Читать книгу Frühblüher schneidet man später. Ein München-Krimi - Jochen Geißel - Страница 8

KAPITEL 3 – SONNTAG , 11. MAI

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∞ 11:00 Uhr ∞

Es war später Morgen und Maria Bauer saß alleine in ihrer Küche. Sie trank bereits ihre zweite Kanne schwarzen Kaffees für diesen Vormittag und der putschte sie natürlich ganz schön auf. Aber ihre Nerven wären ohnehin selbst mit einer starken Dosis Valium nicht zu beruhigen gewesen. Sie hatte in den beiden letzten Nächten fast überhaupt kein Auge zugemacht und viele Tränen waren geflossen. Natürlich konnte sie nicht aufhören, an ihre Tochter zu denken. Bislang hatte die Polizei noch keine Spur von ihr entdeckt, aber sie hoffte mit jeder Faser ihres Körpers, dass ihr Kind noch lebte.

„… ich ertrage es nicht mehr und muss irgendwie aus diesem Gefängnis heraus“, hatte sie ihr geschrieben, bevor der letzte Kontakt abbrach. Was war ihrer Kleinen nur passiert?

Als die Klingel der Wohnungstür anschlug, schreckte Maria hoch und rannte sofort zum Eingang. Sie wusste zwar nicht, was sie denn eigentlich erwarten sollte, aber letztendlich bestand ja immerhin die Hoffnung, dass Steffi plötzlich vor der Tür stand. Aber sie war es nicht. Vor ihr stand vielmehr eine junge Frau Anfang dreißig, mit hübschem Gesicht, schulterlangem Haar und einer schlanken Figur. In der rechten Hand hielt sie einen breiten Pilotenkoffer, ohne jedoch wie eine Pilotin auszusehen. Auch wenn sie kein Türklinkenputzergesicht hatte, wollte Maria erst gar kein Gespräch irgendeiner Art aufkommen lassen, erst recht nicht an einem Sonntag, und sagte wenig freundlich: „Sorry, kein Interesse!“ Sie drehte sich bereits auf dem Absatz um und wollte schon die Tür ins Schloss fallen lassen, als die Mittelblonde ihr einen Ausweis hinhielt.

„Frau Bauer, mein Name ist Elke Jacobsen und ich komme von der Kriminalpolizei München. Ich ermittle in Sachen Ihrer vermissten Tochter und ich würde gerne mal mit Ihnen sprechen.“

Wie vom Blitz getroffen, erstarrte Maria in ihrer Bewegung und fühlte sofort den dicken Kloß, der sich in Sekundenschnelle aus dem Nichts in ihrem Magen gebildet hatte. Panisch blickte sie in das Gesicht der Polizistin, denn sie befürchtete nun doch, die kommende Nachricht nicht ertragen zu können. Aber die Kriminaloberkommissarin hatte keine Neuigkeiten zu verkünden, keine guten, aber auch keine schlechten, und das beruhigte Maria Bauer dann doch. Sie bat die Beamtin in ihre Küche und bot ihr einen Kaffee an. Die Polizistin nahm gerne an, denn üblicherweise saß sie sonntags um diese Uhrzeit auch beim Frühstück, aber viel lieber im Pyjama und gemeinsam mit ihrem Freund. Aber in den aktuellen Zeiten blieben ihr viel zu oft auch solche Sonntage nicht erspart. Maria Bauer setzte sich zu ihr und ließ sich von der Kommissarin erklären, was bislang alles herausgefunden worden war. Das lag im Ergebnis ziemlich nahe bei nichts. Für Jacobsen war es offensichtlich wichtig, mehr über die Hintergründe des vermissten Mädchens zu erfahren, weshalb sie deren Mutter aufforderte, die gesamte Lebensgeschichte ihres Kindes zu erzählen. Sie hörte geduldig zu und stellte kaum Zwischenfragen. Nur bei der jüngsten Vergangenheit hakte sie öfter nach. Welche Freunde hatte Steffi, mit wem traf sie sich außerhalb der Schule, welche Kneipen und Discos besuchte sie regelmäßig, was war mit Jungs, wie war das Verhältnis Mutter– Tochter, hatte Steffi Geheimnisse, gab es in letzter Zeit öfter Streit, worüber, und so weiter und so fort. Maria erzählte alles ausführlich und es war ihr wichtig, deutlich zu machen, dass ihr Kind absolut behütet aufwuchs. Ihr war allerdings nicht klar, wie diese ganzen Fragen bei der Suche nach dem Aufenthaltsort von Steffi helfen könnten. Diejenigen, die ihr heute Schlimmes antaten, hatten sicherlich nichts mit ihrem Bekanntenkreis und ihrer Vergangenheit zu tun.

Elke Jacobsen hatte sehr viel notiert, Namen, Orte und was sonst noch. Nach gut eineinhalb Stunden bat sie, sich außerdem das Zimmer von Steffi ansehen zu dürfen, zu Marias Überraschung jedoch alleine. So könne sie sich einen eigenen, unbeeinflussten Eindruck machen und möglicherweise Dinge sehen, für die Eltern kaum ein Auge hätten. Bevor sie die Zimmertür schloss, bat sie Maria noch, sie möge nach einem aktuellen Bild ihrer Tochter suchen, das sie ihr leihen könne und natürlich schnellstens zurückerhalte.

Und jetzt stand sie mitten im Zimmer der sechzehnjährigen Stefanie Bauer, zog sich ein Paar von diesen Einmalhandschuhen an und konnte hier die eben gehörte Geschichte auf den ersten Blick nicht wiedererkennen. Natürlich fand sie hier die üblichen Möbel, Bett, doppeltüriger Kleiderschrank, ein Schreibtisch mit Stuhl davor, ein Schminktisch mit großem Spiegel, aber wenigen, überschaubaren Utensilien davor, ein Drucker, eine Musikanlage und mehrere CD-Ständer voller Hits. Alles schien aber so aufgeräumt, akkurat und wie nach Plan hingestellt, nicht wie von einem Mädchen im schwierigen Alter vorgestern noch benutzt. Selbst die Bilder über dem Bett, Bravo-Hochglanz-Schnitte von Sasha und einer ihr unbekannten amerikanischen Boygroup namens Jonas Brothers hingen an der Wand wie mit einer Wasserwaage ausgerichtet. Im Kleiderschrank hingen und lagen alle Kleidungsstücke in exaktem Abstand auf den Bügeln oder Einlegeböden. Es schien allerdings, als wären dies jeweils ältere und nicht aktuell getragene Hosen und Shirts. Auf dem Bücherregal neben dem Schreibtisch waren die Schulbücher ihrer Größe nach aufgereiht, genau wie eine Reihe tiefer alle Schulhefte. Die unteren Reihen waren voll mit genau beschrifteten und chronologisch angeordneten Bilderalben, immer zwei für jedes Lebensjahr. Auffallend war, dass diese Reihe seit einem Jahr nicht mehr fortgeführt war. Die letzten Bilder stammten von einer angehenden Fünfzehnjährigen und dann kam nichts mehr. War das der Moment, in dem sich das Leben von Steffi Bauer änderte, ohne dass es ihre Mutter mitbekommen hatte?

Elke Jacobsen hatte keinerlei Zweifel, dass Maria ihr eben die absolute Wahrheit aus ihrer Sicht erzählt hatte, aber das hatte nach ihrem gerade entstehenden Bauchgefühl nichts mit dem Leben ihrer Tochter zu tun, das diese im Moment führte. Es gab hier keinerlei Hinweise darauf, was für das Mädchen derzeit lebenswichtig war und allein dieses Fehlen war ein einmaliges, in allen gleichgelagerten Fällen wiederkehrendes Anzeichen dafür, dass sie die wichtigen Dinge für ihr wirkliches Leben an einem anderen Ort aufbewahrte, z. B. bei einer besten Freundin. Wenn es darauf angekommen wäre, hätte die Kommissarin in diesem Moment schon jede Wette darauf abgeschlossen, dass sie vorliegend nicht wegen eines Verbrechens ermittelte, sondern vielmehr eine verliebte Sechzehnjährige suchte, die sich von ihrer Mutter völlig unverstanden fühlte und ihre ersten ernsthaften Liebeserfahrungen machte. Natürlich musste es da einen Jungen geben, auch wenn die Mutter dies für völlig abwegig hielt. ‚Komm Steffi, gibt mir einen Hinweis.‘

Neben dem Schreibtisch stand der Schulranzen, heutzutage waren dies ja alles Rucksäcke, der möglicherweise noch einen Hinweis enthalten könnte. Aber alle Bücher und Hefte waren sauber und mit einer feinen Schrift geführt, ohne irgendwelche kindlichen Kritzeleien, aufgemalten Bildchen oder Sprüche. Das war alles so unnatürlich steril, für ein Mädchen dieses Alters absolut unnatürlich. Aber dann fand sie doch endlich einen Hinweis und der ließ sie erst mal aufatmen. Das Kind war offensichtlich völlig normal, wollte aber zweifellos, dass ihre Mutter nichts davon erfuhr.

Sie führte selbst mit 16 Jahren noch ein sogenanntes Hausaufgabenheft, in dem sie für jeden Schultag die zu machenden Aufgaben notierte. Auch dieses Heft war von Anfang an vorbildlich und sauber geführt, aber nur für die ersten vier Monate des Schuljahres. Dann trat plötzlich eine Veränderung ein. Inhalte wurden teilweise nur noch hingeschmiert, es gab auf einmal Tage ohne jegliche Einträge. Erstmals im Februar tauchten bei verschiedenen Tagen mit roter Schrift gemalte Herzchen auf, mit jedem Tag dann immer öfter, immer größer und bunter. Nirgendwo stand ein Name, aber plötzlich wurde der Buchstabe M in allen möglichen Varianten wiederholt und schließlich stand er einmal inmitten eines Herzens und war mit einem Pfeil Amors durchbohrt. Und als Elke Jacobsen die letzte Seite des Heftes aufschlug, wurde ihr auf einmal auch bewusst, was ihr in diesem Zimmer noch fehlte. Sie sah sich um, doch nirgendwo konnte sie den Bildschirm eines PC oder gar ein Notebook stehen sehen. Wozu dann der Drucker neben dem Schreibtisch und die vielen E-Mail- und Internet-Adressen in diesem Heft, von denen einige sicherlich typisch für Jugendliche waren, YouTube, w-k-w, ICQ, facebook und ähnliches. Wenn das kein Grund zum ernsthaften Nachdenken war. Davon hatte Maria Bauer sicherlich keine Ahnung.

Als die Kommissarin nach einer geschlagenen Viertelstunde die Zimmertüre wieder öffnete, tigerte Maria Bauer gerade zum hundertsten Mal in der Diele auf und ab und schaute die Polizistin erwartungsvoll an. Natürlich konnte sie nichts entdeckt haben, was ihr als Mutter nicht schon selbst aufgefallen wäre. Elke Jacobsen bat Maria ins Zimmer.

„Sieht ja unglaublich aufgeräumt aus. Ist das immer so oder nur, weil Sie in den letzten beiden Tagen einem inneren Zwang hierzu gefolgt sind?“

„Nein, üblicherweise ist meine Steffi ein sehr sorgfältiges Kind, die ihr Zimmer und auch ihre sonstigen Sachen absolut in Ordnung hält. Da brauche ich gar nicht mehr nachzuschauen“, erklärte Maria Bauer mit unverkennbarem Stolz.

„Vielleicht täusche ich mich ja, aber für mich sieht das hier nicht wie das typische Kinderzimmer einer Sechzehnjährigen aus. Also mein Zimmer hat nie so ausgesehen. Können Sie mir bei dieser Ordnung denn auf Anhieb sagen, ob hier irgendetwas fehlen könnte?“

Maria Bauer sah sich um, konnte aber wie erwartet nichts finden, was nicht an seinem Platz wäre.

„Weshalb soll denn auch etwas fehlen?“, fragte sie nahezu entschuldigend.

„Dann schauen Sie doch bitte mal in den Kleiderschrank.“ Auch hier war alles wohl sortiert. „Sicherlich können Sie mir sagen, ob diese Kleider aktuell überhaupt noch getragen werden. Mir kommt es eher so vor, als seien die Jeans viel zu klein für ein Mädchen mit einer Größe von 1,65 m. Aber vielleicht täusche ich mich ja.“

Maria öffnete den Schrank. Freudig lächelte sie über die erwartete Ordnung. Mit der Hand ging sie jedes einzelne Fach durch, berührte die verschiedensten Einzelteile, als wären mit ihnen Geschichten verbunden, die dadurch wieder lebendig wurden. Plötzlich stutzte sie, schaute dann nochmals und begann schließlich offenkundig zu suchen.

„Es fehlen zwei Paar neue Jeans, die dazugehörenden Blusen und zwei bunte Sweatshirts. Sie können nicht bei der Wäsche sein, denn die Sachen habe ich erst in dieser Woche frisch in den Schrank gelegt. Außerdem fehlen die roten Chucks, die Steffi nicht zum Tanzen anhatte.“

Leicht verwirrt drehte sich Maria Bauer zur Polizistin um, die im gleichen Moment ihre eigentliche Vermutung als bestätigt ansah.

„Jetzt schauen Sie bitte mal nach, ob eine Ihrer Reisetaschen fehlt“, bat die Kommissarin. Die völlig verwirrte Mutter verstand noch nicht, worauf das alles hinauslaufen sollte, war jedoch mehr als nur verwundert, als sie nach wenigen Momenten feststellte, dass Steffis große Sporttasche von NIKE fehlte. Die musste dann wahrscheinlich im Keller stehen.

„Frau Bauer, nach meiner Erfahrung werden Sie die Tasche weder im Keller noch sonst irgendwo in der Wohnung finden, genauso wenig, wie die abgängigen Kleidungsstücke, denn Ihre Tochter hat die Sachen vermutlich mitgenommen und woanders untergebracht.“

Elke Jacobsen hätte ihre Ausführungen auch in Altgriechisch machen können, sie wären für Maria Bauer nicht unverständlicher gewesen. Wovon redete die Polizistin denn nur? Warum sollte Steffi die frisch gebügelten Sachen denn in einer Reisetasche weggebracht haben? ‚Offensichtlich braucht sie noch einen Hinweis‘, dachte die Kommissarin und fragte: „Besitzt Steffi ein Notebook?“

„Natürlich, das steht doch immer hier auf dem Schreibtisch“, sagte die verwirrte Frau, deren ungläubiger Blick dann auf dem leeren Pult verharrte.

„Fehlt ebenfalls, nicht wahr?“

„Das verstehe ich nicht“, versicherte Maria Bauer, in deren Gesicht sich jedoch so langsam die ersten Spuren der Erkenntnis zeigten. „Wo kann sie die Sachen denn hingetan haben?“

„Frau Bauer, Ihre Tochter hat die Sachen an einen anderen Ort gebracht, und zwar bevor sie am Freitag das Haus verließ, um zum Tanzen zu gehen. Nach alledem muss ich derzeit davon ausgehen, dass hier kein Verbrechen vorliegt, sondern dass Stefanie sich gezielt aus dem Staub gemacht hat. So unglaublich und schlimm das jetzt für sie klingen mag, aber ich bin eigentlich sehr froh über diese Erkenntnis. So was passiert täglich ein Dutzend Mal und in fast allen Fällen können die ausgebüchsten Teenager wieder gesund und munter eingefangen werden. Ich bin wirklich guter Dinge, dass wir Ihre Steffi wohlbehalten wiederfinden, denn sie scheint ja eigentlich ein vernünftiges Mädchen zu sein.“

Jetzt war das Unglaubliche ausgesprochen und sofort zeigte Maria Bauer Wirkung. Ohne weitere Vorwarnung traten ihr die Tränen in die Augen. Sie konnte und sie wollte einfach nicht glauben, was die Kommissarin ihr da vermitteln wollte. Aus welchem Grund sollte Steffi die Sachen weggeschafft haben und weshalb sollte sie ausgerissen sein? Das machte alles keinen Sinn. Steffi wusste, dass ihre Mutter bislang immer alles für sie getan hatte, dass sie immer für sie da war und alle sonstigen Wünsche hinter denen ihrer Tochter zurückstellte. Niemals würde sie daher ihrer Mutter so etwas antun, niemals. Die Polizistin ließ ihr Zeit, sich etwas zu beruhigen, zog dann das Schulheft hervor und wies auf die charakteristischen Kritzeleien eines verliebten Teenagers.

„Meinen Sie nicht auch, dass das zumindest auf eine starke Schwärmerei für einen Jungen namens ‚M‘ hindeutet?“, fragte Elke Jacobsen sanft und hätte, wäre die Situation nicht so ernst gewesen, bei dem verblüfften Gesicht ihres Gegenübers fast laut aufgelacht.

„Ja manchmal erfahren es die Mütter als allerletzte. Ihre Tochter ist über beide Ohren verliebt und aus diesem Grund wahrscheinlich abgehauen. Wo könnte sie denn hin sein, Frau Bauer? Bei welcher Freundin würde sie kurzfristig unterkommen oder zumindest ihre Sachen deponieren können?“

Langsam nahm Marias Kopf wieder seine ihm üblicherweise von der Natur zugedachte Funktion wahr. Auf Anhieb konnte sie zwei gute Freundinnen benennen, aber die würden Steffi niemals bei solch einer Aktion unterstützen, oder doch? Bis eben hätte sie sich ja auch niemals das jetzt Unfassbare vorstellen können. Schon mit großen Schritten auf dem Weg zu ihrem Telefon, konnte Elke Jacobsen die zwischenzeitlich weniger verzweifelt als eher stocksauer wirkende Kindesmutter zurückhalten. Die Kommissarin machte ihr deutlich, dass sie jetzt nichts überstürzen dürften, denn dann bestehe die Gefahr, dass sie jemanden kopfscheu mache und Steffi vorzeitig gewarnt werde. Wenn sie dann untertauche, wäre die Chance eines kurzfristigen Auffindens sicherlich vertan.

„Frau Bauer, bitte, lassen Sie mir nur bis morgen Mittag Zeit. Ich bin da eine wirklich erfahrene Fachfrau. Wenn die Mädchen in Absprache mit Ihrer Tochter handeln, finde ich es kurzfristig heraus. Morgen früh um Acht bin ich in der Schule und fühle der Klasse und auch den beiden Freundinnen auf den Zahn. Sie sind die Erste, die danach von mir informiert wird. Bitte! Bis dahin müssen Sie sich noch zurückhalten.“

Langsam beruhigte sich Maria wieder. Ja, sie würde nichts unternehmen, würde sich noch einmal am Riemen reißen und eine weitere schlaflose Nacht hinter sich bringen, aber nur noch ein einziges Mal und nur noch bis morgen Mittag.

Eines blieb noch zu tun. Elke Jacobsen öffnete den vermeintlichen Pilotenkoffer. Wie nicht anders zu erwarten, enthielt dieser kein Zubehör zur Flugnavigation oder sonstige Hilfsmittel zur Erhaltung von ohnehin schon überproportional geratenen Piloten-Egos, sondern vielmehr daktyloskopische Utensilien zur Sicherstellung von Fingerabdrücken. Aus mehreren Breitband-Bechern, die jeweils verschiedenfarbiges Fingerabdruckpulver enthielten, wählte die Kommissarin einen mit der Aufschrift „Lightning® BI-ChromatTM“. Dieses Multi-Color-Pulver nutzte sie bei fast allen Untersuchungen, denn es besaß die bemerkenswerte Eigenschaft, beim Auftragen auf eine helle Oberfläche schwarz zu erscheinen und bei dunklen Oberflächen silberfarbig. Außerdem hatte es den Vorteil, dass die abgenommenen Abdrücke beim Übertragen auf weiße Karten immer schwarz erschienen. Man brauchte also keine schwarzen Trägerkarten mehr.

Die Polizistin ließ sich von Maria Bauer die Gegenstände bezeichnen, die vermutlich nur von ihrer Tochter berührt worden waren. Mit einem dicken Zephyr-Glasfiberpinsel stäubte sie vorsichtig die bezeichneten Flächen ein. Tatsächlich wurden bald die Konturen verschiedener Fingerabdrücke sichtbar, feinste Papillarlinien, die aufgrund ihrer besonderen Schleifen und Wirbel unter 64 Millionen Vergleichsproben einzigartig waren. Mit einem speziellen Klebestreifen nahm sie die Abdrücke von der Oberfläche und klebte sie dann auf eine Trägerkarte. Die Abdrücke würden schnellstens in die Datenbank des Bundeskriminalamtes eingescannt und automatisch mit den dort schon vorhandenen rund 3,2 Millionen anderen Exemplaren verglichen. Zur Sicherheit und zum Vergleich nahm Elke Jacobsen dann über den neuen mobilen Handscanner noch die Abdrücke von Maria Bauer. Dies geschehe routinemäßig in allen Vermisstenfällen. Man könne ja niemals sicher sein, wann und wo eine gesuchte Person tatsächlich wieder in Erscheinung trete. Wann immer dann Kontakt mit der Polizei entstehen sollte, könnten die jetzt abgenommenen Abdrücke ein Wiederfinden und eine Identifikation erleichtern.

Gerade hatte sich die Wohnungstür hinter Elke Jacobsen und ihrem Pilotenkoffer geschlossen. Zurück blieb eine völlig erschütterte Maria Bauer. Hatte sie vor eineinhalb Stunden noch gefürchtet, Steffi sei Opfer eines Verbrechens geworden, so war sie mittlerweile völlig überzeugt davon, dass die Polizistin Recht hatte. Steffi war ohne Vorwarnung abgehauen. Was war nur passiert? So stinkwütend sie auch auf ihre Tochter jetzt war, so panisch war sie aber auch auf der anderen Seite. Was war nur zwischen ihnen beiden vorgefallen, ohne dass sie als Mutter dies gemerkt hatte? Wo hatte sie nur bei ihrer Tochter versagt? Sie fand keine Antwort, egal wie lange sie auch darüber nachdachte.

Sie hielt dieses Grübeln nicht mehr aus, sie musste jetzt mit jemandem reden. Also griff sie zum Hörer und rief die einzige Person ihres Vertrauens an, ihre Freundin Eva.

∞ tagsüber ∞

Eigentlich war der Sonntag relativ ruhig verlaufen.

Stefan war pünktlich aufgewacht, endlich mal ohne das Gefühl, den Pelz von Nachbars Katze auf der Zunge zu spüren. Und einen dicken Kopf hatte er nach den zwei Fläschchen Bier vom Vorabend auch nicht. Aber ehe er noch zum Gesundheitsguru werden würde, verzichtete er auf ein normales Frühstück, fuhr vielmehr in die Innenstadt, und bevor er so richtig wusste, was er überhaupt tat, biss er schon in so ein Pappteil von MacDings. Und danach auch noch in ein zweites. Irgendwie brauchte er das heute Morgen.

Danach im Präsidium waren alle Kollegen schon brav an der Arbeit und gingen den verschiedensten Hinweisen oder sonstigen Tätigkeiten nach. Die Befragung der Hausbewohner am Luitpoldpark hatte zunächst nichts Konkretes ergeben. Dennoch glaubte der Eine oder Andere, er habe etwas zu melden. Und bei einem Tötungsdelikt musste natürlich jeder Spur nachgegangen werden, sei sie auch noch so wenig erfolgversprechend, selbst wenn die Erfahrung zumeist zeigte, dass schlafende Menschen nachts um zwei kaum Verwertbares beitragen konnten. Aber manchmal gab es halt doch den einen oder anderen wichtigen Anhaltspunkt.

Sämtliche eingeschalteten Labore kümmerten sich intensiv um die Vielzahl an gesicherten Spuren, Blut, Speichel, Sperma, Haare, Fasern und einiges mehr. Stündlich kamen von allen Seiten Berichte und Ergebnisse herein, aber nichts konnte sie den Tätern so richtig näher bringen.

Dass es zwei Männer gewesen waren, stand jetzt allerdings fest, denn die Spermaspuren beinhalteten unterschiedliche DNA-Stränge und – und das war der Hammer – es schien, als sei einer der beiden Träger der recht seltenen Blutgruppe B und gleichzeitig HIV-infiziert! Endgültig konnte das aber noch nicht bestätigt werden. Der durchgeführte Schnelltest hatte jedoch HIV-Antikörper angezeigt. Jetzt würden noch der zeitaufwendige Elisa- und der Western-Blot-Test folgen müssen, um endgültige Sicherheit zu erlangen. Mit diesem Ergebnis konnte man dann einen Betroffenen schon gezielt aus einer größeren Gruppe von Menschen herausfiltern. Aber dafür musste man erst einmal eine solche Gruppe möglicher Verdächtiger haben, und das war ihnen bislang noch nicht gelungen.

Und was bedeutete das letztendlich im Ergebnis? Waren es Drogenabhängige gewesen, die an der Nadel hingen? Bereits mit Aids voll gepumpt war es ihnen vielleicht scheißegal, wenn sie andere damit auch noch ansteckten, erst recht, wenn sie sie nachher ohnehin umbrachten?

Oder waren es Homosexuelle, die sich untereinander infiziert hatten. Vielleicht gehörten die beiden aber überhaupt nicht zu den Hauptrisikogruppen und der eine Mistkerl hatte einfach nur Pech gehabt. Vielleicht wusste er noch nicht einmal von der in ihm tickenden Zeitbombe. Dann würde es Stefan ein Fest erster Güte bedeuten, ihm die Wahrheit mitten ins Gesicht zu sagen und dann wahre Freude am Einschlag der Granate zu haben. Aber das war zum jetzigen Zeitpunkt allerdings nur reines Wunschdenken. Vorher würde noch viel Problemarbeit zu erledigen sein. Die Theorie mit den Drogenabhängigen war eher weniger wahrscheinlich. Der kleinere der gefundenen Schuhabdrücke hatte ein besonderes Muster in der Sohle gehabt. Es handelte sich um einen noch wenig abgelaufenen Air Zoom Vomero Laufschuh von Nike, der knapp unter 100 € kostete. So was besaßen an der Nadel hängende Junkies üblicherweise nicht.

Die Identität des Mädchens war auch noch immer völlig unklar, keinerlei Anzeichen an ihr selbst, keine passenden Vermisstenanzeigen, nichts. Manchmal hatte man das so, konnte ’ne harte Nuss werden und sich bis zum Ende lange hinziehen.

Gegen Mittag rief Sachser an und bat höflich um den aktuellen Stand der Ermittlungen. Ein wenig ungewöhnlich war das sonntags schon, aber er wollte wahrscheinlich frühzeitig seine öffentliche Scharte wieder ausmerzen und der Presse bald wirklich konkrete Informationen zukommen lassen. Stefan versorgte ihn mit dem Allernötigsten und konnte sich den Seitenhieb nicht verkneifen, dass er damit aber noch keine weitere Pressekonferenz einberufen könne. Bubi stand offensichtlich noch immer unter Schock, denn der sonst so redegewandte Mensch ging auf diese Spitze überhaupt nicht ein, sondern legte einfach nur ohne ein weiteres Wort den Hörer auf.

Na, dann konnte Stefan ja in Ruhe den Vorabzug des Artikels weiterlesen, den Renan ihm vor wenigen Minuten gemailt hatte und der morgen auf der ersten Seite des tagblatts stehen würde. Er musste bei dem Gedanken lächeln. Sachser würde der Schlag treffen, hoffentlich, und wahrscheinlich würde er drei Minuten später in seinem Büro stehen.

Da es keine konkreten Anzeichen dafür gab, dass heute noch Vielversprechendes geschehen würde – es hatten sich für den Nachmittag weder tief dekolletierte Damen zum Verhör noch überführte Mörder zum Verhaften angekündigt – beschloss Stefan gegen 16:30 Uhr, zuerst zu Onkel Kaya und dann später noch zu Mike zu fahren und sich dort ein gemütliches Bier zu gönnen.

„Loreley, kann ich dich noch auf einen Döner und ein Bier bei Mike einladen?“, fragte er die gerade hereinkommende Tanja Wiegand, und es überraschte ihn nicht wenig, als diese unerwartet sofort sagte: „Klar Dicker, dann lass uns mal losmachen.“

Eigentlich hätte ihn diese Antwort sofort stutzig machen sollen.

∞ 17:30 Uhr ∞

Wenige Ecken vom Präsidium entfernt, auf der anderen Seite des Marienplatzes, gab es den Grill von Onkel Kaya. Das war eines der wenigen Refugien, die Stefan Bond in Münchens Innenstadt besaß, ein Platz, an dem er sich in völliger Ruhe zurückziehen konnte, wo ihn dann niemand störte, wo man ihn wie ein Mitglied der Familie behandelte, allerdings erst, nachdem er ein großes Hallo hinter sich gebracht hatte.

Onkel Kaya war der Bruder von Renans viel zu früh verstorbenem Vater. Die beiden waren Mitte der 60er Jahre alleine aus der Türkei gekommen und hatten sich mit kaum etwas auf den Rippen, keinem Geld in der Tasche und keinem Wort Deutsch im Kopf in München als so genannte Gastarbeiter niedergelassen. Sie nahmen alles an Jobs an, was sich ihnen so bot. Recht schnell wurde dabei klar, dass sie in Deutschland bleiben wollten, denn es gefiel ihnen hier. Das ging aber nur, wenn man sich anpasste, also lernten sie die Sprache und fanden schnell Freunde unter ihren deutschen Kollegen. Problematisch wurde ihr persönliches Verhältnis allerdings vorübergehend, als sich beide in die gleiche deutsche Frau verliebten. Letztendlich machte Renans Vater dann aber das Rennen.

Stefan kannte Onkel Kaya seit ziemlich genau 30 Jahren, als die gesamte deutsch-türkische Großfamilie in sein Viertel zog und Renan in die gleiche Schulklasse mit ihm kam. Genauso, wie das Mädchen in seiner Familie aufgenommen wurde, erging es Stefan auch bei Kayas. Und Onkel Kaya – bei dieser Anrede war es bis heute geblieben – hatte an ihm irgendwie einen besonderen Narren gefressen. Irgendwann hatte er ihm dann in einer schwachen Stunde auch erzählt, so wie Stefan hätte er sich mal einen Sohn gewünscht, ein unerfüllter Traum, denn Onkel Kaya hatte nie geheiratet und auch ansonsten keine Kinder bekommen.

Seit vielen Jahren betrieb der Clan dann diesen brummenden Dönerladen in Münchens Zentrum und immer wenn Stefan vorbeischaute, gab es einen Riesenauflauf und er musste die ganze Familie herzen und drücken, selbst die jungen aus nachfolgenden Generationen.

So auch heute Abend und es war schon fast nach sechs Uhr, als Tanja und er endlich einen Monster-Döner auf Kosten des Hauses bekamen, den ihnen der kleine, dicke Chef mit einem stolzen Lachen persönlich zelebrierte.

Eine Stunde später hatten sie es dann bis zum MIKES geschafft.

Es war noch nicht sehr viel Betrieb, denn die Post ging in diesem Laden immer erst viel später ab. Sein Kumpel winkte vom anderen Ende der Bar, als er die beiden eintreten sah und rief nur: „Aaahh, da ist ja das dynamische Duo. Willkommen in Münchens schönster Kneipe. Mache euch direkt mal ein Bier. Übrigens Stefan, ich habe wieder was gemixt!!!“

„Hallo Schwerer“, war Stefans undramatische Antwort, „lass mal stecken. Der letzte Flug mit deinem Flüssiggas hat mich fast in die unendliche Atmosphäre geknallt und mir nahezu eine lebenslange Umlaufbahn beschert. Und die hübsche Blonde hast du mir damit auch vertrieben. Und was Tanja angeht, die lässt du mit deinem Gift auch in Ruhe, sonst muss ich dich leider für immer unschädlich machen.“

„Das mach ich dann schon selbst“, sagte die Rothaarige, öffnete demonstrativ ihre Jeansjacke und zeigte mit Stolz auf die riesige Wumme an ihrem Gürtel.

„Ich habe nämlich mittlerweile meine neue Knarre.“

Die neue Walther P99Q full size an ihrer Hüfte war etwas schwerer als das kompakte Modell für verdecktes Tragen, aber Tanja war ein Freund von klaren Verhältnissen. Verdeckt gab es bei ihr weder im Sprachstil noch bei der Dienstwaffe oder gar im sonstigen Leben. „What you see is what you get“ war ihr Motto, auch wenn dessen Umsetzung oft sehr direkt und manchmal nur mit Schmerzen möglich war. Aber so war sie halt, und wehe dem, der das nicht akzeptieren wollte.

Hauptkommissarin Tanja Wiegand war seit ungefähr fünf Jahren Stefans dienstliche Partnerin und Stellvertreterin im Kommissariat, der er jederzeit sein Leben anvertrauen würde und dies notgedrungen auch schon musste. Anfangs hatten sie einen recht holprigen Beginn, denn er hatte dieses 1,73 m große Powerpaket mal antesten wollen und dann schneller als befürchtet lernen müssen, dass „antesten“ genauso auf der schwarzen Liste stand wie „verdeckt“.

Das hatte aber ziemlich schnell Klarheit in ihr persönliches Verhältnis gebracht – und seitdem kamen beide blendend miteinander aus. Natürlich konnte sie ihm nicht so nah stehen wie Renan oder der schwere Mike, aber sie kam schon ziemlich dicht ran.

„Also, ich finde, es wird langsam Zeit, dass du endlich raus lässt, was in den letzten Wochen so mit dir los ist“, sagte Tanja geradewegs und ohne Vorwarnung, nachdem Mike ihnen zwei Bier an den Tisch gebracht hatte.

„Aha, daher weht also der Wind. Hab mich schon gefragt, weshalb du nicht wie sonst an die Theke wolltest. Wird das jetzt ein Verhör?“

„Red keinen Quatsch“, war ihre noch nicht allzu schroffe Reaktion, „aber wir meinen, irgendwas steckt dir momentan doch ziemlich quer.“

„WIR? Wer ist denn wir?“ Er konnte es kaum fassen, aber Tanja glaubte, leider nicht zu Unrecht, dass er derzeit innerlich ziemlich neben der Spur lief. Nun, dagegen konnte er nichts machen. Aber dass sie sich darüber mit anderen unterhielt, entsprach eigentlich nicht ihrem üblichen, vertraulichen Umgang miteinander. Ungeheuerlich!

„Natürlich wir, was glaubst du denn. Meinst du ernsthaft, es fällt nicht auf, dass du in letzter Zeit oft nicht bei der Sache bist, einfach so aus dem Fenster starrst und dich selbst bei dienstlichen Inhalten nicht mehr durchgehend beteiligst. Wenn wir es nicht besser wüssten, würden wir fast glauben, es steckt eine Frau dahinter. Aber da du um deine Bekanntschaften ja üblicherweise keine großen Geheimnisse machst, haben wir das diesmal ausgeschlossen. Insoweit steht für uns fest, dass du ein anderes gravierendes Problem hast. Und das sollten wir jetzt dann endlich mal angehen!“

„So, meint ihr, das sollten wir“, mehr fiel ihm im ersten Moment dazu nicht ein. Dann allerdings, so ganz langsam, spürte er ein gerüttelt Maß an Empörung in sich aufsteigen. Er konnte sie genau lokalisieren, sie steckte noch unterhalb seines Solar Plexus, aber er musste nur noch einige Momente warten, bis sie dann mit an Deutlichkeit kaum misszuverstehenden Worten aus seinem derzeit noch immer vor Entrüstung offen stehenden Mund kommen würde. Bis es aber soweit war, konnte er gerade noch einmal tief durchatmen und seine vorherige Frage erneut mit gefährlich leisem Zischen auf den Tisch knallen.

„WER IST WIR?“

„Nun, neben mir sind das noch Renan und natürlich …“

Im selben Moment winkte Mike von der Bar und hielt Stefan einen Telefonhörer hin. Beide beendeten ihre Sätze in der gleichen Sekunde und beide sagten simultan die unglaublichen Worte:

„… deine Mutter.“

∞ 20:00 Uhr ∞

Hedwig von Stranz, geborene Herrschbach, war eine starke und dominante Frau, die die meisten ihrer 62 Jahre im Kampf verbracht hatte, und zwar im Kampf mit ihrer Umwelt, ihrer Familie, mit ihren fünf Männern, aber auch mit ihren beiden Kindern.

Gerade mal 21 Jahre alt, war sie schon verheiratet aber auch wieder getrennt lebend gewesen, als sie völlig überraschend Zwillinge zur Welt brachte. Genauso, wie es für sie völlig außer Frage gestanden hatte, das vermeintliche Kind überhaupt zu bekommen, ließ sie nicht den Funken eines Zweifels daran aufkommen, dass sie ihre beiden Kinder alleine und ohne diesen untreuen Mistkerl von Noch-Ehemann aufziehen würde. Auch den Hilfsangeboten aus der Familie hatte sie eine klare Absage erteilt, da sie nicht bereit war, nach Hause zurückzukehren und sich wieder in die Sippschaft einzugliedern, um dann dort täglich diktiert zu bekommenen, wie sie sich zu verhalten habe. Lieber ging sie eine völlig untypische Symbiose auf Zeit mit Ihrer Cousine Anita ein, mit der sie in eine gemeinsame Wohnung zog, wofür Anita ihr beim Aufziehen der Kleinen half. Geld war in diesem Zusammenhang nie ein Problem gewesen, denn davon hatte Hedwig seit ihrer Geburt in ausreichendem Maße.

Später, als die Kinder dann größer waren und Hedwig wieder mehr Zeit für sich selbst zur Verfügung hatte, beschloss sie, die Männerwelt in Münchens angezeigter Gesellschaft aufzumischen. Dabei ließ sie viele Herren in einer nicht immer nur gespielten Arroganz abblitzen, nachdem sie ihnen vorher deutliche Avancen gemacht hatte. Pech für die Herren! Das führte letztendlich aber dennoch in vier weitere Ehen, von denen es nur der selige Frederik von Stranz nicht überlebte. Mit seinem Tod vor fünf Jahren hatte er ihr ein nicht unbeträchtliches Vermögen und eine Villa hinterlassen, die ihr und der immer noch treuen Seele Anita das Leben noch angenehmer machte.

Ihren Kindern war Hedwig eine strenge, aber gute Mutter, und Renan und Mike hatte sie ja praktisch auch noch adoptiert. Seit einigen Jahren war ihr aber voller Wehmut klar, dass es ihr wahrscheinlich verwehrt bleiben würde, Großmutter zu werden. Stefan war zwar mit Mitte zwanzig in diese irrwitzige Ehe mit Eva gestolpert, aber das hatte Gott sei Dank nicht lange genug gehalten, um zu Nachwuchs zu führen. Auch wenn sie mit der Zeit ihre Schwiegertochter mögen gelernt hatte, war sie natürlich nicht die Richtige für ihn gewesen. Und Antonia hatte offensichtlich viel zu viele Gemeinsamkeiten mit ihrer Mutter, als dass sie es länger mit dem gleichen Mann aushalten wollte. Es gab doch so viele von ihnen, weshalb nicht alle mal austesten – aber nur nach ihren Regeln.

Jetzt saßen sie und Anita auf dem vielen Geld und konnten es nicht für viele kleine Bonds ausgeben. Was für eine Schande! Auf ihre Kinder war sie aber dennoch sehr stolz. Beide hatten angesehene Berufe erlernt und waren in ihnen erfolgreich. Und beide wollten mit eigener Kraft und ohne die finanzielle Deckung ihrer Mutter leben. Nur um Stefan machte sie sich in den letzten Wochen ernste Sorgen und das ging über das normale „Isst du auch immer genug?“ und „Wann hast du das letzte Mal deine Socken gewechselt?“ deutlich hinaus. Sie hatte Antonia darauf angesprochen, aber die hatte nur abgeblockt und erklärt, es sei schon alles in Ordnung mit ihm.

Aber eine Mutter spürt, was eine Mutter spürt! Nur einmal hatte sie ihren Sohn in ähnlich seelischer Verfassung wie in den letzten beiden Wochen gesehen, und das war damals, als ihn seine erste Liebe verlassen hatte. Nicht mal die Trennung von Eva hatte ihn so sehr mitgenommen. Und weil Antonia sichtlich abblockte, hatte sie sich an Renan und Tanja gewandt. Beide standen ihrem Sohn nahe genug, dass auch ihnen eine merkliche Veränderung aufgefallen war. Sie hatten zu Dritt verabredet, seinem Problem auf den Grund zu gehen. Da die beiden Mädels bislang noch nichts erreicht hatten, beschloss Hedwig voller Unruhe, jetzt selbst einzugreifen.

Sie hatte Stefan heute telefonisch nicht erreichen können. Zu Hause war er nicht. Dann würde sie es jetzt mal in Mikes Lokal versuchen, denn dort waren ihre Erfolgschancen gar nicht so schlecht.

Frühblüher schneidet man später. Ein München-Krimi

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