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Akustische Emissionen

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Ich bin lieber gleich zu ner Frau gegangen.

Ein Mann als Anwalt – nee, das hätte bei der Geschichte, die ich dir jetzt erzähle, gleich zu den üblichen Männersprüchen geführt, mindestens zu kleinen Anspielungen. Solchen Kumpaneischnacks und chauvinistischen Äußerungen. Kennste eine, kennste alle. In der Preislage halt. Du kennst das ja wahrscheinlich auch. Man braucht Männern nur eine Weile zuzuhören.

Und wenn ich den Typ, zu dem ich sonst immer gehe, wenn ich rechtliche Probleme habe, also wenn ich den beauftragt hätte und wenn der keine Sprüche in dieser Art gemacht hätte, dann hätt ich das Gefühl gehabt, dass er die nur mühsam unterdrückt oder Mühe hat, nicht loszuprusten, verstehst du, und da kann ich auch nicht drauf. Ich bin zwar auch ´n Mann, aber du weißt ja, ich mag so was nicht. Vor allem dann nicht, wenn die Geschichte nicht zum lachen ist, d.h. für mich nicht, denn, wie soll ich sagen, immer wenn es um Sex geht, finden alle irgendwas zum lachen, außer sie sind selbst betroffen, und das war ich hier, obwohl nur indirekt, aber der Reihe nach.

Ich mach also n Termin mit der Anwältin, die mir ne Freundin vom Töpferkurs empfohlen hat. Mir war ganz schön mulmig. Aber egal. Sie bittet mich rein, und ich sag ihr, Frau Doktor, ich hab hier ne Anklageschrift.

"Sie meinen wahrscheinlich eine Klageschrift", sagt sie spitzfindig, "zeigen Sie bitte mal her."

"Nein", sag ich, "erst muss ich ihnen die Vorgeschichte erzählen."

Sie lehnt sich zurück, verdreht unmerklich die Augen und sagt: Dann legen Sie man los.

Ich also: "Frau Rechtsanwältin, Sie wissen vielleicht, es gibt Frauen, die beim Sex einen unheimlichen Lärm machen."

"Das ist mir durchaus geläufig", antwortet sie so irgendwie geziert, und ich wusste nicht genau, meint sie andere Weiber oder spricht sie von sich. Da war´s mir schon richtig peinlich, und ich mein, da hätt sie drauf Rücksicht nehmen müssen, dass mir das alles nicht leicht fiel, in die Geschichte rein zu kommen. Ich hab dann aber doch gesagt: "Nicht nur das, also es klingt manchmal wie Schmerzensgebrüll, man denkt unwillkürlich, es geht ihnen verdammt schlecht, sie werden geschlagen, gequält und gefoltert, dabei ist wahrscheinlich das Gegenteil der Fall, haben Sie so was schon mal, ich mein, kennen Sie das?"

Und sie: "Keine Sorge, ich nehme Ihnen das ab."

Und ich sag, weil ich n bisschen durcheinander war: "Ich hab das Gefühl, Sie glauben mir das nicht, soll ich mal vormachen?"

Da war sie plötzlich erschrocken und sagt:

"Bloß nicht, nebenan sitzt meine Sekretärin, das ist hier ziemlich hellhörig, was soll die denn denken, was hier los ist? Und außerdem, ich versteh bis jetzt nicht ganz, warum Sie mir erzählen, was für Laute die Leute beim Sex ausstoßen. Wenn es um Mietminderung geht, sag ich ihnen gleich, das ist in aller Regel hinnehmbar, der Vermieter hat darauf nur bedingt Einfluss, und schließlich ist das ja auch normalerweise in einer viertel Stunde wieder vorbei."

Und ich konnt mich nicht beherrschen und werd laut: "Viertelstunde? Ne geschlagene Stunde geht das so! Und ihre Kinder wachen auf und weinen und denken, da bringt einer ihre Mama um."

"Aber das ist nicht strafbar, sagt sie, deshalb wundert´s mich, dass Sie da eine Klageschrift oder Anklageschrift mitbringen, wie Sie sagen, ich weiß ja auch gar nicht, gegen wen die sich richtet, also seien Sie doch so nett, mir den Text endlich mal zu zeigen."

"Sie sollten mich nicht unterbrechen", sag ich, jawoll, hab ich ihr gesagt, ich mein, ich hatte vorne den Beratungshilfeschein abgegeben, da kann sie schon mal zuhören.

Ich sag: "Ich komm ja gar nicht dazu, Ihnen die Geschichte zu erzählen, Also, über mir da wohnt meine Nachbarin, das ist so eine üppige, leicht vulgär aussehende Brünette. Und wie die ihren neuen Freund kennengelernt hat, geht das Theater los, ich mein, wir hatten uns vorher ein bisschen angefreundet, deshalb konnt ich sie nach den ersten Malen noch fragen, warum das so lange dauert, und sie lacht und sagt, der Kerl zieht sich ne Linie Kokain auf sein Ding und dann kann der endlos."

"Merk ich mir", sagt die Anwältin und wirkt zum ersten Mal so richtig bei der Sache. "Erzählen Sie weiter."

Na ja, und dann erzähl ich ihr das von meiner Bekannten, die mir die Geschichte eingebrockt hat. Ich kannte da eine Zeitlang eine Frau, mit der hab ich mich manchmal getroffen, also jetzt übrigens nicht mehr. Wir waren uns näher gekommen, weil ich immer ihren Dackel gestreichelt hab, wenn sie mir entgegenkam, und da hat sie gedacht, dass ich Tiere gerne mag und dass einer, der ihren Dackel tätschelt, auch scharf drauf ist, sie zu streicheln, dabei war das n Missverständnis, ich hab ihre Töle nur gekrault, weil ich Angst hatte, dass sie mich sonst beißt. Aber das erzähl ich jetzt nur dir. Na jedenfalls kam sie dann manchmal rüber, und wir haben uns Tiersendungen angekuckt, Gnu- und Zebrawanderungen in der Serengeti und so´n Zeug. Und eines Abend ging der Terror oben wieder los ...

Also jetzt fang bitte du nicht auch noch an, mich zu unterbrechen. Warum ich immer noch Junggeselle bin, das wollen immer alle wissen. Und wenn ich mal jemanden kennen gelernt habe, warum das dann immer so schnell wieder vorbei ist. Alle finden das wahnsinnig interessant. Alle machen sich n Kopf, ob ich die Richtige noch nicht gefunden habe. Ob ich mir nichts aus Frauen mache. Ob ich schwul bin. Oder ne runzlige Freundin habe, die ich keinem vorführen möchte. Oder auf kleine Mädchen steh. Oder kleine Jungs. Oder von mir aus auf Tiere. Dabei fragt sich keiner, ob ich Sex überhaupt interessant finde. Nein. Nein, ehrlich! Ich kann dem Sex mit Lebewesen nichts abgewinnen. Liliane, du bist meine Schwester, und ich sag dir jetzt mal was, weil du der einzige Mensch bist, dem ich vertraue und bei dem ich sicher bin, dass er es nicht gleich raustrompetet: Ich finde Sex grässlich, egal mit wem, auch mit mir selbst. Dieses Geschwitze und Geschlotze und Gesauge und Genuckel und Geschleime in allen möglichen verstunkenen, glitschigen Löchern, Höhlen und Öffnungen – bäh, nee, geh mir, ich muss das nicht haben. Dazu kommt noch: Alles ist so widerlich lebendig, so irgendwie organisch, nichts steht mal still, alles ist so unberechenbar, so kompliziert, verstehst du, was ich meine?

Es ist nicht so, dass ich ohne Leidenschaft bin. Ich liebe zum Beispiel meine Kettensäge. Ehrlich. Offen gestanden: Wenn ich das Kettenöl rieche und die kleinen blitzenden gekehlten Messerchen sehe, habe ich einen stehen, erst recht, wenn sie loslegt. Dieses geile Gebrüll! Dieser geile Geruchsmix aus verbranntem Benzin mit Motoröl. Die Späne, die sich mit dem Kettenöl in den Ritzen zwischen Gehäuse und Schwert vermischen. Ich sag dir, das gibt eine Paste, gegen die ist Schokolade mit Orangenstückchen gar nichts. Aber das bleibt alles folgenlos. Man nennt das Objektophilie; hab ich vor Jahren beim Googeln erfahren. Ich kenn sonst keinen, dem es so geht. Macht nix. Jetzt hältst du mich natürlich für komplett pervers. Macht auch nichts. Vergiss nicht: Ich tu keinem weh. Kein Liebeskummer, keine unerwünschte Schwangerschaft, keine Geschlechtskrankheit, kein Übergriff, kein sexueller Missbrauch, nichts von all dem ganzen Elend geht von mir aus. Ich bin so harmlos, dass man mir den Friedensnobelpreis verleihen sollte, echt.

Aber zurück zum Thema: Die Ex-Bekannte, hab ich noch gar nicht gesagt, ist bei der Polizei. Im Fernsehen waren gerade die Gnus, Kaffernbüffel und Löwen zugange, die brüllten natürlich ordentlich, so dass wir erst dachten, der Krawall käm aus der Glotze. Aber dann hörten wir die Kinder greinen, und sie kuckt nach oben und sagt:

"Da musst du was machen, das ist Verletzung der Fürsorgepflicht."

Und ich: "Was? Ich muss wen zur Fürsorge schicken? Nennt man das heute nicht Sozialagentur?"

Sie guckt mich mitleidig an und sagt:

"Na hör mal, das kann man auch als Museumsaufsicht wissen. Bist du denn völlig aus der Welt? Eltern müssen auf ihre Kinder aufpassen und sie versorgen, und dazu gehört auch, dass sie sie nicht in Panik versetzen oder verkommen lassen, und wenn sie es trotzdem tun, kriegen sie einen Einlauf, steht irgendwo im Strafgesetzbuch."

Und ich sag noch: "Geht mich doch nichts an, sind ihre Kinder", und da wird sie richtig grundsätzlich und sagt: "Glaub mir, ich hab´s bei der Polizei ständig mit Gewaltschutzgeschichten zu tun, also mit häuslicher Gewalt gegen Kinder und Frauen, und der Mist, auf dem so was wächst, ist genau diese Einstellung Geht mich doch nix an bei den Nachbarn. Und wenn du diese verkommene Kackbratze jetzt nicht anzeigst, dann mach ich das, und du bist blamiert, wenn meine Kollegen dich dann fragen, warum du dir das so lange angehört hast."

Dass ich da eine Weile rumgeeiert bin, hab ich der Anwältin dann auch erzählt, und dann auch, dass ich tatsächlich am nächsten Tag zur Polizei bin und dass das Theater dann erst richtig los ging. Mit Protokoll, Vorladung der Nachbarin, Befragung der Kinder. Die Nachbarin trifft mich beim Wäscheaufhängen und kreischt mich an, ich wär ein Scheißdenunziant und ein Polizeispitzel und sonst was, und außerdem wär ich bloß eifersüchtig, weil ich als schwule Sau nicht so einen, ich sags mal in ihren Worten, krassen Ficker hätte. Ich ging nervlich schon am Stock, und dann kam auch noch der Anruf ihres Ex mit wüsten Vorwürfen, so nach dem Motto, das hätt ich mir alles ausgedacht, Produkt meiner kranken Phantasie, ich wär ja bloß frustriert, und das könnte alles gar nicht sein, denn während seiner zehnjährigen Ehe mit seiner Ex hätte sie, das könne er schwören, nie derartige Töne von sich gegeben, und das habe er auch der Polizei so geschrieben.

So fremd mir das alles ist, Liliane: Die Bullen und Bulletten werden sich doch schlapp gelacht haben, als sie das lesen durften.

Dann kam was Interessantes, was ich in dieser Affäre natürlich zum ersten Mal erfahren habe, aber meine Verteidigerin hat mir bestätigt, das das immer so geht. Jedes Ermittlungsverfahren, so nennen die das glaub ich, ich seh ja keine Krimis, hat eine spezielle Dynamik. Mittendrin ist ein Scheitelpunkt erreicht. Davon merkt man als Betroffener erst mal gar nichts. Und von da an gibt es drei Wege. Entweder der Anfangsverdacht hat sich so richtig verdichtet, dann ist der Beschuldigte dran, es kommt eine fette Anklageschrift und er wird vor Gericht gezerrt. Der zweite Weg ist: Die ahnen, dass das alles nicht reicht für eine Verurteilung und stellen den Scheiß ein. Und der dritte, von dem ich nun überhaupt nichts geahnt hab, denn sonst hätt das mal schön bleiben lassen trotz der Dröhnerei von meiner sauberen Bekannten, der geht so: Die Karre, die sie da sozusagen den Berg hochgewuchtet haben, wird losgelassen und rumpelt vollrohr auf den zu, der die ganze Sache mit seiner Anzeige angeschoben hat. Da staunst du, was?

Genau so war das nämlich jetzt bei mir. Das Verfahren gegen die Brüllerin wurde eingestellt, weil sie ihrem Rammler und dem Ex geglaubt haben, und plötzlich hatten sie mich am Wickel wegen falscher Verdächtigung. Das muss man sich mal vorstellen.

Genau das mit der verkehrten Welt hab ich in dem ersten Gespräch mit der Anwältin gesagt, und ich hab auch gesagt:

"Ich hab Ihnen angemerkt, dass sie mir das nicht glauben wollten mit der Anklageschrift gegen mich, aber hier ist sie."

Und ich reich sie ihr rüber.

Sie liest und murmelt den Text, und der war wirklich unglaublich. Ich hab ihn hier, weil du mir das sonst auch nicht glaubst. Hier, ich les mal vor:

Der Museumswächter Stefan Kähler, geb. am 31.8.1971, Deutscher, nicht bestraft, wird angeklagt, einen anderen wider besseres Wissen bei einer Behörde einer rechtswidrigen Tat in der Absicht verdächtigt zu haben, ein behördliches Verfahren herbeizuführen,

indem er

bei der Polizeistation Rallstaett Strafanzeige gegen die Zeugin Melanie Raabe wegen fortlaufender Verletzung der Fürsorgepflicht mit der Begründung erstattete, sie habe etwa seit Mitte des Jahres 2012 allabendlich bei der Ausübung des Geschlechtsverkehrs unzumutbar hohe akustische Emissionen ins Werk gesetzt, die sich am Empfängerhorizont der minderjährigen Kinder der Zeugin Raabe als Schmerzensschreie dargestellt hätten, mit der Folge, dass die Kinder ihrerseits Schreie des Entsetzens ausgestoßen und sich sodann in den Schlaf geweint hätten.

Vergehen nach § 164 StGB.

Wenn du bisher nicht gewusst hast, was Juristendeutsch ist, dann weißt du´s jetzt.

Sogar die Anwältin musste sich ein Lächeln verkneifen, bevor sie die Anklageschrift einer Sekretärin zum Kopieren gab, ich sah das deutlich, und dann sagt sie so bemüht damenhaft:

"Man hätte es poetischer formulieren können, aber nicht präziser. Und den Juristen kommt es auf Genauigkeit an."

Und fügt hinzu: "Ich mach zwar nicht so oft Strafrecht, aber hier vertrete ich Sie gern."

Wir haben dann noch über die Kosten gesprochen, also dass meine Scheißrechtsschutzversicherung nicht einspringen würde, weil da im Kleingedruckten steht, dass es für absichtliche Straftaten keinen Rechtsschutz gibt, hast du das gewusst? Ja, und dass Pflichtverteidigung auch nicht drin wär. Das kriegste nur, wenn mehr als ein Jahr Knast droht. Verstehst du das? Man muss was richtig Schlimmes ausgefressen haben, dann zahlt der Staat deine Verteidigung. Wenns unter diesem Level ist, kannst du dich selbst verteidigen oder deinen Anwalt selbst bezahlen. Na gut, da musste ich halt 400 € abdrücken, als Vorschuss, sonst hätte sie sich gar nicht erst die Gerichtsakte bestellt.

Nicht zu ändern. Ich hab ihr noch gesagt:

"Im Museum haben wir manchmal Schulklassen, die rennen da durch die Säle, die Mädels kichern, die Jungs grölen, alle haben sie MP3- Stöpsel in den Ohren, die meisten sind am simsen, und wenn ich nicht aufpasse, schnipsen sie Popel an die Exponate. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was los wär, wenn so eine Horde das Gericht besucht, wenn ich gerade dran bin. Die würden sich gar nicht mehr einkriegen."

Sie hat mich dann beruhigt, wollte mit dem Richter sprechen.

Dann kam die Hauptverhandlung. Meine Anwältin hatte mich gut vorbereitet, aber es war natürlich ungewohnt. Ich war ja vorher noch nie bei Gericht, und es ist auch ganz anders als im Fernsehen. Das wusst ich schon. Wir kamen also rein, zum Glück war da keine Schulklasse, nur ein paar alte Säcke, die offenbar nichts Besseres zu tun hatten. Sie unterhielten sich aufgeregt, als sie mich sahen. Einen hab ich an der Stimme wiedererkannt, das war der Ex, der mich am Telefon beschimpft hatte.

Ich guck nach vorn, um mit einem Blick in den Saal zu erfassen, was los ist, Das bin ich ja vom Arbeitsplatz gewohnt. Vorn sitzt der Richter, ein Typ, na ja, jünger als ich. Ich war ganz überrascht. Im Fernsehen sind das immer so Graumelierte. Oder haben gleich eine graue Perücke auf. Jedenfalls war er mir gleich sympathisch, weiß auch nicht warum. Gegenüber ein junges Mädchen, so knapp 30, bisschen mager, das seh ich trotz ihrer Robe, also deutlich näher an Giacometti als an Tizian, wenn du verstehst, was ich meine. Ganz sicher war ich mir nicht, denn die haben bei Gericht einen üblen Trick: Die Anklagebank ist immer vor dem Fenster, und wenn der Angeklagte guckt, wer ihn da fertigmachen will, ist meistens Gegenlicht und er kann kaum was erkennen. Das ist beabsichtigt. Der arme Kerl soll gleich ein bisschen verunsichert werden, und außerdem soll die Staatsmacht anonym rüberkommen, so nach dem Motto: Ist egal, wer hier sitzt, das Gewaltmonopol kriegt dich.

Na ja, und dann sitzt da am Ende des Richtertischs noch so eine bucklige Protokollführerin und sagt zum Glück keinen Ton.

Unten, wie gesagt, die Rentnerband und, hätt ich fast vergessen, die Zeugen, also meine Nachbarin, die macht so eine Geste, also täts ihr leid, aber das war ein bisschen spät. Neben ihr ihre 13-jährige Tochter, grüne Haare und total zugepierct. Und dann meine Ex-Bekannte, die an mir vorbei guckt.

Ich bleib vorsichtshalber stehen, so wie die Anwältin mir das gesagt hat, bis der Richter mir sagt, ich könnt mich setzen. Als nächstes droht er den Zeugen damit, was ihnen blüht, wenn sie ihn anlügen, und schickt sie wieder raus. Dann fragt er mich nach den Personalien und was ich verdiene und gibt der Staatsanwältin den Einsatz, damit sie die schwachsinnige Anklageschrift vorliest.

Na, das war die erste Überraschung. Meine Anwältin flüstert mir noch zu, es wär ne Referendarin, also eine, die frisch von der Uni ist, und dann hechelt sie rasend schnell den Text runter, alles ist ihr furchtbar peinlich, das Lampenfieber lässt die Stimme wackeln, und ich merk plötzlich: Die lispelt ja, und zwar so schlimm, dass die Zungenspitze bei jedem S-Laut richtig rausgeschossen kommt.

Als sie fertig ist, sagt der Richter, und endlich kommt er damit über – ich wusste das und werd schon ganz ungeduldig -, ich könnt ne Aussage machen, aber auch die Klappe halten. Sinngemäß. Ich sag also, ich will mich äußern, und lege los. Erzähl ihm, wie das so war, wie ich im Bett liege, und plötzlich gehen die Schmerzensschreie da oben los. Ich habs vorgemacht, ja, echt, ich hab dem Richter was vorgebrüllt, als hätt mir einer kochendes Wasser in die Unterhose gegossen, damit er sich vorstellen kann, was da abging. Er musste sich auf die Lippen beißen, aber als ich ihm schilderte, wie der 6-Jährige geweint hat - bei der 13-Jährigen war ich mir auf einmal nicht mehr so sicher, so ist das bei Gericht -, also wie der Kleine nach Mami geschrieen hat und mit seinen kleinen Fäusten an die Tür gebollert hat, wobei ich bis heute nicht weiß, ob das seine Kinderzimmertür war oder die vom Schlafzimmer, eine muss jedenfalls abgeschlossen gewesen sein, da wurde er wieder ernst. Das hat mir gefallen. Er stellte ein paar Fragen, ganz sachlich, z.B., wie oft, wie lange, und ob ich auf die Uhr geguckt hätte usw.

Dann der Auftritt meiner Ex-Bekannten. Der war leider gar nicht schön. Die Schlange bestritt nämlich, mich zu der Anzeige angestiftet zu haben. Beleidigte Unschuld. Anzeige? Warum sollte ich denn so was ins Spiel bringen? So schlimm war´s doch nun auch wieder nicht. So in der Art. Und als meine Anwältin fragte, woher denn bei einem Museumswärter Begriffe herkommen sollten wie Verletzung der Fürsorgepflicht, wenn nicht von ihr, kam nur ein schnippisches Woher soll ich das wissen? Meine Anwältin versuchte noch rauszukriegen, ob wir uns im Streit getrennt hatten, und hier kam immerhin ans Licht, dass sie rachig war, weil wir nicht im Bett gelandet waren. Alles in allem aber: Punkt für die Gegenseite.

Dann ließ der Richter die Gepiercte reinkommen und erzählen. Ob sie Angst um Mama gehabt habe und so. Tja, und dann kam die zweite Überraschung. Sie drückte sich gewählt aus, man merkte, dass sie auf´m Gymnasium war, so richtig höhere Tochter, grüne Haare hin, grüne Haare her. Auch inhaltlich war´s nicht das, was alle erwartet hatten. Sie sagte nämlich, ich hab´s nicht vergessen:

"Der Vorgang, der bei meiner Mutter derartige Stöhnlaute ausgelöst hat, die hier als Schmerzensschreien fehlinterpretiert worden sind" – sie sagte wirklich fehlinterpretiert – "ist mir aus eigenem Erleben durchaus bekannt, und der Hakan sagt, dass das bei mir ganz ähnlich klingt."

Aus dem Zuschauerraum war ein Schnaufen zu hören, das in einen Schrei überging, und der stammte natürlich vom Vater des Früchtchens. "Deine Mutter und ich", brüllte er, "haben dir immer gesagt, du sollst dich nicht mit Kanaken einlassen, und jetzt ... schämst du dich nicht? Wo wohnt der Typ? Der kriegt von mir was auf die Fresse. Wie alt ist ..."

Der Rest ging unter, weil der Richter mit der Faust auf den Tisch haute und ihn mit einem röhrenden Ruhe im Gerichtssaal! übertönte. Dann, wieder mit normaler Stimme:

"Herr Raabe, wir kennen uns ja noch aus der Zeit, in der ich Familierichter war, und ich erinnere mich recht genau an die Umstände, die zur Trennung von ihrer damaligen Ehefrau geführt haben. Sie hatten, mit Verlaub, damals die Chance, Ihre Ehe fortzuführen. Hätten Sie diese Chance wahrgenommen, hätten Sie auch Einfluss nehmen können auf die Partnerwahl Ihrer Tochter. Jetzt ist es ein bisschen spät, und ich könnte hier auch nur dann korrigierend eingreifen, wenn der Partner Ihrer Tochter erwachsen wäre."

Es herrschte eine Art verschämtes Schweigen, dann sagte die Tochter in die Stille hinein:

"Mann äy, Papa, mach hier nicht den Lauten, der Hakan ist 16, und außerdem kommt er nicht aus der Türkei, sondern aus Schweden, da gibt´s den Vornamen auch. Mit einem kleinen Kreis über dem ersten a. Brauchst also keine Angst zu haben, dass ich demnächst mipm Kopftuch rumlaufe."

"Vielleicht solltest du das wirklich", schnauzte der Vater, "dann sieht man wenigstens deine grünen Haare nicht."

"Schluss jetzt!" rief der Richter, "setzen Sie das bitte außerhalb des Gerichtssaals fort, wenn wir mit der Vernehmung der jungen Dame fertig sind. Noch ein Zwischenruf, und ich lass Sie raussetzen. Dann können Sie vor der Tür Erziehungsdebatten mit Ihrer geschiedenen Frau führen."

Und das Komische war: Der Richter wirkte überhaupt nicht erregt. Wurde nur laut, um sich Gehör zu verschaffen. Und war schlagfertig, hast du ja gehört.

Die Kleine wurde dann noch gefragt, ob ihr 6-jähriger Bruder geweint hätte, als die Mutter im sich im Liebestaumel befand; die Zeugin bejahte. Der Richter gab das Wort an die Referendarin von der Staatsanwaltschaft weiter. Diese schüttelte den Kopf und sagte:

"Nein, dath ith alles tthu unappetitlich."

"Eijeijei", bemerkte der Richter, "wenn diese Haltung anhält, hoffe ich, dass Sie Ihr Berufsziel außerhalb des Strafrechts verorten. Frau Verteidigerin, Sie haben das Wort. Es ist für mich tröstlich zu wissen, dass der Kampf ums Recht für Sie einen höheren Stellenwert hat als Näschenrümpfen."

Nach diesem Spruch ahnte ich, dass ich auf der Siegerstraße war. Meine Anwältin kriegte noch raus, dass die ältere Schwester den kleinen Bruder immer nach einer Weile getröstet hatte, wenn sie nicht gerade selbst Besuch von ihrem Freund hatte, ferner, dass sie aber auch dann darauf geachtet hatte, den Kleinen keiner Doppelbeschallung von Mutter und Schwester auszusetzen.

Die Mutter betrat den Saal. Der Richter kam gar nicht dazu, eine Frage zu stellen, weil sie gleich loslegte, und zwar so:

"Um das gleich mal klarzustellen, ich lasse mir von niemandem vorschreiben, wie ich mich beim Ficken zu verhalten habe, und für meine Kinder kann ich schon selbst sorgen. Die sind gut geraten, seit mein Ex nicht mehr dazwischenfunkt, und ..."

"Sie sind hier nicht angeklagt", unterbrach sie der Richter, "und brauchen deshalb keine Verteidigungsrede zu halten. Antworten Sie am besten einfach auf Fragen. Sonst erzählen Sie uns hier in Ihrer sagen wir mal volkstümlichen Ausdrucksweise womöglich noch was über Ihr Erfolge bei der Sexualerziehung ihrer Tochter."

Er wandte sich ab und rief:

"Frau Staatsanwältin!"

Weißt du, was das bedeutet, Liliane? Der Richter wollte sie nur kurz auf den Pott setzen und spaßeshalber – das hat mir meine Verteidigerin nachher klargemacht – ein Kreuzverhör in Gang setzen, natürlich auch, um die blöde Referendarin aus der Reserve zu locken oder sie zu blamieren.

Die erhob sich überflüssigerweise und fragte mit starrem Blick auf die Anklageschrift, und wurde dabei auch noch rot:

"Frau Ttheugin, trifft es tthu, dass Sie bei der Authübung deth Geschlechtthsverkehrth untthumutbar hohe akuthtische Emiththionen ..."

In diesem Moment wurde sie von meiner Anwältin unterbrochen, die zu meiner Überraschung geradezu fröhlich in den Saal rief:

"Frau Staatsanwältin, entspannen Sie sich. Fragen Sie doch einfach, ob sie beim Vögeln zu laut gezwitschert hat!"

"Beim Vögeln zu laut gezwitschert", schrie der Richter begeistert, "das gefällt mir sehr. Das muss ich mir merken. Frau Zeugin, wollen Sie bitte die Frage beantworten?"

"Klar war ich laut. Na und? Immer noch besser als der Angeklagte, dieser kleine Petzer, dem würd auch mal eine Frau gut tun, die beim Bumsen so richtig inbrünstig brüllt, aber das kommt nicht von alleine, da braucht man einen richtigen Kerl, und nicht so einen Schlappschwanz wie ihn oder meinen Ex ..."

Tumult im Gerichtssaal, kann ich dir sagen. Ich hab mich nicht angesprochen gefühlt, du weißt warum. Soll sie doch denken, was sie will. Aber der Ex, der ging richtig ab. Kam mit seiner Wampe nach vorne gewankt, schrie was von Schlampe und wollte ihr eine langen. Die von seinem Fan-Club liefen dazwischen und hielten ihn gerade noch zurück.

Der Richter ließ ihn abführen und brummte ihm einen Tag Arrest auf.

Kaum war wieder Ruhe, rief der Richter: "So, fünf Minuten Unterbrechung", und stand auf.

Irgendwie ahnte ich, was kommen würde. Er machte sich draußen vor der Tür an meine Anwältin ran, ich war in Hörweite. "Ich stell den Quatsch jetzt ein", sagte er, "Sie können sich denken, welcher Kollege das Hauptverfahren eröffnet hat; ich war im Urlaub. Also, § 153. Ihre Kosten trägt Ihr Mandant."

Und als sie protestierte (vergessen Sie nicht das verzweifelte Schluchzens des Sechsjährigen und wie das bei meinem Mandanten angekommen ist), flüsterte er – die Referendarin kam auch gerade aus dem Saal – "Wir haben noch die Aussage der enttäuschten Polizeibeamtin und die von der Brüllerin, die uns das alles eingebrockt hat, also ich wär vorsichtig, selbst wenn ich ihn freispreche, wer weiß, was die Berufungsinstanz draus macht. Wär doch schade, wenn das schief ginge. Immerhin hat Ihrer Zivilcourage gezeigt. Los, gehen Sie wieder rein, letzter Akt der Komödie."

Er wandte sich ganz kurz der Referendarin zu, ging auf dem Umweg über sein Beratungszimmer wieder an die Richterbank und verkündete im Sitzen:

"Das Verfahren wird mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung auf Kosten der Landeskasse eingestellt. Der Angeklagte trägt seine persönlichen Auslagen selbst."

Schon wieder Tumult im Zuschauerraum. "So gehen Sie mit unseren Steuergeldern um", schrie einer von diesen abgerissenen Langzeitarbeitslosen. Und meine Anwältin fragte mit schneidender Stimme: "Wann haben Sie denn zuletzt Steuern gezahlt?"

Da war Ruhe.

Ich kam wie betäubt aus dem Saal. Und dann hab ich meine Anwältin gefragt ob ich sie umarmen darf. Und sie sagte lachend:

"Na wenn Sie´s tun, denk ich mir nichts Böses."

Und ich frag mich nu seit Wochen, wie sie das gemeint hat.

Schuld und Bühne

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