.

Die Urlaubsscheine müssen vom Chef sowie vom Fahrer unterschrieben werden. Das habe ich nie gemacht, da ich mir die illegale Praxis nicht zu eigen machen wollte. Einmal bin ich in Frankreich nachts um drei Uhr an der Autobahnzahlstelle bei Tours in eine große Kontrolle gekommen. Zum Glück hat es mir in Frankreich oftmals geholfen, dass ich recht gut französisch spreche, das freute die Polizisten immer. Der Beamte betrachtete den Urlaubsschein mit größtem Misstrauen. Er sagte, den müsse ich ja noch unterschreiben, »vergaß« aber zum Glück, darauf zu bestehen – ich hätte das nämlich nicht gemacht. Stattdessen sah er mir in die Augen und fragte mich, ob ich denn wirklich letzte Woche nicht gearbeitet hätte. Da war es wieder, das unlösbare Dilemma: Was auch immer man antwortet, es kann jede Menge Ärger einbringen. Ich wollte ihn nicht anlügen und mich so zum Komplizen meines Chefs machen. Ich dachte an den braven Soldaten Schwejk und antwortete ihm: »Das ist jetzt eine schwierige Frage. Mein Chef hat gesagt, wenn mich ein Polizist danach fragt, dann solle ich ihm dieses Papier in die Hand drücken. Und darüber hinaus kann ich Ihnen nur Folgendes erklären: Wenn Sie das denken, was ich denke, dass Sie es denken, dann sind Sie ein guter Polizist. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.« Damit hatte ich mal wieder Glück gehabt. Der Polizist sah mich an, grinste, gab mir meine Papiere zurück und ließ mich weiterfahren.

In der Slowakei hingegen hat mich ein Polizist einmal aufgefordert, das Papier zu unterschreiben. Ich habe das verweigert mit der Notlüge, das sei auf Niederländisch und ich wisse nicht, was ich da signiere. Dass ich damit durchkam, war ebenfalls nur Dusel, kurz vor Feierabend wollte der Polizist anscheinend keinen Stress mehr haben. Ich hatte beschlossen, andernfalls die Wahrheit zu sagen, egal in welchem Land ich kontrolliert werde. Dann wäre nur mein Chef wegen der Straftat der Urkundenfälschung dran. Teuer wäre es jedoch auch für mich geworden, weil immer noch die Ordnungswidrigkeit der erheblichen Arbeitszeitüberschreitung bliebe.

Wir Fahrer bekommen oft vorgehalten, dass wir uns mitschuldig machten, wenn wir uns bereiterklären, gegen die einschlägigen Gesetze zu verstoßen. Auch die wenigen Kollegen, die das Glück haben, dass sie in ihrem Job ganz legal bleiben dürfen, äußern sich oft dahingehend. Dieser selbstgerechte Vorwurf ist jedoch lebensfremd, besonders in Krisenzeiten. Wer sich weigert, Arbeitszeiten zu überschreiten, fliegt in vielen Betrieben ganz schnell raus. Wer zehn Stunden an einer Grenze oder einer Ladestelle warten muss und danach Feierabend macht mit Verweis auf die Gesetze, wird in diesen Klitschen keine große Zukunft haben. Natürlich wird irgendeine andere Begründung vorgeschoben, die Spediteure sind ja nicht blöd. Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Krisen ist es sehr schwierig, eine neue Arbeit zu finden – und praktisch unmöglich, wenn man nur Jobs annehmen will, bei denen man hundertprozentig legal bleiben kann.

Wenn die Politik nicht so von Lobbyismus zerfressen wäre, sondern ein ernsthaftes Interesse hätte, dieses Problem zu lösen, dann gäbe es dazu eine ganz einfache erste Maßnahme: Straffreiheit bei Selbstanzeige – aber das gibt es nur für Steuerbetrüger. Wie gern hätte ich manches Mal die Polizei gebeten, mich aus dem Verkehr zu ziehen, weil ich so müde war. Aber selbst der verständnisvollste, freundlichste Polizist hat rechtlich gar nicht die Möglichkeit, dann ein Auge zuzudrücken. Würde das geändert – nicht wenige Fahrer würden davon Gebrauch machen, da bin ich mir sicher, und außerdem würde die Verkehrssicherheit garantiert verbessert. Wenn man die Vernunft als Maßstab nähme und nicht wirtschaftliche Interessen, dann gäbe es überhaupt keinen Grund, der gegen eine solche Gesetzesinitiative einzuwenden wäre.

Doch nun springen wir an einem beliebigen Tag rein in das Leben eines internationalen Fernfahrers. Alle Begebenheiten aus dem folgenden Logbuch sind wirklich so passiert – teilweise mir, teilweise meinen Kollegen. Ich hatte viel Streit mit meinen Chefs, weil ich auf der Einhaltung der geltenden Vorschriften bestand. Da ich weiß, dass etliche meiner Kollegen zu Übertreibungen neigen, war ich kritisch in der Recherche, habe mir Tachoscheiben und Schriftliches von ihnen zeigen lassen oder war gemeinsam mit ihnen unterwegs und stehe dafür ein, dass der Ich-Erzähler im Folgenden leider nichts als die reine, traurige Wahrheit erzählt.

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