Читать книгу Frühblüher schneidet man später. Ein München-Krimi - Jochen Geißel - Страница 7
KAPITEL 2 – SAMSTAG , 10. MAI
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Der gut aussehende Mann mit mediterranem Einschlag dachte für sich, dass es die absolut richtige Entscheidung gewesen war, nicht in irgendein x-beliebiges Kaffeehaus, sondern in das erste Haus am Platze mit seiner fast dreihundertjährigen Tradition für Delikatessen und Kaffee gegangen zu sein. Dieses lag aus touristischer Sicht absolut zentral in der Innenstadt, nur einen Steinwurf weit entfernt vom Marienplatz. Die Auswahl an verschiedensten hochwertigen Kaffeesorten war exzellent und hatte ihn innerhalb weniger Tage nun schon zum dritten Mal hierher gelockt. Momentan genoss er eine Spezialität aus Papua-Neuguinea, die zu den besten Gourmet-Kaffees der Welt zählte. Aromatisch-würziger, vollmundiger Geschmack, mit feiner Kaffeesäure und weichem Abgang. Und er war jeden Euro seines Preises wert.
Der Mann war ein erstklassiger und in Fachkreisen höchst anerkannter Kaffeekenner, der in seinem offiziellen Leben wie kaum ein anderer über Kenntnisse zu Geschichte, Anbau und Ernte von Kaffeebohnen einerseits und natürlich auch zu deren Veredelung, Röstung und Aromasicherung verfügte. Darüber hinaus war er auch ein absoluter Liebhaber dieses Getränks. Stundenlang hätte er sich diesem Genuss hingeben und darüber sinnieren können, wie die verwendeten Bohnen in ihren Plantagen monatelang im richtigen Klima vor sich hin reiften, nur um dann irgendwann geerntet und eigens für ihn zu hochwertigem Kaffee verarbeitet zu werden.
Langsam ließ er das Münchner tagblatt sinken und trank einen weiteren Schluck seiner zweiten Tasse, die ihm die Bedienung mittleren Alters vor wenigen Momenten hingestellt hatte, nicht ohne ihn mit einem sehnsüchtigen Blick von der Seite zu betrachten. Üblicherweise entgingen ihm solche Blicke nicht, denn er kannte durchaus seine Wirkung auf das weibliche Geschlecht und nutzte diese auch regelmäßig aus, wenn ihm danach war.
Auch wenn er für Außenstehende den Anschein erweckte, nur die Aussicht auf den kleinen Park hinter dem Rathaus und das Aroma seines Getränks zu genießen, so hatte er in Wirklichkeit jedoch nur Augen für die eine Schlagzeile auf Seite eins der Zeitung. In seinem Inneren kochte es fast so heiß, wie der Kaffee war, an dem er eben noch genippt hatte. Die Kellnerin wäre entsetzt gewesen, hätte sie auch nur ansatzweise seine aktuellen Gedanken lesen können, die sich gegenwärtig mit den Problemen seiner eigentlichen Profession befassten, denn im wahren Leben war der Mann Mitglied der sogenannten ehrenwerten italienischen Gesellschaft und verdiente sein wirkliches Geld als Spezialist für die Erledigung von Sonderaufträgen jeglicher Art.
In der Zeitung stand, dass irgendjemand die Kleine also umgebracht hatte, bevor er sie in seine Finger bekommen konnte. Und derjenige war jetzt wahrscheinlich auch im Besitz des Geldes, das in seinem Rucksack versteckt gewesen war. Jedenfalls war weder der gestrigen Pressekonferenz noch dem Artikel zu entnehmen gewesen, dass dieser Rucksack von der Polizei sichergestellt worden wäre, denn der zuständige Beamte hatte lediglich erklärt, dass bislang keine Anhaltspunkte über die Identität des Mädchens vorlägen. Außer ihrer Kleidung seien keinerlei Gegenstände bei dem Leichnam aufgefunden worden. Dieses Geld musste er in jedem Falle schnell wiederbekommen, sonst würde es ihm schlecht ergehen. Es war ihm ausgehändigt worden, damit er es sicher nach Hannover brachte und dort einer weiteren Kontaktperson übergab. Seine Auftraggeber würden sehr ungehalten reagieren, wenn er versagte.
Aber noch war nichts verloren. Er hatte einen guten Informanten in den Reihen der Münchner Ermittlungsbehörden. Der müsste jetzt endlich mal zeigen, dass er das viele Geld auch wert war, das ihm seit Jahren von der Organisation für Kleinigkeiten bezahlt wurde. Wenn nähere Erkenntnisse über den Täter vorlägen, müsste er diesen dann nur vor der Polizei erwischen. Das traute er sich schon zu, denn der verantwortliche Ermittler hatte gestern vor der Kamera keinen guten Eindruck gemacht, obwohl man sich da natürlich leicht täuschen konnte. Jedenfalls musste er seinen Fehler umgehend korrigieren, sonst würde man ihm das Licht ausdrehen.
Er trank seinen restlichen Kaffe aus, legte einen passenden Schein auf den Tisch und verließ das Café auf der Suche nach einem der wenigen intakten Münzfernsprecher, nicht ohne der Kellnerin dann doch noch einen tiefen Blick in seine dunkelbraunen Augen zu gönnen, nur um nicht aus der Übung zu kommen.
∞ 09:30 Uhr ∞
Renan Kaya war stocksauer, zum einen natürlich über ihren Redakteur, in allererster Linie aber über sich selbst.
Engel hatte sie gestern um die Mittagszeit zu Hause angerufen und ihr den Auftrag erteilt, etwas über den Mord an diesem Mädchen aus dem Luitpoldpark zu schreiben, von dem der lokale Kabelsender schon recht früh morgens berichtet hatte. Sie hatte ihm natürlich erklärt, dass das ja überhaupt nicht ihr Ding wäre und sie schließlich keine Kriminalreporterin sei. Das war Engel aber offensichtlich momentan völlig wurscht. Er hatte ihr klar gemacht, dass sie mal wieder ihre Situation und ihren Marktwert völlig falsch interpretiere. Der Begriff „freie Mitarbeiterin“ bedeute nämlich keineswegs, dass sie eine in ihren Entscheidungen „freie“ Mitarbeiterin sei. Wenn sie also weiterhin Interesse daran habe, regelmäßig und mit der Sicherheit auf angemessene Bezahlung für das tagblatt schreiben zu dürfen, dann solle sie gefälligst schnellstens ihren hübschen Hintern in Bewegung setzen und zu der Pressekonferenz fahren, die von der Staatsanwaltschaft bereits für den Nachmittag anberaumt worden war. Dieser überraschend frühe Zeitpunkt lasse darauf schließen, dass schon handfeste Informationen vorlägen, denn ohne solche würde Bubi Sachser niemals vor die Mikrofone treten.
Und darüber hinaus hatte Engel deutlich eine weitere Erwartungshaltung formuliert, wonach sie gefälligst die persönliche Beziehung zu ihrem Freund Stefan Bond ausnutzen solle, der ja als Leiter des Münchner Mordkommissariats schließlich als erster über sämtliche Informationen verfüge. Sie hatte ihm daraufhin ziemlich lautstark und keinesfalls mit den Worten einer Klosterschülerin erklärt, „er könne sie mal richtig heftig“, worauf er prompt und mit der ihm eigenen Schlagfertigkeit erwiderte, „da freue er sich aber wirklich schon lange drauf“, bevor sie dann das Gespräch wütend beendete.
Sie wusste, dass Engel sich danach lauthals lachend in seinem Chefsessel räkeln würde und er wusste, dass sie sich umgehend an die Arbeit machen würde. So ging das schon seit Jahren zwischen ihnen, war fast zu einem notwendigen Ritual geworden und irgendwie brauchte sie diese Form von Ansprache und Reiberei vorneweg, um danach auch wirklich gute Arbeit abzuliefern. Und außerdem war es auch mal wieder schön zu hören, dass wenigstens Engel ihren Hintern noch immer hübsch fand, wenn sich momentan schon sonst niemand dafür zuständig fühlte.
Natürlich war sie dann zu dieser Pressekonferenz gefahren. Als sie jedoch neben Oberstaatsanwalt Dr. Sachser und dem Pressesprecher des Präsidiums auch Stefan Bond in leicht gelangweilter Manier am Prominententisch sitzen sah, war ihr sofort klar, dass es heute nicht viel Berichtenswertes geben würde. Stefan war offenkundig dazu auserkoren, vor der versammelten Presse für Sachser den Kopf dafür hinzuhalten, dass noch keine konkreten Erkenntnisse vorlagen. Anderenfalls hätte der kleine Staatsanwalt die Show nämlich liebend gerne völlig alleine abgezogen.
Dennoch war Renan über die Anwesenheit ihres Freundes überrascht, weil dieser sich üblicherweise für solche öffentlichen Spielchen nicht hergab. Sie hatte diesen Gedanken noch nicht in aller Konsequenz zu Ende gebracht, da kam es auch schon wie von Anfang an vermutet. Der Kommissar erklärte kurz, bündig und nicht sehr entgegenkommend, dass es noch keine Anhaltspunkte zur Identität der Toten, keine Anhaltspunkte zur Identität des oder der Täter, keine gesicherten Anhaltspunkte zur endgültigen Todesursache oder zum Zeitpunkt gebe und darüber hinaus aus den berühmten ermittlungstechnischen Gründen erst recht nichts gesagt werden könne.
Hierüber doch reichlich erstaunt, stellten einige Kollegen der schreibenden Zunft die ganz und gar nicht unberechtigte Frage, ob sie hier verarscht werden sollten und weshalb sie überhaupt geladen worden wären, wenn es ohnehin noch nichts zu berichten gebe. Stefan Bond erwiderte hierauf mit süffisantem Lächeln, dass ER fürs Verarschen nicht zuständig sei und insoweit das Wort gerne an den ehrenwerten Oberstaatsanwalt zurückgebe. Sodann erhob er sich, zwinkerte ihr mit einem schelmischen Grinsen zu und verließ ohne weiteren Kommentar die Veranstaltung. Das war zweifellos ein überaus starker, an Melodramatik kaum zu toppender Abgang.
Sachser, mittlerweile mit hochrotem Kopf und ziemlich fassungslos über diese unerwartete Wendung, war völlig aus dem Konzept und nur noch in der Lage, ein paar inhaltslose Floskeln abzusondern. Dies wiederum stimmte das versammelte Pressecorps dann doch noch milde, denn den arroganten Bubi unvorbereitet mal so hilflos zu sehen, war vielen schon gerne mal eine informative Nullnummer wert. Aber diese öffentliche Demütigung würde er Stefan Bond so bald jedenfalls nicht vergessen.
Renan blieb also keine andere Wahl, als aus dem Nichts heraus einen Artikel für die erste Seite zu machen. Das tat sie dann auch mit vollem Elan. Und siehe da, es blieb auch völlig überraschend beim inhaltlichen Nichts, denn sie war halt nicht Jesus, der aus Wasser Wein machen konnte. Auf die Schnelle zusammengezimmert, lieferte sie kurz vor Abgabeschluss einen Bericht ab, der ihr selbst nicht richtig gefiel, aber das half ja jetzt auch nicht mehr weiter.
Natürlich war es vorhersehbar gewesen, dass sie sich noch gestern von dem jetzt auf einmal überhaupt nicht mehr lachenden Engel einen 1-A-Anschiss abholen konnte, und der kam dann auch prompt, ziemlich heftig und ohne zeitraubendes Vorgeplänkel. Da fielen die üblichen Floskeln wie „da bringt meine Tochter im dritten Schuljahr in einem Satz mehr Informationen rüber als du auf einer ganzen Seite“, oder „hat man dir nicht beigebracht, einem Informationsträger mal so richtig zwischen die Beine zu packen, damit er was ausspuckt?“. Manchmal ließ Engel doch tatsächlich seine durchaus rudimentär vorhandene Kinderstube ziemlich vermissen.
Jedenfalls hatte sie sich maßlos über ihre eigene Blödheit geärgert. Sie war doch wirklich kein journalistischer Backfisch mehr und hätte diese Entwicklung vorhersehen müssen. Da half es auch nicht, dass sie von vielen Leuten nach dem Erscheinen der Ausgabe auf ihren „guten Bericht“ angesprochen wurde. Journalistisch gesehen war das einfach nur Schrott gewesen, den sie aber so im Nachhinein nicht auf sich sitzen lassen konnte und letztendlich auch nicht wollte. Da halfen dann jetzt aber auch nur noch richtige Fakten weiter. Und die konnte sie wahrscheinlich ausschließlich über Stefan Bond direkt bekommen, wenn überhaupt, denn eigentlich war er nicht nur der sonstigen Presse gegenüber mit Informationen ausgesprochen zurückhaltend. Auch ihr hatte er während einer laufenden Ermittlung noch nie Insiderinformationen zukommen lassen. Möglicherweise würde das ziemlich teuer für sie werden, aber jetzt hatte sie keine Wahl mehr.
Stefan war seit der gemeinsamen Grundschulzeit ihr bester Freund, eigentlich schon eher ihr Held. Wenn sie gelegentlich alleine zu Hause war und wie in letzter Zeit viel zu oft in melancholische Stimmung verfiel, gestand sie sich selbst sogar ein, dass sie schon seit jeher in diesen Kerl verliebt war. Gott sei Dank wusste er hiervon nichts und durfte es natürlich auch niemals erfahren. Deshalb hatte sie bis heute auch noch mit keinem einzigen Menschen über ihre Gefühle gesprochen. Angefangen hatte alles bereits in der dritten Klasse. Sie musste sich eingestehen, dass sie schon damals – und daran hatte sich bis heute recht wenig geändert – eine richtig große Klappe gehabt hatte, die sich manchmal ohne ersichtlichen Grund selbstständig machte und sich dann diametral entgegengesetzt zu ihrem zierlichen Wuchs und ihrer geringen körperlichen Verteidigungsfähigkeit verhielt. Da war es des Öfteren schon vorgekommen, dass sie wesentlich größeren Schulkameraden verbal heftig gegen oder auch zwischen die verschiedensten Schienbeine getreten hatte, worauf diese hinter ihr her hetzten und sie am liebsten an den nächsten Baum gehängt hätten. Dieses im Nachhinein verständliche Ansinnen wurde oft nur dadurch abgewendet, dass sich Stefan und sein Kumpel Mike in regelmäßigen Abständen vor sie gestellt und vor der drohenden Astgabel bewahrt hatten. Nach vielen Jahren des Abstands glaubte sie mittlerweile sogar, dass sie wahrscheinlich unbewusst die Streitigkeiten oft alleine deshalb vom Zaune gebrochen hatte, um ihren Retter auf den Plan zu rufen und für sie in Aktion treten zu sehen. Natürlich hatten die Jungs deshalb oft mit ihr geschimpft und sie immer wieder erfolglos aufgefordert, diesen Unsinn doch zu lassen. Irgendwann hatten sie es dann aber aufgegeben und im Gegenzug dafür beschlossen, sie offiziell als Maskottchen unter ihre Fittiche zu nehmen. Und so war es bis zum heutigen Tage geblieben. Stefan und natürlich auch Mike waren die wichtigsten Personen in ihrem Leben, die Felsen in ihrer ziemlich starken Brandung und immer für sie da. Und dafür liebte sie die beiden auch, den einen halt nur irgendwie ein bisschen anders als den anderen.
Es war jetzt 09:30 Uhr. Bevor sie endgültig in ihren sentimentalen Gefühlen versank, sollte sie sich besser zielgerichtet in Bewegung setzen. Sie wusste, dass für die Polizei bei einem ungeklärten Mordfall übliche Dienstzeiten keine Rolle mehr spielten und auch sämtliche privaten Aktivitäten in den Hintergrund traten. Daher war nicht zu erwarten, dass sie Stefan trotz des Samstages jetzt zu Hause erreichen würde. Sie nahm ihren Filofax zur Hand und suchte nach seiner in ihrem Handy nicht gespeicherten Dienstnummer. Nach nur zweimaligem Klingeln wurde auf der anderen Seite der Hörer abgehoben. Er meldete sich nicht wie üblich, sondern sagte lediglich: „Hallo Kaya, weshalb bin ich jetzt eigentlich nicht überrascht, dich am Telefon zu haben?“
∞ Vergangenheit ∞
Hätte man ihn gezielt danach befragt, hätte er ohne zu zögern die einzig wahre Antwort gegeben, dass er sich selbst nämlich als glücklichen Menschen bezeichnen würde. Neben dem Umstand, dass er seine ziemlich verschrobene Mutter mit all ihren nervenden Macken, Ecken und Kanten innig liebte, machte er hierfür natürlich maßgeblich verantwortlich, dass er sich zu den wenigen Prädestinierten zählte, die mit Fug und Recht von sich behaupten konnten, zwei wahre Freunde zu haben. Und diese begleiteten ihn bereits seit den frühesten Tagen des Kindergartens bzw. der Grundschule, kannten fast all seine Geheimnisse und hatten letztendlich alle Höhen und Tiefen auf seiner Lebensachterbahn aus nächster Nähe mitgemacht.
Das war zum einen sein gewichtiger Kumpel Mike, ca. 1,90 m groß und sicherlich 130 Kilo schwer, heute Inhaber der gleichnamigen Szenekneipe MIKES in der Münchner Innenstadt, die für Stefan immer Ausgangspunkt für irgendwelche abendlichen Freizeitaktivitäten, manchmal aber auch Anlaufstelle vor oder nach dienstlichen Einsätzen war.
Mike hatte früher in der Nachbarschaft gewohnt und war sein Freund, solange er denken konnte. Irgendwann hatte ihn Hedwig dann quasi adoptiert und fast wie einen eigenen Sohn in die Familie aufgenommen. Ab diesem Zeitpunkt konnten Außenstehende kaum noch erkennen, wessen Mutter sie denn nun eigentlich wirklich war – Stefan manchmal selbst nicht mehr.
Über Kindergarten und Schule hinaus hatten sie alles miteinander erlebt, sich gegenseitig beschützt und gegenseitig verkloppt, gemeinsam Fußball gespielt, in die Tanzstunde gegangen, die ersten Zigarren gemeinsam geraucht und auch sonstige Geheimnisse geteilt und bewahrt, die ersten Freundinnen gehabt und ab und zu auch getauscht. Mike war dann nach der mittleren Reife von der Schule abgegangen, weil er einfach keinen Bock mehr auf Penne hatte. Beruflich hatte er bis aufs Hängen schon fast alles hinter sich, war auch mal im Ausland tätig gewesen und zeitweise sogar als Seemann auf einem Containerschiff – manche sagten auch, es sei ein Seelenverkäufer gewesen – rund um die Welt gefahren. Erst vor wenigen Jahren war er wieder in München aufgetaucht und dann unter dem positiven Einfluss seiner heutigen Frau Claudia wieder richtig sesshaft geworden. Beide hatten sich mit viel Einsatz gemeinsam diese Kneipe aufgebaut, die mittlerweile richtig hip war und brummte wie Sau. Mike würde immer an seiner Seite stehen, wenn er ihn brauchte und auch wenn er ihn nicht brauchte, er war die Person, auf die Stefan sich jederzeit und ohne nachzudenken blind verlassen würde: Sein zweiter Freund war eigentlich eine Freundin – Renan!
Sie war mit ihren Eltern Ende der 70er Jahre ins Viertel zugezogen und kam dann als Jüngste mit ihm und Mike in die gleiche Grundschulklasse. Nicht alle Mitschüler konnten damals mit dem kleinen, dürren, deutschtürkischen Mädchen und ihrer großen Klappe umgehen und der eher liberal erzogene Stefan musste sich des Öfteren mal vor sie stellen, weil sie mit ihrem vorlauten Mundwerk die halbe Klasse gegen sich aufgehetzt und nach Keile gebettelt hatte. Irgendwann hatten Mike und er dann beschlossen, sie in ihren Bund aufzunehmen und seitdem waren sie drei wie „ein Kopf und ein Arsch“ – und seine Mutter hatte wieder mal jemand Neues zum Adoptieren gefunden.
Renan Kaya war eine hoch intelligente, aber nur mittelprächtig erfolgreiche freie Journalistin, die sich gerne an unpopuläre Themen wagte. Aber wie das halt in diesem Business so war, wurde man leider erst dann reich davon, wenn man entweder berühmt oder schon tot war und auf diesem Weg hatte seine Freundin das Ende noch lange nicht erreicht. Auf gut Deutsch: Renan war hoffnungslos unterbezahlt und chronisch pleite. Deshalb ging sie nebenbei auch noch in Mikes Kneipe bedienen, wozu sie eigentlich keinen Bock hatte, aber Bezahlung und Trinkgeld stimmten – und letztendlich war sie hier regelmäßig wieder bei ihren Jungs. Aus dem dürren Mädchen von damals war eine bezaubernde, 1,70 m große Enddreißigerin geworden, die mit ihrer attraktiven Figur, dem hübschen Gesicht mit den tief-dunkelbraunen Augen, den makellos weißen Zähnen und der schwarzen Kraushaarmähne als Model auf jede Titelseite der Vogue oder auch des Playboy gepasst hätte – wenn sie nicht als Aktivistin für Frauenrechte die Vermarktung junger Mädchen zu reinen Profitzwecken vehement abgelehnt und sich deshalb höchstens gemeinsam mit Alice Schwarzer in der EMMA gezeigt hätte.
Mit Männern hatte die Powerfrau kein richtiges Glück, weil sie passende Kandidaten regelmäßig sowohl mit ihrem tollen Äußeren als auch mit ihrem Intellekt und erst recht mit der immer noch vorlauten Klappe verschreckte. Und wenn dann zu späterer Stunde Gäste in Mikes Lokal irgendwie vergessen haben sollten, dass antatschen immer noch verboten war, konnte sie ihnen schon im Stile eines Brauereikutschers lauthals und bei Bedarf auch leicht ordinär den Marsch blasen, was potenziell ernstzunehmende Bewerber im Rennen um ihre Gunst dann wieder meilenweit zurückwarf. Sie stand tatsächlich auf den Typen „einsamer Wolf“ oder auch „Macho“, aber selbst die härtesten Kerle bissen sich an ihr regelmäßig die Zähne aus, weshalb oft einer erfolglosen Affäre ziemlich bald das nächste Drama folgte. Stefan kannte sie alle und durchlebte dann die Ups and Downs ihres Gefühlslebens immer hautnah und bis in alle Einzelheiten mit.
Dabei wusste er schon viele Jahre lang, dass Renan bereits seit ihrer Schulzeit latent in ihn verliebt und außerdem felsenfest davon überzeugt war, diesen Umstand bislang völlig erfolgreich vor ihm und dem Rest der Welt verborgen zu haben. Da konnte man als logisch denkender Mann klar erkennen, wo selbst intelligente Frauen ihre offensichtlichen Grenzen hatten. Ihm wurde auch jedes Mal wieder offenkundig, dass Renan während all seiner Beziehungen immer ein wenig litt – manchmal auch ein wenig mehr. Beide hatten sie aber, bei aller schmerzlichen Offenheit ihres sonstigen Umganges, miteinander niemals über ihre gegenseitigen persönlichen Gefühle gesprochen und Stefan würde dieses Thema auch niemals ohne Not von sich aus aufbringen, weil er Angst hätte, dass ihre tiefe Freundschaft an den dann möglicherweise ausgesprochenen, vielleicht aber nicht erwiderbaren Emotionen kaputtgehen könnte.
∞ 09:30 Uhr ∞
Es würde ihm auch niemals einfallen, ihre oft deutlich zu Tage tretenden Gemütsbewegungen in einem schwachen Moment auszunutzen und irgendetwas anzufangen, was über die bestehende Freundschaft hinausginge. Sie war ihm viel zu wichtig, um auf die gleiche Stufe mit seinen diversen, öfter mal wechselnden Bekanntschaften gestellt zu werden – und Renan wusste dies und genoss den Umstand jedenfalls sichtlich.
Und genau diese Zuckerfrau versuchte gerade, ihm im wachen Zustand, bei vollem Bewusstsein und ohne Beeinflussung von Mikes flüssigen Experimenten unbemerkt sämtliche nicht vorhandenen Würmer über den aktuellen Mordfall aus der Nase zu ziehen. Er konnte diesen billigen Versuch kaum fassen, denn eigentlich müsste sie ihn doch besser kennen. Und irgendwie ärgert er sich darüber. Schließlich merkte Renan aber von alleine, dass sie auf diese faule Tour nicht zum Erfolg kam und suchte dann doch noch den direkten Weg.
„Komm schon Junge, gib mir doch irgendetwas Handfestes, mit dem ich meinem Redakteur den Tag versüßen kann, denn er hat mir nach meiner Superleistung von gestern ganz schön den Marsch geblasen.“
„Das hab ich mir gleich gedacht, nachdem ich dein Meisterwerk überflogen hatte“, konnte er sich nicht verkneifen. „War danach auch nur eine Frage der Zeit, bis du dich trauen würdest, hier anzurufen. Aber warum soll ich dafür sorgen, dass gerade dein Redakteur heute noch glücklich wird? Mich macht nämlich in diesem Zusammenhang auch niemand glücklich, und ich hätte es ganz bestimmt verdient. Und außerdem bin ich doch mehr als nur überrascht, dass du eben tatsächlich versucht hast, mir hinterrücks irgendwelche Infos aus der Nase zu ziehen. Wenn du wirklich wider Erwarten geglaubt haben solltest, dass mir das nicht auffallen würde, dann beleidigst du ernsthaft meine Intelligenz. Ist das jetzt unsere künftige Umgangsform oder kannst du mich bei Bedarf auch offen nach deinen Wünschen fragen?“
Ohrenbetäubende Stille lag in der Luft – und er sah regelrecht vor sich, wie Sie während seiner letzten Sätze die Farbe wechselte. Er wartete ganz bewusst auf eine Reaktion ihrerseits und es dauerte tatsächlich länger als gedacht, bis sie tief durchatmete und dann zu einer Entschuldigung ansetzte.
„Ja, du hast Recht, es tut mir wirklich leid, aber irgendwie ist es mir peinlich, dich jetzt angehen zu müssen, nachdem ich den Artikel völlig verbockt habe. Ehrlich, ich hatte völlig naiv gehofft, dass du es nicht merken würdest und …“
„Und morgen würde ich dann die Zeitung aufschlagen und wäre völlig von den Socken über meine Freundin, die mich offen hintergangen und öffentlich hingehängt hätte? Hast du das etwa billigend in Kauf genommen oder bist du noch nicht an diesem Punkt deiner Erwägungen angelangt?“
Wieder Funkstille auf der anderen Seite. Soweit hatte sie offensichtlich wirklich nicht gedacht.
„Oh Scheiße“, kam es dann aus dem off, „tut mir echt leid, aber irgendwie habe ich überhaupt noch nicht ernsthaft über die Sache nachgedacht. Mir ist aber klar, dass das jetzt auch keinen Wert mehr hat. Bitte sei nicht sauer auf mich, aber ich wollte dich nicht wirklich ausnehmen. Vergiss einfach diesen Anruf. Ich werde jetzt mit Engel telefonieren und bei ihm nach allen Regeln der Kunst zu Kreuze kriechen. Irgendwie wird er mich dann schon aus der Sache raus lassen.“
„Das hast du dir aber auch nur so gedacht“, fuhr ihr Stefan ein wenig unwirsch dazwischen. „Dann würdest du mir auch noch ein schlechtes Gewissen dafür verpassen, dass dich dieser Engel in der ihm bekannten Art dazwischen nimmt und du zur Strafe die nächsten Wochen nur noch spannende Geschichten über das Wetter in Oberammergau schreiben darfst. So nicht, Süße. Jetzt vergessen wir mal, dass ich dich überhaupt kenne. Wenn du von mir Infos willst, erwarte ich eine entsprechende Gegenleistung, sonst läuft hier gar nichts. Ich biete dir ein paar Fakten an, die du aber nicht aus offizieller Quelle zitieren wirst. Es wird dir schon irgendwie gelingen, daraus eine einigermaßen brauchbare Geschichte zu machen, die den anderen Blättern ohne weiteres den Rang ablaufen wird. Im Gegenzug erwarte ich von dir, dass du mir irgendwann bei Bedarf ein paar Zeilen in eurem Blatt zur Verfügung stellst. Rede mit Engel darüber. Nur wenn er zustimmt, kommen wir ins Geschäft. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass wir aus taktischen Gründen mal öffentlich einen Köder auslegen müssen und dann erwarte ich, dass du mir hilfst. Na, was sagst du, sind wir im Geschäft?“
Natürlich war Renan zunächst völlig baff, sagte dann aber eine unmittelbare Klärung mit ihrem Redakteur zu. Zehn Minuten später war der Deal perfekt. Engel hatte zunächst etwas rumgezickt und von der nicht manipulierbaren Presse gefaselt, konnte dem hingehaltenen Köder einer Info aus erster Hand und ihrem Versprechen, sich jetzt ernsthaft Mühe zu geben, jedoch nicht widerstehen.
Letztendlich erzählte er Renan sämtliche bekannten Einzelheiten, schwor sie aber gleichzeitig auf weitestgehendes Stillschweigen ein. Er wusste, dass er ihr vollstens vertrauen konnte. Das, was sie dann aus den wenigen zurzeit öffentlich nutzbaren Fakten machen würde, wäre jedenfalls von einer Qualität, die dicke für die erste Seite als Aufmacher reichen würde und nicht mehr mit ihrem gestrigen dünnen Geschichtchen vergleichbar wäre. Fünf Minuten nach dem Erscheinen dieses Artikels am Montag würde dann ein empörter Bubi Sachser bei ihm auflaufen, dem er dann mit gut gespielter Entrüstung vorwerfen könnte, dass er mal wieder sein Ego nicht im Zaum gehalten und der widerlichen Presse irgendwas gesteckt haben müsse. Sachser würde dann einerseits die Welt nicht mehr verstehen und sich andererseits riesig ärgern, dass nicht er es gewesen war, der die Öffentlichkeit informiert hatte.
Auf die Tour könnte der Montag zumindest einen einigermaßen befriedigenden Anfang nehmen – was danach hinten raus noch passierte, war ja ohnehin meist nur mit einem Begriff aus der Fäkalsprache zu umreißen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
∞ 12:00 Uhr ∞
Der große Kaffeekenner und Spezialist für heikle Aufträge aller Art hatte zwei Telefongespräche geführt. Das erste war für ihn alles andere als angenehm gewesen, denn er hatte seinen Auftraggeber darüber informieren müssen, dass es Schwierigkeiten mit dessen Lieferung gebe. Wie nicht anders zu erwarten, hatte dieser im ersten Moment ziemlich ungehalten reagiert. Allein die Tatsache, dass er schon so oft tadellose Arbeit abgeliefert hatte, daher bislang in Fachkreisen einen untadeligen Ruf genoss und als im höchsten Grade zuverlässig galt, bewahrte ihn zunächst vor unmittelbaren Sanktionen.
Man hatte ihm aber unmissverständlich eine endgültige Frist zur Erledigung des Auftrages gesetzt, die er nicht verstreichen lassen durfte. Unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung vor Ort erschien ihm eine Umsetzung in der vorgegebenen Zeit jedoch nicht realistisch. Um dennoch seinen allerbesten Willen zu verdeutlichen, hatte er daher angeboten, den Geldbetrag zunächst aus seinen privaten Mitteln vorzulegen, um nach außen hin in jedem Falle den guten Ruf seines Auftraggebers als seriöser Geschäftsmann nicht zu gefährden. Im Gegenzug hatte er allerdings um angemessene zeitliche Freistellung nachgesucht, damit er sich dann der Wiederbeschaffung seines eigenen Geldes widmen könne. Dies wurde ihm tatsächlich gestattet, genauso wie die Möglichkeit, den hier in München sitzenden Informanten für seine Zwecke einzuschalten.
Das hatte er dann auch unmittelbar mit seinem zweiten Anruf getan. Die Kontaktperson war hierüber allerdings in keinster Weise begeistert gewesen, um nicht zu sagen, der Mann war zutiefst entsetzt und zeigte keinerlei Ambitionen, ihn in irgendeiner Form tatkräftig unterstützen zu wollen. Letztlich brauchte es eines deutlichen Hinweises darauf, dass er über ausreichende Informationen verfügte, ihn öffentlich hinzuhängen und ihm ein Erste-Klasse-Ticket für einen mehrjährigen Haftaufenthalt in „Stadelheim“ zu garantieren. Er hatte ihn dabei nur ganz kurz an seine vor Jahren begangene Dummheit erinnern müssen, als dieser ein paar Euro für eine völlig unwichtige Information eingesteckt hatte. Wenige Tage danach hatte der Mann dann Besuch von einem ausgesprochen seriös auftretenden Herrn mittleren Alters erhalten, der ihm mit leicht italienischem Akzent erläutert hatte, dass es nicht sein Schaden sein solle, wenn er jetzt künftig für die ehrenwerte Gesellschaft arbeite. Dies war das übliche Vorgehen zur Rekrutierung, das natürlich auch nicht daran scheiterte, dass der Betroffene sich zunächst einmal heftig weigerte. Das war normal. Dann bekam er nämlich gestochen scharfe Bilder seines Fehltritts gezeigt, die gemeinsam mit den belastenden Dokumenten bereits auf dem Schreibtisch seines Vorgesetzten liegend fotografiert waren. Das reichte zumeist, um den noch immer vorhandenen Widerstand endgültig zu brechen.
Sein aktueller Informant hatte bislang nur kleinere Jobs erledigen müssen. Bei diesem Mordfall würde er aber ernsthafte Inhalte abliefern. Er hatte dem Mann daher unmissverständlich deutlich gemacht, dass er weder von überdurchschnittlichem Humor geplagt noch ein Freund außergewöhnlicher Heiterkeitsanfälle sei und ihn daher ohne Skrupel öffentlich bloßstellen werde, wenn er nicht hundertprozentig pariere. Diesen Argumenten konnte sich sein Gegenüber dann offensichtlich nicht mehr verschließen. Mittlerweile ging der Knabe wieder in der Spur. Zweifellos hatte er ihm eine Scheißangst gemacht, denn seine Panik war am Telefon beinahe zu riechen gewesen. Sie hatten einen täglichen Informationsaustausch und einen sofortigen Anruf verabredet, wenn wesentliche Erkenntnisse vorlägen.
Nachdem das nun erledigt war, musste er nur noch dafür sorgen, dass er sich umgehend den Geldbetrag für Hannover beschaffte und rechtzeitig lieferte. Das würde überhaupt kein Problem darstellen und sollte spätestens bis Montag erledigt sein, aber es war halt lästig. Danach ging es dann hier in München an die Wiederbeschaffung seiner eigenen Finanzen.
Eigentlich war er derzeit trotz allem über den Stand der Dinge gar nicht unzufrieden. Er würde die Sache elegant und ohne größere Probleme erledigen – so wie immer halt! Und natürlich würde er sich mit Freuden auch noch den einen oder anderen Besuch in diesem Kaffeehaus gönnen, wenn er sich jetzt schon auf eine längere Wartezeit an diesem Ort einstellen musste.
∞ tagsüber ∞
So langsam kamen die Informationen zusammen.
Stefan überflog die ersten vorläufigen Berichte von Spurensicherung und Gerichtsmedizin, worin im Wesentlichen die gestrigen Vermutungen bestätigt wurden. Das unbekannte, ca. 16 Jahre alte Mädchen war in der Nacht von Donnerstag auf Freitag gegen 02:00 Uhr gestorben. Todesursache war Ersticken aufgrund von Strangulation durch Erwürgen. Sichtbare Würgemale am Hals sowie typische Brüche von Zungenbein und Kehlkopf. Hierfür sprachen auch ein Übermaß an sauerstoffreduziertem Hämoglobin im venösen Blut sowie Petechien, also feine rote Punkte und Flecken auf der Leder- und Bindehaut beider Augen. Allein deren Vorhandensein bedeutete grundsätzlich zwar kaum mehr, als dass Kapillargefäße geplatzt waren, was bereits durch Husten, Niesen, Erbrechen oder starkes Pressen beim Stuhlgang oder einer Geburt hervorgerufen werden konnte. Allerdings galten sie typischerweise auch als Folge plötzlicher Gefäßstauungen im Kopf bei einer Strangulation.
Prellung mit Bluterguss am hinteren Schädel, was darauf schließen ließ, dass sie mit Wucht mit dem Kopf aufgeschlagen oder mit Gewalt niedergedrückt worden war. Könnte auf der Motorhaube des Autos gewesen sein, denn am Tatort waren ansonsten diesbezüglich keine weiteren Spuren entdeckt worden. Jedenfalls stammte die Kopfverletzung nicht vom Schlag mit einem stumpfen Gegenstand.
Abschürfungen an den Handgelenken ließen darauf schließen, dass sie gegen ihren Willen festgehalten worden war. Offensichtlich hatte sie sich heftig gewehrt, denn unter den Fingernägeln ihrer linken Hand waren Blut- und Hautreste sichergestellt worden. Sie hatte einen ihrer Peiniger also kräftig gekratzt. Das könnte ausgereicht haben für eine DNA-Analyse. Außerdem waren unter mehreren Fingernägeln beider Hände rote Lackpartikel gefunden worden. Wahrscheinlich hatte sie damit auch über den Lack des Autos gekratzt und sich dabei mehrere Fingernägel abgebrochen. Wenn sie durch den Lacktyp das richtige Auto fänden, könnten sie zweifelsohne auch die hinterlassenen Kratzspuren finden und sichern.
Sowohl im Vaginal- als auch im Analbereich waren Verletzungen festzustellen, die auf gewaltsames Eindringen zurückzuführen waren. Selbst wenn der Sexualakt zu Beginn vielleicht mit ihrem Einverständnis begonnen haben mochte, geendet hatte er jedenfalls mit Gewalt. Entsprechende Abstriche aller Körperöffnungen ergaben Hinweise, dass auch Oralverkehr durchgeführt worden war.
Spermaspuren, vermutlich von zwei verschiedenen Männern, waren sichergestellt worden, die aber noch ausgewertet werden mussten. Hieraus ließen sich jedenfalls genetische Fingerabdrücke gewinnen, die dann mit der DNA-Datei des Bundeskriminalamtes verglichen würden. Diese könnten nahezu zweifelsfreie Aussagen über den Spurenverursacher liefern, wenn man einen solchen denn schon mal ausgemacht hätte. Leider ließen sich hierdurch jedoch keine Aussagen zu Persönlichkeitsmerkmalen wie Haar- oder Augenfarbe, Statur, Herkunft oder Charakter herleiten.
Andererseits waren eine Vielzahl weiterer Faser- und Speichelspuren sowie fremde Kopf- und Schamhaare am Körper und der Kleidung der Toten entdeckt worden, die schon eine Fülle an Informationen bringen würden. Allerdings würde deren Auswertung auch eine entsprechende Zeit in Anspruch nehmen, was genauso für die noch nicht identifizierten Reifenspuren galt.
Die Fingerabdrücke der Toten waren nicht gespeichert, konnten daher auch nicht zur Identitätsfeststellung beitragen. Ob die Kleidungsstücke bis zum Hersteller zurückzuverfolgen waren, stand noch in den Sternen. Wahrscheinlich würde eine Isotopenanalyse durchgeführt, um ggf. über die in Haaren, Fingernägeln, Zähnen und Knochen enthaltenen Informationen Aufschluss über die Lebensumstände der letzten Monate oder auch die Kindheit des Opfers zu erhalten.
Zu einem der letzten ihrer Lebensumstände gehörte jedenfalls, dass sie gestern Nacht ziemlich high gewesen sein musste, wobei allerdings keine Anzeichen von dauerhaftem, starkem Drogenkonsum vorlagen.
Wenn der Spruch „Es gibt kein perfektes Verbrechen“ vor 30 Jahren noch aus polizeilichem Wunschdenken heraus entstanden war, so waren heute die kriminaltechnischen und gerichtsmedizinischen Untersuchungsmöglichkeiten immens. Das führte unter anderem dazu, dass zirka 90 % der durchschnittlich über 50 jährlichen Tötungsdelikte in München aufgeklärt werden konnten, woran die rund 120 Kolleginnen und Kollegen der Spurensicherung einen maßgeblichen Anteil hatten. Sie hatten schon bei Fällen mit weit weniger Anhaltspunkten zielgerichtet den verantwortlichen Täter aufgespürt.
Und diesen Mord würden sie ebenfalls aufklären, das stand für Stefan und seine Kollegen felsenfest. Denn diese Mistkerle, die junge Teenager so brutal vergewaltigten und dann umbrachten, wollten sie auf jeden Fall in ihre Finger bekommen und zur Rechenschaft ziehen. Das waren sie der Kleinen ganz einfach schuldig.
Im Grunde seines Herzens liebte Stefan seinen Beruf, aber an Tagen wie diesem fand er ihn manchmal einfach nur zum Kotzen. Er überlegte sich, ob er sich nicht doch noch bei Mike einen Absacker gönnen sollte, entschied sich dann letztendlich aber doch dagegen, weil es am morgigen Sonntag wieder früh weitergehen sollte.
Bevor er die präsidialen Hallen gegen 18:00 Uhr verließ, rief er noch einmal bei K14 an und fragte nach, ob es zwischenzeitlich Neuigkeiten bezüglich der noch immer spurlos vermissten Steffi Bauer gebe. Das war aber leider nicht der Fall. Die Kollegen hatten über den zuständigen Handy-Provider zwar mittlerweile feststellen können, dass das Gerät zur fraglichen Zeit, als diese ominöse SMS kam, in der Nähe des Englischen Gartens in das System eingebucht war. Eine aktuelle Handyortung war allerdings bisher nicht gelungen. Insoweit war derzeit nur Fehlanzeige zu melden. Er beschloss, nicht jetzt, sondern erst später am Abend bei Eva anzurufen und ihr hierüber Bescheid zu geben. Er hatte jetzt echt keinen Nerv auf unnütze Endlosdiskussionen mit offenem Ausgang. Außerdem würde Eva es ohnehin als Erste von Maria erfahren, wenn die Kleine zwischenzeitlich wieder aufgetaucht wäre. Er wollte jetzt einfach nur nach Hause, freute sich auf eine heiße Dusche, danach ein kühles Bier, vielleicht hörte er noch ein wenig Musik und dann würde er heute mal früh zu Bett gehen und hoffentlich bis morgen durchschlafen.
∞ Vergangenheit ∞
„Hallo Stefan, ich hoffe es geht dir RICHTIG gut!“
Ein von drei kräftigen Bodybuildern mit Anlauf geschleuderter 5-Kilo-Monster-Vorschlaghammer hätte nicht heftiger einschlagen können als diese 9 Worte.
„Hallo Stefan, ich hoffe es geht dir RICHTIG gut!“
Sein ansonsten keineswegs eingeschränkter Verstand war in diesem Moment völlig paralysiert und nicht in der Lage, das Gelesene auch nur annähernd zu verstehen. Wie ein kleines Kind, das etwas Verbotenes getan hatte, loggte er sich automatisch aus der offenen Website und fuhr den Computer sofort völlig herunter, als würde das jetzt noch helfen, stand auf und verließ zunächst den Raum.
Sekunden später war er wieder da, nur um mit nahezu Höchstpuls vor dem dunklen Bildschirm zu sitzen und das Chaos in seinem Kopf einfach nicht in den Griff zu bekommen. SIE hatte geschrieben.
Woher wusste sie nur von ihm? Weil er auf ihrer Seite gewesen war? Wie kannte sie seine Adresse? Wieso gerade jetzt?
Da er keine Ahnung von den Abläufen bei heutigen Chatrooms hatte, wusste er natürlich nicht, dass sein gestriger Besuch auf ihrer Seite einen automatischen Hinweis mit seinem Namen und einen unmittelbaren Link zu ihm hinterlassen hatte. Das wäre ihm auch grundsätzlich völlig wurscht gewesen. Jetzt war nur eines wichtig, sie hatte ihn entdeckt und tatsächlich geschrieben. Was sollte er nun tun?
Letzte Nacht waren seine Gedanken mit ihm schon Amok gelaufen und er hatte sich nicht entscheiden können, ob er sich überhaupt trauen sollte, so zu sagen aus alter Verbundenheit aber natürlich völlig unverbindlich, eine Nachricht an sie zu schreiben. Er war noch zu keinem Ergebnis gekommen und jetzt hatte sie ihn ganz einfach und unkompliziert dieses Problems enthoben. So war sie früher schon gewesen, viel spontaner während er in privaten Dingen immer erst alles überdenken musste, eine Eigenschaft, die überhaupt nicht zu seinem dienstlichen Ich passte.
Sehr zaghaft schaltete er seinen Rechner wieder an, mit weit abgespreizten Fingern, als könne er sich mit jeder Berührung der Tastatur die Kuppen verbrennen, und lud erneut diese Website. Sofort suchten und fanden seine Augen wieder jenen magischen Satz. Mehr hatte er von der Seite bislang noch nicht registriert. Jetzt schaute er sich erstmals um und sah, dass es heutigen Chattern relativ einfach gemacht wurde, ein Gespräch zu führen. Am rechten Seitenrand waren verschiedene Funktionsfelder hinterlegt. Er klickte auf das mit der Aufschrift „Antworten“ und wurde sofort in ein anderes Textfeld geleitet. Was sollte er nur schreiben? Sollte er überhaupt antworten oder erst noch mal abwarten? Wenn ja, dann musste er höflich und völlig unverbindlich bleiben, vielleicht sogar ein wenig gleichgültig klingen, keinesfalls jedoch aufdrängend. Sicherlich würde sie genauso gespannt auf eine harmlose Reaktion von ihm warten. ‚Mensch Junge, so was bekommst du doch wohl noch hin.‘ Schließlich tippte er den Nobelpreis verdächtigen Antwortsatz:
„Hallo meine Liebe, mir geht es gut, und wie geht es dir“, und drückte auf das „Senden“-Feld, selbst erstaunt über seine literarische Brillanz und den spontanen Anfall von Übermut.
Dann machte er den PC sofort wieder aus. Da nicht zu erwarten war, dass sie um diese Uhrzeit wartend vor ihrem Gerät sitzen würde und er jetzt gefühlsmäßig auch nicht mit einer weiteren Nachricht hätte umgehen können, begab er sich ins Bad und machte sich fertig für den Tag.
Er war als erster im Büro und verschreckte damit nur die Kollegen. Den ganzen Tag über ging sie ihm nicht aus dem Kopf und er brachte kaum etwas Brauchbares zustande. So früh wie möglich machte er sich wieder vom Acker und legte den Weg zu seiner Wohnung nach Neuhausen in Rekordtempo und unter Missachtung sämtlicher Verkehrsregelungen zurück. Er hatte die Jacke noch an, als sein Rechner schon hochgefahren war und er tatsächlich eine Antwortmail von ihr fand.
Das war der Beginn mehrerer anstrengender Wochen, in denen sie sich gegenseitig in jeder freien Minute E-Mails schickten und sich beiderseits ihr Leben der letzten 20 Jahre erzählten. Sie war seit Jahren mit einem Immobilienmakler verheiratet und hatte eine zehnjährige Tochter. Nachdem sie einige Jahre durch die ganze Republik gereist waren, hatten sie sich vor zwei Jahren wieder in München niedergelassen.
Vier Tage und zirka 300 E-Mails später gestand sie ihm nachts gegen 00:22 Uhr: „du warst der wichtigste mann in meinem leben. die ganz große liebe. nicht wieder gefühlte nähe. mit sicherheit mein „mr. Right“. So, und das sag ich jetzt nicht noch mal *g*, naja, vielleicht noch 1 bis 1000 x wenn du es denn wirklich hören willst. und nun geh schlafen !!!!!!!“
Der größte Fehler ihres Lebens sei gewesen, dass sie ihn damals verlassen hatte, dass er immer ihre einzige Liebe gewesen sei und bleiben würde, unabhängig von ihren derzeitigen Lebensumständen und ihres Familienstandes. Gegen 00:22:30 Uhr wusste er dann auch endlich, wie es sich anfühlen musste, wenn man von einem ICE mit einer Höchstgeschwindigkeit von 250 km/h überrollt würde. Heftiger als die Reaktion seines Körpers auf dieses Eingeständnis konnte der Einschlag des aktuellen Flaggschiffs der Deutschen Bahn auch nicht sein. Und dann brachen auch bei ihm alle Dämme und er erzählte ihr über seine Gefühle, die über 20 Jahre tief in ihm geschlummert hatten und jetzt nahezu gleichzeitig unkontrolliert ihren Weg ans süddeutsche Tageslicht suchten.
Wenige Tage später trafen sie sich erstmals zu einem kurzen Spaziergang im Englischen Garten. Beide waren hyper-nervös, verschüchtert und hielten nach einer ersten verkrampften Umarmung einen reichlichen Sicherheitsabstand. Sie waren gespannt gewesen, wie sich der andere verändert hatte und beide stellten natürlich fest, dass diese 20 Jahre auch an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen waren. Dennoch steigerte sich durch diese halbe Stunde ihr gegenseitiges Entzücken ins Unermessliche. Aber wie sollte diese ganze Angelegenheit nur weitergehen? Sie war noch immer verheiratet und führte eigentlich eine glückliche Ehe, und sie hatte noch immer eine kleine Tochter.
Was auch immer passieren sollte, beide waren sich völlig einig darüber, dass es überhaupt keine Alternative zu ihrer derzeitigen privaten Situation gebe und ihr künftiges Handeln sich immer an der Sicherheit dieser Familie orientieren müsse. Aber sie wollten es dennoch genießen, sich wieder gefunden zu haben und von ihrer gegenseitigen Liebe zu wissen. Was auch immer geschehen würde, dies konnte ihnen niemand nehmen, es war ein unbezahlbares Geschenk und sie waren Gott, oder wer auch immer letztendlich dafür verantwortlich war, sehr dankbar.