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Ushuaia

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Zum ersten Mal gesehen hatte er sie natürlich im Rahmen einer Erstberatung zu ihrem Trennungskonflikt. Außerhalb seines Berufs lernte Scheidungsanwalt Günter Trobitius keine Frauen mehr kennen, und es drängte ihn auch nicht danach, weil er zu der Überzeugung gelangt war, dass seine eigene schon anstrengend genug war. Überdies war er im Laufe der Jahre notgedrungen Frauenversteher geworden, und was er verstanden hatte, ließ das Bedürfnis, sein Privatleben mit weiteren Exemplaren dieses Geschlechts – gleich, in welcher Rolle - auszustaffieren, merklich abschwellen, nicht nur wegen der offenkundigen Defekte ihrer Gefühlswelt, sondern auch wegen des Mangels an unenträtselbaren Geheimnissen.

Die Mandantin war mit einem grauenhaften T-Shirt erschienen, auf dem in unentschlossen stilisierter Form die Ostküste Südamerikas abgebildet war.

Günter Trobitius kannte sich in Geographie einigermaßen aus. Das war nichts, worauf er stolz war. Er hielt das für völlig normal, und er hatte nie aufgehört, sich darüber zu wundern, dass vielen Leuten, auch Akademikern, die geringste Orientierung auf diesem Gebiet fehlte. Dass Omaha im Norden und Oklahoma City im Süden der USA liegt, dass der asiatische Teil Russlands größer ist als der europäische und dass die Osterinsel politisch zu Chile gehört, war ihm ebenso geläufig wie die Tatsache, dass auf den Falckland-Inseln englisch gesprochen wird, dass Indonesien mehr als 200 Millionen Einwohner hat und dass die argentinischen Straußenvögel nicht Emus heißen, sondern Nandus. Einem Geographielehrer zu begegnen, der darauf bestand, dass Lanzarote im Mittelmeer liegt, und der nicht eine einzige kanadischen Prärieprovinz benennen konnte, schlimmer noch: bei Wer wird Millionär einen veritablen Professor dieses Fachs vorgesetzt zu bekommen, der die Kurilen nicht von den Aleuten unterscheiden konnte, machte ihn ebenso fassungslos wie der Drehbuchschreiber eines Tatort-Krimis, in dem der Protagonist von Bulgarien aus über die Grenze nach Moldawien fährt, obwohl Rumänien dazwischen liegt, oder der TAZ-Journalist, der allen Ernstes schrieb, dass der ecuadorianische Nationalpark, zu dessen hälftiger Finanzierung die UNO beitrage (um zu verhindern, dass dort nach Erdöl gebohrt werde), über die Grenze nach Argentinien hineinrage, obwohl ja nun Peru und Bolivien einer solchen Grenzüberschreitung im Wege sind. Gelegentlich erinnerte er sich an eine Stelle in der Autobiographie von Pablo Neruda, in der dieser gelinde Zweifel an den enzyklopädischen Kenntnissen seiner intellektuellen Pariser Freunde äußert, die keine Ahnung haben, wo Chile liegt, aber ganz sicher sind, das es dort Elefanten gibt.

Immer wenn Günter Trobitius, dessen Erdkunde-Kenntnisse ja durchaus auch lückenhaft waren, so sehr er sich gelegentlich mühte (eines seiner Mantras war das Quartett der Großstädte in Ohio, die mit C anfangen, und an schlechten Tagen fiel ihm entweder Canton oder Cleveland nicht ein), mit der sektoralen Ignoranz seiner Umwelt konfrontiert wurde und auf diese Weise vorgeführt bekam, dass er hier herausragte, schämte er sich ein bisschen. Denn was war das schon? Kleinkram, Kinderwissen. Nicht zu vergleichen mit dem Wissen derer, die einem vergeblich zu erklären versuchen, wie eine Leber funktioniert oder was Enzyme sind, wie man das Begründungsproblem in der Ethik löst oder wie die statischen Voraussetzungen einer Hängebrücke zu ermitteln sind.

Um sich in Geographie im engeren Sinne auszukennen, braucht man sich bloß eine Weltkarte an die Wand zu hängen und sie ein paar Stunden anzustarren. Schon kann man die Westafrikanischen Staaten von Nord nach Süd abklappern und weiß, dass der Kilimandjaro weder in den Rocky Mountains noch in Nepal liegt. Dann liest man noch eine 500 Seiten-Schwarte zur Länderkunde und besucht flankierend einen Zoo. Na gut, wenn man in Geschichte und im Sprachunterricht nicht durchgängig geschlafen hat, ist das durchaus hilfreich. Sonst kann es passieren, dass man zwar Antwerpen auf Anhieb auf der Landkarte findet, aber die feste Überzeugung äußert, dass dort belgisch gesprochen wird.

Das war´s dann aber auch schon. Nichts, worauf man stolz sein sollte.

Der Vorteil, so dachte Günter Trobitius immer, besteht darin, dass man die Wirklichkeit ein wenig mehr durchdrungen hat. Der Nachteil ist: Man hat seine Unschuld verloren und wird deshalb schon zornig, wenn es in den Nachrichten heißt, der G 7-Gipfel habe auf den Azoren stattgefunden. Auf allen neunen? Wie denn das? Solche Nachrichten lösen einen leichten Google-Zwang aus. Aha, die Konferenz fand in Lages auf Terceira statt. Warum sagt ihr uns das nicht gleich.

Scheidungsanwalt Günter Trobitius starrte also auf die T-Shirt-Landkarte seiner Mandantin und sein abseitiges Interesse erwachte. Er hatte sie Personalien der Eheleute und der Kinder sowie die wichtigsten Daten zum beiderseitigen Einkommen und Vermögen aufgenommen und konnte nun so tun, als höre ihr zu, während sie zu einer längeren Selbstrechtfertigungsrede ausholte, die sich inhaltlich mit der plastischen Schilderung der Schlussphase des ehelichen Zusammenlebens deckte. Er hegte den amateurhaften Optimismus, dass eine Frau aus knapp zwei Metern Entfernung – sein Schreibtisch war ungewöhnlich bauchig – nicht sehen kann, ob einem das Gegenüber in die Augen oder auf die Brust blickt, und fing an der Amazonas-Mündung an.

Ah, Belém ist drauf, sogar Marajó im Delta, größte Flussinsel der Welt. Sehr schön. Weiter im Westen ist Manaus eingezeichnet. Richtig fett. Schönes Zugeständnis, denn eigentlich konzentriert sich die Karte ja auf die Küstenregion. Weiter die Küste runter, Richtung Ostostsüd. São Luís fehlt. Fortaleza ist drin, kann man ja auch erwarten bei 2,5 Millionen Leuten. Natal haben sie weggelassen, na gut. Aber da, João Pessoa. Alle Achtung. Auf den Reiseprospekt-Karten ist immer nur Recife drauf, ca. 100 km südlich. Über João Pessoa könnte ich ihr viel erzählen, nicht nur, dass es die östlichste Stadt Amerikas ist, sondern auch, dass sie nach einem Gouverneur benannt ist, der eigentlich Vizepräsident unter dem großen Getúlio Vargas werden sollte, dann aber 1930 sozusagen noch rechtzeitig gemeuchelt wurde, wobei man bis heute nicht weiß, ob es ein politischer Mord war oder eine Eifersuchtsgeschichte, aber das interessiert hier keine Sau. In Brasilien auch nicht mehr. Wichtiger ist, und das zeigt die Design-Katastrophe des bunten Hemdchens, dass João Pessoa genau denselben Breitengrad hat wie ihre Nuckelnuppel. Die Brüste führen hier zum Glück nicht zu wesentlichen Verzerrungen des Landschaftsreliefs, weil ... wie hat diese Sachverständige im Kunstfehlerprozess neulich so unnachahmlich höflich und einfühlsam zu meiner Mandantin gesagt? Sie sind da ja recht zart gebaut.

Tja, und deshalb nun Südamerika in 3 D. Und mit der Stimme aus dem Off, die allerdings ihr Thema verfehlt hatte. Keine Erläuterung der landwirtschaftlichen Nutzung des fruchtbaren Küstenstreifens, der Sklavenhaltung bis vor gut 100 Jahren, des Reichtums der Zuckerbarone, der genetischen Spuren der Holländer, denen Pernambuco vor vier Jahrhunderten drei Generationen lang gehörte, nichts über den Regenmangel im Sertão und die Revolte von Canudos, immer nur der Ehemann, der eine andere habe, keinen Unterhalt für die Tochter zahle und ihr jetzt das Auto nicht überlassen wolle ...

Sie sind da ja recht zart gebaut - das hätt ich als Mann nicht hinbekommen, auch wenn ich wie die Sachverständige schon seit 20 Jahren im Brustzentrum tätig gewesen wäre.

Andererseits, wenn ich ruppig bin, und das bin ich meistens, trifft´s auch die Richtigen. Da pass ich schon auf. Ja, genau, dieser Schweinehund von der Versicherung, der mich anrief, als ich den Prozess gewonnen hatte, und mich mit dem Kollegen von der Gegenseite verwechselte, um dann gleich den üblichen Haftpflichtversicherungssachbearbeiterquatsch loszuwerden: Bei einer solchen Rechtsprechung solle man sich nicht wundern, wenn die Versicherungen die Prämien erhöhen müssten, um nicht pleite zu gehen, und dann würden die Leute wieder auf die Assekuranz (er sagte wirklich Assekuranz) schimpfen statt auf die Oberlandesgerichte, usw. Ich hatte ihn dann lachend unterbrochen, um das Missverständnis aufzuklären. Er fing sich überraschend schnell und sagte tatsächlich, ich müsste doch auch zugeben, dass 50.000 € Schmerzensgeld bei so einer kleinen Titte eindeutig zu viel wär, und ich spürte, wie mir die Wutflamme durch die Brust schoss, nicht nur, weil die Mandantin mir erzählt hatte, dass sie Haltungsschäden bekommen hätte, weil rechts das geringe Gegengewicht fehlte, und ich hörte mich sagen: "Na ja, wenn Sie Ihren Schniedelwutz in die Heißmangel gekriegt hätten, würden Sie sicherlich nicht meinen, dass 50.000 € zu viel sind."

Einen Moment war es ganz still in der Leitung. Dann sagte der Minuskavalier, er habe keine Verlassung gegeben, ordinär zu werden. "Doch", korrigierte ich ihn, "wenn Sie die Höhe des Schmerzensgeldes von der Größe der amputierten Brust abhängig machen, sind Sie auf dem Niveau von RTL II mit seinem Tittenwiegecontest." Er musste nicht nachfragen, was das ist, er hatte die Sendung mit Sicherheit gesehen.

Nun, unter diesem T-Shirt hier wär nicht viel zu wiegen gewesen. Die linke Brust orientierte sich ungefähr an der Küstenkordillere, die rechte an der den peruanischen Anden. Die sind zwar doppelt so hoch, aber die Brüste einer Frau sind ja auch nicht immer symmetrisch. Das südliche Amazonastiefland war allerdings ein bisschen zu breit geraten.

In diese versunkenen topographisch-anatomischen Betrachten hinein platzte der Wechsel in der Modulation der Stimmführung der Mandanten: "Entschuldigung, ich erzähl Ihnen hier, wie meine Ehe den Bach runter gegangen ist, aber ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass Sie mir auf die Brüste starren."

"Und starren Sie nicht dauernd auf meine Titten, Mister ...", murmelte Günter Trobitius mechanisch und kaum hörbar.

"... sonst hau ich Ihnen die Scheiße aus den Knochen", ergänzte die Mandantin.

Günter Trobitius fiel die Kinnlade herunter. "Sie haben Bukowski gelesen?"

"Ach wissen Sie, ich habe Anglistik studiert, und nach 200 Seiten Jane Austen brauch ich immer dringend so etwas wie Big Bart. Wer immer nur ungezuckerten grünen Tee trinkt, muss auch mal einen rauchigen Whiskey hinterherschicken."

"Umgekehrt ist mir das nie so gegangen", gestand Günter Trobitius, "aber zurück zu meinen angeblich lüsternen Blicken, denn darauf wollten Sie ja wohl hinaus. Ich muss schon sagen, Sie machen mir Spaß. Sie erscheinen hier mit einer Landkarte und wundern sich, dass ich mich dran festgucke."

"Landkarte?"

"Na, Ihr T-Shirt."

Sie lachte befreit.

"Ach du Schreck. Entschuldigung. Das Ding ist grässlich, aber ich musste es heute Mittag meiner Tochter zuliebe tragen. Sie ist gestern aus Bahia zurückgekommen, da war sie 9 Monate lang Au-Pair. Sie hat mir das Ding mitgebracht, und ich hatte vorhin keine Zeit mehr, mich umzuziehen."

"Salvador."

"Bitte?"

"Salvador heißt die Stadt. Sie ist die Hauptstadt des Bundesstaates Bahia. Schauen sie mal, ich schätze, es steht sogar drauf, müsste direkt in der Falte unter ihrer linken Brust sein."

Sie hob Ihre linke Brust mit der linken Hand etwas an, was, wie Rechtsanwalt Günter Trobitius fand, durchaus anmutig aussah.

"Wenn ich das von oben richtig lese ... stimmt. Ich hoffe, dass Sie bei der Unterhaltsermittlung genau so pingelig sind."

"Keine Sorge. Ich hab schon bisher gut zugehört. Bin zwar männlichen Geschlechts, aber für so viel Multitasking reicht es noch, dass ich alles Rechtsrelevante herausfiltern kann, obwohl Sie hier in Begleitung der südamerikanischen Ostküste zu mir gekommen sind. Wissen Sie, ich habe eine besondere mentale Beziehung zu Brasilien, und gucke dann natürlich unwillkürlich, ob das Wichtigste drauf ist."

"Ach so, dann tun Sie sich keinen Zwang an. Ich unterbreche kurz, bis Sie mit Ihrem, äh, visuellen Kontrollgang fertig sind."

"Danke, geht schnell. Ich kann Sie auch gern beteiligen."

"Herr Rechtsanwalt, ich habe gerade andere Probleme und Interessen, aber wenn´s sein muss ..."

Sie wirkte mittlerweile eher amüsiert als genervt.

"Gut. Salvador hatten wir schon. Au, Porto Seguro fehlt."

"Na und?"

"Na, an der Stelle ist Brasilien entdeckt worden."

"Hochinteressant. Ich bin sicher, dass Sie auf den Tag genau wissen, wann."

"Klar, 21. April 1500. Rio ist drauf, São Paulo auch, Belo Horizonte fehlt."

"Belori was?"

"Be-lo-ri-song-tschi. Millionenstadt immerhin. Kennt jeder Fußballfan. Viele Brasilianer, die in der Bundesliga spielen, kommen von einem der dortigen Spitzenclubs, Atletico Mineiro und Cruzeiro."

"Bitte, nicht das noch. Außerdem: Wenn Beo Dingsda nicht auf der Karte ist, liegt´s vielleicht daran, dass nur die Küstenstädte drauf sind, hm?"

"Kann nicht sein. Manaus und São Paulo sind ja auch drauf."

"Skandalös. Am besten, ich flieg morgen nach Brasilien und tausch es um."

Rechtsanwalt Trobitius war entzückt von ihrem sarkastischen Lächeln.

"Glänzende Idee. Vorher lassen Sie mich bitte noch ... Moment, bin auch gleich durch. Florianopolis fehlt, Porto Alegre ist drauf, sehr schön, da ist Brasilien auch schon zuende. Montevideo, Buenos Aires, Rosario hätte noch reingepasst, Schade, da ist jetzt ihr Gürtel."

"Was vermissen Sie denn noch?"

"Ushuaia."

"Wo ist das denn?"

Rechtsanwalt Günter Trobitius schaute seiner Mandantin ungerührt in den Schritt und sagte "Feuerland".

Wie konnte mir das wieder passieren? fragte er sich mit der Nervosität dessen, der zu weit gegangen ist. Ich hätt ja auch tierra del fuego sagen können, das hätt sie nicht verstanden und alles wär gut gewesen. Wenn sie jetzt aufsteht und einen Satz ausspeit, der mit einem entrüsteten "Also wirklich" beginnt, seh ich sie nicht wieder. Wenn sie lacht und bleibt, werd ich mich für sie im Scheidungsprozess zerreißen.

Seine Mandantin lachte sehr laut, und es klang, wie Rechtsanwalt Trobitius fand, ein bisschen nach seinen weiblichen Auszubildenden, wenn sie zu viel billigen Sekt getrunken hatten. Ihr Lachen brach abrupt ab, so wie es bei vielen kopfgesteuerten Frauen geschieht, die registrieren müssen, dass sie unter ihrem Niveau gelacht haben. Sie stand auf und sagte:

"Also wirklich, ich bin nicht hergekommen, um mir hier Ihre Anzüglichkeiten anzuhören. Irgendwann reicht es. Es gibt noch andere gute Anwälte."

Grußlos wandte sie sich zum Gehen.

Schuld und Bühne

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