Читать книгу Frühblüher schneidet man später. Ein München-Krimi - Jochen Geißel - Страница 9
KAPITEL 4 – MONTAG , 12. MAI
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Die beiden Frauen schritten durch das große Portal der Prinzregenten-Realschule im Münchner Westend und erfragten sich den Weg zur Schulleitung. Sie betraten ein mit „Sekretariat“ bezeichnetes Büro und blieben vor einer breiten massiven Holztheke stehen, an der schon Generationen von Schülern ihre Spuren hinterlassen hatten und bei deren Anblick es niemanden so richtig verwundert hätte, wenn sogar der Prinzregent persönlich bei ihrer Einweihung dabei gewesen wäre. Mit dem Rücken zur Tür saß eine mausgraue Schreibkraft mittleren Alters in einem mausgrauen Kostüm und hämmerte tatsächlich mit flinken Fingern auf einer nahezu antiken elektrischen Olympia herum, einem Schreibgerät, das die rund 700 PC-besitzenden Schüler dieses Hauses nur noch aus alten Filmen oder aus dem Büromuseum kannten, wenn überhaupt. Irgendetwas schien die Schulsekretärin in ihrem Tun zu irritieren, denn sie unterbrach unvermutet ihre Tätigkeit, drehte sich abrupt um und schaute fragend Richtung Tür.
Die beiden Frauen waren ihr fremd und vermittelten nicht den Eindruck, als brächten sie freudige Nachrichten. Die Jüngere lächelte allerdings sympathisch und sagte: „Guten Morgen, wir hätten gerne den Schulleiter gesprochen.“
„Nein, nein, das geht jetzt natürlich nicht“, lautete die grußlose Antwort. „Der Chef muss sich auf die Klassenarbeit in der 9c vorbereiten, die in der dritten geschrieben werden soll. Da kann man ihn jetzt nicht stören, denn er ist noch lange nicht fertig, hat er gesagt.“
Wie nicht anders zu erwarten, mussten auch hier zunächst die üblichen Hürden vorbei an Hausmeistern, Sekretärinnen und Vorzimmerdamen überwunden werden, um letztendlich bis zum Allerheiligsten vordringen zu können.
„Na, vielleicht tun wir der 9c heute mal einen richtig großen Gefallen und lassen die Klassenarbeit ausfallen“, entgegnete die Mittelblonde betont locker, musste jedoch sofort erkennen, dass mausgrau nicht für humorvoll stand. Und mit den Worten „Jacobsen und Petcovic von der Kriminalpolizei München“ legte sie dann ihren Dienstausweis auf die Theke.
„Tut mir leid, Ihre Planungen zu durchkreuzen, aber wir müssen dringend mit Herrn Hintermayer sprechen. Wenn Sie uns also zeigen würden, wo wir Ihren Chef finden können, wäre ich Ihnen sehr dankbar“, lautete nun die offizielle Ansage, äußerlich noch immer verbunden mit einem Lächeln, inhaltlich aber unzweideutig und jetzt auch ohne jeglichen Humor. Multitasking, also die Fähigkeit, verschiedene Dinge vermeintlich gleichzeitig fehlerlos vollbringen zu können, diese gemeinhin dem weiblichen Geschlecht zugeschriebene Eigenschaft war der Dame in Grau offensichtlich nicht gegeben, denn neben dem zeitgleichen Aufreißen von Augen und Mund schien sie zu keiner weiteren Aktivität imstande. Erst als die Polizistin mit einem aufmunternden „Jetzt gleich!“ nachhakte, erwachte sie aus ihrem kurzzeitigen Koma und verschwand eiligst hinter einer bislang verschlossenen Tür, um bereits nach wenigen Sekunden wieder zu erscheinen und die beiden Frauen zum Eintreten zu bitten.
Hinter seinem Schreibtisch erhob sich der grauhaarige Rektor der Schule und begrüßte seine Besucherinnen mit einem artigen
„Hintermayer, angenehm“.
Elke Jacobsen verzichtete auf jegliches Drumherum-Gerede und kam schnell zur Sache. Sie erklärte, dass seit Freitagnacht eine Schülerin dieser Schule vermisst werde und derzeit noch nicht gesagt werden könne, ob sie Opfer eines Verbrechens geworden sei oder aus freien Stücken ihr Elternhaus verlassen habe. Aus polizeilicher Sicht müsse in alle Richtungen ermittelt werden, was es dringend erforderlich mache, umgehend auch mit der gesamten Schulklasse und dem betreuenden Lehrkörper, eventuell später auch mit einzelnen Klassenkameraden zu sprechen. Hierdurch könnten möglicherweise maßgebliche Erkenntnisse zum hoffentlich schnellen Auffinden von Stefanie Bauer erlangt werden.
Josef Hintermayer war natürlich schockiert über die Erläuterungen der Kommissarin und zeigte sich ernsthaft besorgt. Zur Überraschung der beiden Kripobeamtinnen reagierte er dann jedoch weniger, wie man es einem typischen Pädagogen unterstellte, sondern zielgerichtet und schnell wie ein erfahrener Notfallhelfer. Er erteilte seiner verblüfften Sekretärin eindeutige Aufträge, wonach sofort seine sämtlichen Schulstunden des Tages mit Vertretern zu besetzen seien und die angekündigte Klassenarbeit in der 9c abgesagt würde. Die Kollegen, die nach Stundenplan heute in der 10b Unterricht hätten, sollten jeweils vor ihren Stunden mit ihm unmittelbar Kontakt aufnehmen. Auch die anderen Lehrer, die üblicherweise in der Klasse unterrichteten, sollten sich entsprechend für ein mögliches Gespräch mit der Polizei bereithalten. Und natürlich habe ansonsten seitens des Sekretariats absolutes Stillschweigen zu herrschen, eine Anweisung, die ja im wirklichen Leben noch immer dazu geführt hatte, Gerüchte mit Sicherheit entstehen zu lassen und schnellstens unter die Leute zu bringen. Dann meldete er sich bis auf weiteres in die 10b ab.
Niemals hätte Lots Frau bei ihrem Blick zurück auf die zerstörten Städte Sodom und Gomorrha professioneller zur Salzsäule erstarren können als die jetzt vom Donner gerührte Sekretariatskraft. Es schien, als wäre in Sekundenbruchteilen sämtliches Leben aus ihr entwichen, und niemand hätte auf Anhieb sagen können, wohin. Erste Regungen wurden erst wieder erkennbar, als ihr das Unfassbare des eben Geschehenen offenkundig wurde, nämlich dass gerade sie nicht wusste, worüber denn überhaupt so dringend Stillschweigen zu wahren war. Zum Zeitpunkt dieser Erkenntnis betrat Hintermayer mit seiner Begleitung bereits das Klassenzimmer im dritten Obergeschoss.
Dort wurde das unvermittelte Auftreten des Rektors bei den Schülern zunächst als willkommene Abwechslung zum ansonsten wenig geliebten Sozialkundeunterricht angesehen. Als Josef Hintermayer jedoch die beiden Kriminalbeamtinnen vorstellte und kurz den Grund ihrer Anwesenheit erläuterte, trat sofort entsetztes Schweigen ein. Die leitende Kriminalbeamtin erklärte allen Anwesenden, was bislang Stand der polizeilichen Ermittlungen war, ohne jedoch öffentlich über den Grund des Verschwindens von Steffi Bauer zu spekulieren. Sie bat alle Schüler um Mithilfe. Jeder, der in letzter Zeit irgendeine Verhaltensänderung an der Mitschülerin bemerkt habe, solle dies bitte mitteilen. Hatte sie sich in irgendeinem Kreise über Probleme in der Schule oder zu Hause geäußert, war irgendetwas Bemerkenswertes über ihren außerschulischen Freundeskreis bekannt, hatte sie einen festen Freund, möglicherweise Beziehungskummer oder sonst etwas Außergewöhnliches?
Konkrete Antworten gab es hierauf nicht. Niemand hatte in den letzten Wochen irgendwelche Besonderheiten festgestellt und über einen Freund war sowieso nichts bekannt. Aber Steffi sei ohnehin vielmehr das gut behütete und zurückhaltende Mädchen, das generell eher selten besonders auffalle.
„Bitte machen Sie sich bewusst, dass selbst der kleinste Hinweis wichtig sein kann“, warb die Polizistin. „Da wir überhaupt nicht wissen, was Ihrer Kameradin geschehen ist, rechnen wir natürlich grundsätzlich mit dem Schlimmsten. Hierbei kann jede Kleinigkeit lebensrettend sein. Also wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, melden Sie sich bitte. Herr Hintermayer wird dann wissen, wie er uns erreichen kann. Und falls jemand nur unter vier Augen mit uns sprechen möchte, ist auch das jederzeit möglich. Manchmal macht man halt auch mal eine Dummheit. Das lässt sich immer regeln, so lange nur kein Mensch dabei zu Schaden kommt. Unabhängig davon wüsste ich jetzt aber noch gerne, ob Carmen Schulz und Pia Frommer heute auch hier sind.“
Der Blick in die Runde, aber auch die Reaktion der betroffenen Schülerinnen zeigte sofort, wo die gesuchten Mädchen saßen. Beide meldeten sich auch zögerlich und mit verunsichertem Blick, denn natürlich war ihnen nicht klar, weshalb speziell sie jetzt aufgerufen wurden.
„Herr Hintermayer, mit diesen beiden Mädchen würden wir uns gerne noch gesondert unterhalten. Vielleicht für eine halbe Stunde. Hätten Sie einen Raum, wo wir das ungestört tun können?“
Natürlich stellte der Rektor umgehend einen nahegelegenen Klassenraum ab, der ohnehin derzeit nicht belegt war und in den sich die Polizistinnen mit den beiden Mädchen zurückzogen, nicht ohne die restliche 10b mit einem erschreckenden Gefühl der Ungewissheit zurückzulassen.
Alle vier nahmen an einem kleinen, sechseckigen Konferenztisch Platz, der zentral in der Mitte des Klassenraumes stand. Elke Jacobsen betrachtete die beiden Teenager, deren Körpersprache deutlich Zurückhaltung und Skepsis signalisierte. ‚Was willst du von uns?‘ stand in ihren Blicken, aber auch ein unübersehbares, unzugängliches ‚Von uns erfährst du nichts!‘.
„Können Sie sich vorstellen, weshalb wir mit Ihnen beiden noch einmal im kleinen Kreis sprechen wollen?“, fragte die Kommissarin, erntete darauf jedoch nur kollektives Kopfschütteln.
„Nun, Steffis Mutter hat mir erzählt, dass Sie die besten Freundinnen ihrer Tochter seien und den größten Teil Ihrer Freizeit gemeinsam verbringen. Und da kann ich gar nicht anders als zu vermuten, dass Sie mir hier jetzt mehr sagen können, als es eben noch in der Klasse möglich war.“
Streiche unzugänglich, setze verstockt, denn das war der Ausdruck, der beiden Mädels plötzlich ohne vorherige Absprache im Gesicht stand. Gar nichts wollten sie sagen, was natürlich dafür sprach, dass es in jedem Falle etwas zu berichten gab. Hätten sie sich einfach nur dumm gestellt, wären sie vielleicht sogar damit durchgekommen. So aber war der Jagdtrieb der Polizistinnen geweckt, und sie waren keinesfalls gewillt, die Beute jetzt noch entkommen zu lassen.
Erstmals meldete sich Inka Petcovic zu Wort: „Sie wollen uns nichts sagen, nicht wahr? Sie denken, wir merken nichts und können Ihnen auch nichts anhaben, oder? Sie glauben, Ihrer Freundin einen echten Freundschaftsdienst zu leisten, indem Sie uns cool abblitzen lassen. Ich kann Ihnen nur eines sagen: Wir haben zu ermitteln, ob Steffi Bauer einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist. Sie sind alt genug, um sich vorstellen zu können, welche Gewaltverbrechen bei sechzehnjährigen Mädchen gemeint sein könnten. Sollte Ihrer Freundin tatsächlich etwas passiert sein und sich irgendwann einmal herausstellen, dass Sie Informationen zurückgehalten haben, die uns bei unserer Arbeit geholfen hätten, kriegen wir Sie wegen Beihilfe dran. Und da hilft Ihnen Ihr jugendliches Alter auch nicht. Vorher schicken wir Ihnen aber bereits heute Mittag Frau Bauer persönlich auf den Hals, die seit drei Tagen verzweifelt zu Hause sitzt und sich die Augen aus dem Kopf weint. Die wird recht wenig Verständnis dafür haben, dass Sie uns nicht helfen wollen. Glauben Sie wirklich, das dauerhaft auszuhalten und eine solche Schuld wirklich Ihr Leben lang tragen zu können, wenn Steffi Bauer ernsthaft was geschehen sein sollte? Darüber sollten Sie nachdenken, bevor Sie uns weiterhin anlügen.“
Eine beeindruckende Ansage an zwei Teenies, die plötzlich überhaupt nicht mehr selbstsicher und cool wirkten.
„Aber wir wissen doch wirklich nicht, was Steffi am Freitag gemacht hat“, erklärte Carmen Schulz endlich eher kleinlaut. „Wir waren für den Abend doch überhaupt nicht miteinander verabredet.“
„Aber Steffi hat ihrer Mutter erklärt, dass Sie gemeinsam mit ihr in die Disco gehen würden. Warum?“
„Weil wir drei uns irgendwann einmal versprochen haben, uns gegenseitig so ein wenig Freiraum von unseren Eltern zu garantieren. Steffis Mutter hat ihr nie etwas verboten, wenn wir es nur gemeinsam unternommen haben. Wenn Frau Bauer dann angerufen hätte, wäre uns sicherlich was eingefallen, um Steffi rauszuhauen.“
„Wo ist sie dann hin, wenn sie nicht bei Ihnen war? Sie wollte doch sicherlich nicht alleine in die Disco. Und warum durfte die Mutter nichts davon wissen?“, hakte Elke Jacobsen nach.
„Keine Ahnung“, antwortete Pia Frommer und es war erkennbar wieder gelogen. Langsam stieg richtiger Ärger in der ansonsten so ruhigen Oberkommissarin auf und sie war nicht mehr gewillt, sich von diesen Gören an der Nase lang führen zu lassen.
Sie wendete sich ihrer Mitarbeiterin zu und machte plötzlich auf amtlich: „Das langt mir jetzt. Die jungen Damen glauben, mit uns Spielchen machen zu können und haben offensichtlich keinen Blick für den Ernst ihrer Lage. Inka, du rufst dir jetzt ’ne Streife und bringst die beiden aufs Präsidium. Dort werden wir uns dann später ernsthaft mit ihnen befassen. Ich werde jetzt zu den Herrschaften nach Hause fahren. Bin mal gespannt, was die Eltern sagen werden, wenn ich in den Zimmern ihrer Töchter nach der Sporttasche mit der Kleidung von Steffi Bauer suche und gegebenenfalls auch das Notebook finde. Vielleicht bringe ich die Eltern dann direkt mit auf die Dienststelle. Ich werde ihnen allerdings den Tipp geben, ihren Töchtern mal eine Nacht im Präsidium zu gönnen, denn verdient hätten sie’s.“
Inka Petcovic wusste natürlich, dass das gerade Angedrohte so niemals umzusetzen wäre, aber ein wenig Druck konnte jetzt wirklich nicht schaden. Sie griff in die Tasche ihrer Jeansjacke und zog ein Handy heraus und suchte im Adressbuch nach irgendeiner Nummer. Bevor sie jedoch die Taste mit dem grünen Telefon drücken konnte, riefen beide Mädchen wie aus einem Mund: „Nein, warten Sie bitte.“
Und dann war plötzlich der Bann gebrochen. Eine halbe Stunde später klingelte das Telefon bei Maria Bauer. Ihr Herzschlag drohte fast auszusetzen, als sich auf der anderen Seite der Leitung wie angekündigt Elke Jacobsen meldete, aber andererseits musste sie endlich irgendwelche Informationen erhalten, sonst würde sie bald durchdrehen.
Die Polizistin brachte sie schnell auf den aktuellen Stand der Dinge. Steffi hatte also offensichtlich seit zwei Monaten einen festen Freund. Er hieß Martin und war wohl um die zwanzig. Näheres über Aussehen, Herkunft, Anschrift und wie sie sich kennengelernt haben, sei nicht bekannt, denn Steffi habe selbst ihren beiden Freundinnen hierzu nichts sagen wollen. Bei neugierigem Nachfragen habe sie wohl immer erklärt, „dann könnt ihr euch irgendwann auch nicht verplappern“. Vor Wochen habe sie bereits ihre Freundin Pia gebeten, die Sporttasche mit Kleidung und Notebook für sie aufzubewahren, wobei sie jedoch weder zu diesem Zeitpunkt noch aktuell konkrete Pläne offenbarte, abhauen zu wollen. „Nur für den Notfall“, habe es geheißen. Insgesamt habe sie öfter darüber geklagt, dass ihre Mutter ihr zu wenig Vertrauen entgegenbringe und ihr kaum Freiheiten lasse. Immer wieder quatsche sie sie voll, wie gefährlich die Welt da draußen sei, als ob sie das nicht selbst erkennen könne. Es passte ihr offensichtlich auch überhaupt nicht, dass andere Mädchen ihres Alters schon Erfahrungen mit Jungs gemacht hatten und sie nicht.
„Frau Bauer, wir können zum jetzigen Zeitpunkt bei Ihrer Tochter ein Verbrechen überhaupt noch nicht ausschließen, aber ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass Stefanie ausgerissen ist“, erklärte die Polizistin. „Und ehrlich gesagt, bin ich froh über diese Erkenntnis, denn in neun von zehn Fällen kommen sie nach recht kurzer Zeit schon wieder zur Vernunft und tauchen unbeschadet bei Freunden und Verwandten auf. Ich weiß, dass Ihnen dies momentan nur ein bescheidener Trost sein kann, aber was ich in den letzten Tagen alles über Ihre Tochter erfahren habe, stimmt mich wirklich zuversichtlich. Wir werden von hier aus in jedem Falle weiter ermitteln. Vielleicht bekommen wir auch etwas über diesen jungen Mann heraus. Ich halte Sie aber jedenfalls auf dem Laufenden, sobald sich neue Erkenntnisse ergeben“, versprach Elke Jacobsen, bevor das Gespräch endete.
Sie hinterließ eine noch immer verzweifelte Mutter, die aber viel zu gerne der erfahrenen Polizeibeamtin glauben wollte. Wenn es kein Verbrechen gegeben habe, könne zumindest davon ausgegangen werden, dass es ihrer Tochter ganz sicher zumindest gesundheitlich gut gehe. Andererseits führte dies allerdings zu Gedanken, die Maria Bauer die Tränen ins Gesicht trieben. Sie hatte doch immer alles für Steffi getan, immer alles richtig machen wollen. Und jetzt zeigte sich, dass sie völlig versagt hatte. Sie hatte es nicht einmal geschafft, in ihrem Kind ausreichendes Vertrauen zur eigenen Mutter zu wecken, sonst hätten sie doch miteinander geredet und Steffi hätte ihren Ausweg nicht in der Flucht gesehen. War sie wirklich zu streng gewesen? Die Kleine sollte doch nur nicht die gleichen Erfahrungen machen müssen, die ihrer Mutter viele Jahre ihres noch jungen Lebens fürchterlich schwer gemacht hatten. Hoffentlich würde sie sich besinnen und bald nach Hause kommen. Dann würden Mutter und Tochter das Geschehene gemeinsam verarbeiten müssen. Und danach würden sie alles besser machen. Hoffentlich kam Steffi nur bald wieder.
∞ 08:05 Uhr ∞
Es dauerte am Montagmorgen nicht mal bis Fünf nach Acht, als sein Telefon klingelte und er die Nummer von Helmann auf dem Display aufleuchten sah. Also sollte die Hinrichtung auf neutralem Territorium stattfinden. Stefan hob ab und bevor er sich noch mit seinem Namen melden konnte, knurrte ihm sein Vorgesetzter ein sehr gezwungenes „Guten Morgen, komm doch mal zu mir!“ ins Ohr. Auf seine Frage, um was es denn gehe, erwiderte Helmann nur „Du hast doch sicherlich schon die Zeitung gelesen“, und legte auf.
Ja natürlich hatte er die Zeitung gelesen und der Bericht von Renan wirkte auf der ersten Seite noch wesentlich besser als gestern in der reinen Vorabtextversion. Nüchtern betrachtet hatte sie tatsächlich nur wenig harte Fakten verarbeitet, denn es waren bislang ja ohnehin noch keine bekannt. Ihr brillanter Schreibstil machte aus dem Artikel im Gegensatz zur Samstagsausgabe aber trotzdem etwas richtig Lesenswertes. Auf dem Weg zu Helmann schaute er erst noch bei Tanja vorbei, und informierte sie mit einem schnodderigen „Hallo Verräterin, ich bin mal beim Chef“ über seine kurzfristige Abwesenheit. Den Seitenhieb auf den Vorabend konnte er sich nicht verbeißen, denn er hatte sich ziemlich über die ihm wirklich wichtigen Frauen seines unmittelbaren Umfeldes geärgert, obwohl die es ihm gegenüber eigentlich ja nur gut meinten. Ohne sein Tempo wesentlich zu verringern, durchquerte er mit großen Schritten das Geschäftszimmer in direkter Richtung auf Helmanns Büro zu, klopfte alibimäßig an und stand in der nächsten Sekunde schon unmittelbar vor dessen Schreibtisch. Wie nicht anders zu erwarten, war Oberstaatsanwalt Dr. Sachser auch schon da, mit einem aktuellen Exemplar des tagblatts auf dem Schoß. Auf diese Situation natürlich vorbereitet, ging Stefan wie der legendäre Marschall Vorwärts sofort in die Offensive und knallte Sachser nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ direkt mal einen vor den Latz.
„Na, Herr Sachser, da konnten Sie es ja wirklich nicht lange bei sich behalten, was ich Ihnen gestern Nachmittag zum derzeitigen Stand der Ermittlungen dargelegt habe. Dass es aber so schnell gehen würde, hätte selbst ich nicht von Ihnen erwartet.“
Bautz, das hatte aber voll gesessen. Der total überrumpelte kleine Mann sprang aus dem Stuhl in der Besucherecke und kam völlig empört auf Stefan zu, aber mit jedem Schritt verpuffte sein Elan, denn der 1,85 m große Hauptkommissar war nicht nur zwei Köpfe größer und wesentlich durchtrainierter, sein diabolischer Blick traf Sachser auch mit der warmen Herzlichkeit einer in einen Eisblock eingeschlossenen Klapperschlage und sagte nur eines aus: ‚Komm doch und ich beiß dich!‘
Das erkannte auch der kleine Bubi, dem in Sekundenbruchteilen klar wurde, dass er hier mit jedem Schritt in eine Katastrophe hineinlief. Er konnte sich gerade noch bremsen und blieb außerhalb der Reichweite seines Gegenübers stehen.
„SIE“ – konnte man tatsächlich ein Wort mit nur drei Buchstaben so herausstammeln – „wie kommen Sie mir eigentlich vor? Das ist ja eine Frechheit zu behaupten, dass ich irgendetwas mit dieser Veröffentlichung zu tun haben könnte! Das ist doch Ihre Freundin, die diesen Artikel verfasst hat. Ich weiß genau, dass Sie das waren und dafür werde ich Sie zur Verantwortung ziehen.“
Als Stefan sich schon in Bewegung setzen wollte, erkannte Helmann schlagartig, dass er jetzt eingreifen musste, bevor es in den Räumen der Mordkommission unpassenderweise noch zu einem Mord kam. Er sprang auf und donnerte gleichzeitig ein lautes „Aufhören!“ in den Raum, das jegliche Aktivität der beiden Streithähne augenblicklich stoppte.
„Wenn Sie beide miteinander spielen wollen, dann machen Sie das draußen vor der Tür. Hier drin verhalten Sie sich gesittet, oder es knallt! Ist das so verstanden?“
Wow, wenn er wollte, dann konnte Stefans Chef auch mal so richtig einen raushängen lassen. Diese vermeintliche neue Sicherheit veranlasste den sichtlich eingeschüchterten Oberstaatsanwalt, aus der Deckung der Besucherecke heraus wieder vor Helmanns Schreibtisch zu treten und Stefan Bond noch immer mit einem giftigen Blick anzustarren.
„Und wie, Herr Sachser, kommen gerade Sie dazu, mich zu verdächtigen? Sie waren der einzige Außenstehende, mit dem ich über den Fall gesprochen habe“, log Stefan ohne rot zu werden. „Alles, was in dem Bericht steht – und es ist ja Gott sei Dank ausgesprochen wenig –, habe ich Ihnen gestern Nachmittag erläutert. Da war es ja ein Glücksfall, dass ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt noch nichts Wesentliches gesagt habe, sonst könnten wir ja möglicherweise schon über die festgestellte Blutgruppe und das Modell der getragenen Turnschuhe in der Zeitung lesen.“
Immer noch im höchsten Grade entrüstet, wollte Sachser heftig erwidern, aber Helmann fuhr ihm erneut mit einem lauten „Schluss jetzt!“ in die Parade.
„Willst du damit also deutlich machen, dass die Informationen in diesem Artikel nicht von dir stammen? Ist doch ziemlich auffällig, dass gerade diese Kaya jetzt über interne Erkenntnisse verfügt, oder?“
„Hör mal Peter, für wie blöde hältst du mich eigentlich? Du weißt haargenau, dass ich mit der Presse keinen Kontakt pflege, sondern dass dies alleine ins Metier unseres verehrten Herrn Oberstaatsanwaltes hier fällt, der ja schon am vergangenen Freitag richtig geil darauf war, vor dem versammelten Pressecorps Nichts zu veröffentlichen. Und du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dann ausgerechnet meiner Freundin was zuschustere, wo noch nicht mal viel Inhalt dahintersteckt. Also, da müsst ihr euch schon einen anderen Sündenbock suchen, aber ich werde dafür nicht herhalten.“
Helmann schaute ihn eine geschlagene halbe Minute über seine Lesebrille hinweg an und es kostete Stefan ernsthaft Mühe, diesem Blick Stand zu halten. Man konnte regelrecht sehen, wie es hinter Helmanns Stirn arbeitete. Ohne den Blick von Stefan zu wenden, sagte er dann an den Staatsanwalt gerichtet: „Nun Herr Dr. Sachser, nach Überprüfung ihrer Vorwürfe kann ich nicht bestätigen, dass es irgendwelche Anhaltspunkte dafür geben könnte, dass ein Mitarbeiter des Referates K11 unerlaubterweise irgendwelche Informationen an die Presse weitergegeben hat. Da es mannigfaltige Möglichkeiten für einen gute Journalistin wie diese Kaya gibt, die wir im Einzelnen aber nicht nachprüfen können, und da die verarbeiteten Erkenntnisse jetzt auch nicht so richtig weltbewegend zu sein scheinen, schlage ich vor, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Eigentlich sollte es jetzt Wichtigeres zu klären geben.“
Sachser war offensichtlich noch immer oder jetzt erst recht sprachlos. Diese Wendung hätte er nun wirklich nicht erwartet. Da hatte er sich gefreut, diesem Schnösel von Bond eine reinwürgen zu können, und jetzt musste er wie ein getretener Hund das Feld räumen. Aber das würde er so nicht mit sich machen lassen. Wartet ab Leute, mit mir nicht. Offensichtlich zog er aber jetzt den Kürzeren. Er nahm seinen Mantel, den er zuvor über einen der Besucherstühle gelegt hatte, drückte sich mit Mühe ein „Wie Sie meinen“ durch die Zähne und verließ ansonsten wortlos das Zimmer.
Stefan konnte sich ein verschmitztes Grinsen nicht verkneifen, sah aber sofort, dass sein Chef überhaupt nicht zu Späßen aufgelegt war. Der starrte ihn nur ziemlich abweisend an und sagte gefährlich leise: „Mach das nie wieder mit mir! Und jetzt verschwinde und finde endlich diese Mörder.“
Diese Aufforderung wollte sich Stefan nicht zweimal sagen lassen. Ohne einen weiteren Kommentar machte er sich wieder auf den Rückweg. Es tat ihm leid, Helmann hintergangen zu haben, denn der war nicht nur formal sein Vorgesetzter, er war auch sein Mentor und Vertrauter. Aber in dieser Situation war das nun mal nicht anders machbar gewesen. Was Sachser anging, würden sie beide nach dem heutigen und dem Auftritt vom letzten Freitag dauerhaft keine Freunde mehr werden. Das war Stefan aber ziemlich schnuppe. Er musste jetzt nur aufpassen, dass er sich nach außen hin nichts zu Schulden kommen ließ, denn dann würde der Kleine ihn mit Freuden kaltstellen und ans Kreuz nageln.
Dafür, dass es erst 09:00 Uhr am Montagvormittag war, hatte die Woche schon ein erstes angenehmes Highlight gebracht. ‚Dann lasst uns mal hoffen, dass diesem bald noch viele folgen werden‘, dachte er und betrat wieder sein Büro, in dem schon eine neugierige Tanja voller Ungeduld wartete.
∞ 11:00 Uhr ∞
Leise drang das Zwitschern von Vögeln an ihr Ohr und holte sie langsam aus Morpheus starken Armen. So schön der Gedanke auch war, dass es in der Nähe ein Nest mit frisch geschlüpftem Amselnachwuchs gab, so konnte einem das heftige Geschrei der Kleinen nach Nahrung dann doch ein wenig auf die Nerven gehen, wenn man eigentlich noch mitten in einem wunderschönen Traum war und überhaupt nicht aufwachen wollte. Aber handelte es sich denn überhaupt um einen Traum oder war das, was sie gerade erlebte, das wunderbare, wahre Leben?
Noch ohne die Augen zu öffnen, versuchte sie sich zu orientieren und darüber klar zu werden, was eigentlich in den letzten drei Tagen mit ihr alles geschehen war. Und so langsam verblassten die Erinnerungen an die wohlige Illusion, in der sie eben noch ihre eigene Hauptrolle gespielt hatte. Erst jetzt spürte sie aber auch die Nachwirkungen der letzten Nacht, den schlechten Nachgeschmack im Mund und die mittelprächtige Dröhnung im Kopf, die von dem billigen Rotwein und viel zu vielen Zigaretten stammten. Und es wurde ihr schlagartig bewusst, dass sie nicht in ihrem eigenen Zimmer und nicht unter ihrem dicken, kuscheligen Daunenbett, sondern auf einem alten, längst ausgedienten Ehebett aus den 70er Jahren lag, das der Eigentümer nicht hatte wegschmeißen wollen, sondern für Notfälle in seinem Wochenendhäuschen in der Laubensiedlung im Englischen Garten wieder aufgebaut hatte. Aber wenn auch das billige Bettzeug bei Weitem nicht so gut nach Mamas Weichspüler roch, gab es doch keinen Ort, an dem Steffi Bauer zurzeit lieber gewesen wäre. Das lag natürlich in erster Linie an Martin, der dieses Bett seit Donnerstagnacht mit ihr teilte.
Bei diesem Gedanken an ihn tastete ihre linke Hand automatisch über die andere Betthälfte, aber da gab es nichts zu erfühlen. Sie öffnete die Augen. Es musste schon bald um die Mittagszeit sein, denn die Sonne, deren Strahlen durch die mit brauner Farbe dick gestrichenen Lamellen der Jalousie drangen, stand schon ziemlich hoch. Martin war tatsächlich nicht da. Vielleicht war er schon unterwegs und besorgte ihnen Frühstück. Vielleicht war er aber auch einfach nur zur Toilette. Dieser Gedanke war dann wie ein Stichwort. Sie fühlte einen starken Druck auf ihrem Unterleib, der ihr einerseits signalisierte, dass sie dringend mal für kleine Mädchen musste, der sie andererseits aber auch an das erinnerte, was in den letzten Tagen alles passiert war.
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie mit einem Mann geschlafen. Endlich hatte sie das erfahren, was die meisten ihrer Schulkameradinnen schon vor geraumer Zeit erlebt hatten. Natürlich hatte sie vorher richtig Schiss gehabt, denn aus Erzählungen wusste sie, dass das erste Mal auch wirklich weh tun konnte. Aber Martin war ganz besonders zärtlich gewesen, hatte sie geküsst und gestreichelt, an Stellen, an denen sie vorher noch nie berührt worden war. Und voller Verzückung hatte sie dann festgestellt, wie sehr ihr alles gefiel, wie sich ihr Körper nach allem sehnte, was Martin ihr gab und wie glücklich sie war, als es dann endlich passierte. Und danach wollte sie nicht mehr aufhören und diese Gefühle für sich dauerhaft erhalten. Drei Tage lang liebten sie sich nahezu ununterbrochen – na ja, zumindest so oft es ging. Dabei wurde ihr dann bewusst, dass Männer unter Ihresgleichen zwar gerne und viel über ihre sexuellen Möglichkeiten sprachen, dass sie allerdings in Wirklichkeit über natürliche Grenzen verfügten, über die sie dann trotz größter Anstrengung nicht hinwegkamen.
Martin war anders als die Jungs in ihrer Klasse. Er war mit 20 Jahren ja auch schon ein erfahrener Mann, der genau wusste, wie er eine Frau glücklich machen konnte. Und sie war momentan überglücklich. Aber gleichzeitig mischten sich zum wiederholten Male auch Wut und Enttäuschung in ihr Entzücken, mit der Erkenntnis, dass ihre Entscheidung, von zu Hause abzuhauen, völlig richtig gewesen war. Sie war wütend auf ihre Mutter, die ihr aus kaum nachvollziehbaren Gründen über lange Zeit schon diese Glücksgefühle verwehrt hatte. Immer unter dem Vorwand, nicht deren Fehler von früher zu wiederholen. Warum nur? Sie war mittlerweile erwachsen genug und hatte natürlich auch vorher schon gewusst, wie sie sich schützen musste, zumindest in der Theorie.
Ihre Mutter musste doch wissen, wie schön die Liebe und der Sex waren. Weshalb gönnte sie ihr diese nicht? War sie nur eifersüchtig, weil sie selbst seit langem keinen Mann mehr gehabt hatte? Vor Wochen schon hatte Martin ihr dies so vorhergesagt, wie es tatsächlich auch eingetreten war. Ab einem gewissen Zeitpunkt konnte man den Eltern nicht mehr vertrauen. Dann musste man seine eigenen Entscheidungen treffen und das hatte sie nun getan. Nur gut, dass sie weder zu Hause noch bei ihren Freundinnen irgendetwas über Martin erzählt hatte. Die hätten das sicherlich ohnehin kaum verstanden und möglicherweise hätten sie auch den Mund nicht halten können.
„Martin, bist du da?“
Keine Antwort. Also war er wohl doch unterwegs, um ihnen ein Frühstück zu organisieren. Bis er zurückkommen würde, könnte sie es sicherlich noch im Bett aushalten, und beim Gezwitscher der jungen Brut das Alleinsein weiter in seligen Gedanken an ihn genießen.
∞ 13:00 Uhr ∞
Der erste richtige Hinweis kam gegen 12:30 Uhr. Die Kollegen der Kriminaltechnik hatten unter den Fingernägeln der Toten kleine rote Lackpartikel sichergestellt und untersucht. Was kaum jemand wusste, es gab eine Datenbank des BKA, in der die chemischen Zusammensetzungen sämtlicher gebräuchlicher Farben und Lacke gespeichert waren. Dazu gehörten auch die gängigen Lackierungen von Automobilen. Im Normalfall konnte dann über die spezifische Farbzusammensetzung des Lacks auf den jeweiligen Fahrzeugtypen geschlossen werden.
Derzeit ging die KTU davon aus, dass es sich bei der roten Farbe um „Nightfire Red Metallic“ handelte, einer Sonderlackierung, die ausschließlich für die Fahrzeugreihe der zur BMW-Group gehörenden Marke Mini Cooper hergestellt wurde. Die Größe eines Mini passte auch auf den von der Spurensicherung am Tatort ermittelten Radstand eines Kleinwagens. Jetzt musste nur noch geklärt werden, ob es zu diesem Wagen eine zugelassene Reifengröße mit einer Breite von 205 mm gab, wovon allerdings auszugehen war, weil heutzutage für jede Automarke auch breitere Reifen angeboten wurden. Und so überdimensioniert war die genannte Breite ja nun auch nicht. Soweit dann noch das festgestellte Reifenprofil zufällig mit einem werksmäßig auf den Mini passenden Reifen übereinstimmte, konnten sie einigermaßen sicher sagen, dass es sich bei dem gesuchten Fahrzeug sehr wahrscheinlich um eines der Marke Mini Cooper handelte. Damit hätten sie dann zwar den Typ, bei weitem aber noch immer nicht den fraglichen Wagen gefunden. Kollegen waren aber bereits auf dem Weg zur nächstgelegenen Mini-Niederlassung in München, um diesen Fragen nach Lackierung, Reifengröße und -profil nachzugehen. Sollten sich hier tatsächlich Übereinstimmungen ergeben, würde über die Münchner Zulassungsstellen versucht, eine Liste aller zugelassenen Wagen mit der genannten Farbe zu erhalten. Das war dann schon schwer genug. Und wer sagte, dass der Wagen überhaupt in München zugelassen war? Aber sie hatten wenigstens einen Anfang! Und zwei Stunden später hatten sie dann auch Gewissheit. Alle bekannten Daten passten auf einen dieser kleinen Flitzer. Erste Abfragen bei den örtlichen Zulassungsstellen liefen bereits. Außerdem wurden alle in München ansässigen BMW- und Mini-Vertretungen befragt, ob sie Fahrzeuge mit den jeweiligen Merkmalen in Gebrauch hatten. Wenn ja, würde unmittelbar nach Hinweisen und Schäden am Lack der passenden Fahrzeuge gesucht. Insgesamt war dieser Wagentyp derzeit sehr beliebt, und erst wenn man mal bewusst darauf achtete, stellte man überrascht fest, wie viele einem davon tatsächlich im täglichen Straßenverkehr begegneten, erst recht jetzt Mitte Mai, wo jedes dritte Fahrzeug eines mit abklappbarem oder gar ohne Verdeck war. Wenn sich so nichts ermitteln ließ, müssten danach auch noch die anderen Autofirmen kontaktiert werden, die eventuell einen entsprechenden Wagen in Zahlung genommen hätten. Alleine diese Problematik band große Personalressourcen, aber sie hatten nun endlich einen konkreten Hinweis und mussten versuchen, die richtige Fährte aufzunehmen, die sie schließlich bis zu den Tätern führen würde – hoffentlich.
In Stefans Hinterkopf versuchte sich ein Gedanke den Weg nach vorne zu kämpfen, derzeit aber noch ohne Erfolg. Irgendetwas hatte er im Unterbewusstsein registriert, das möglicherweise für den Fall relevant sein konnte, aber er kam nicht darauf. Da half auch konzentriertes Grübeln nichts. Entweder es kam von allein oder überhaupt nicht. Also versuchte er, bewusst an andere Dinge zu denken, in der Hoffnung, dass dann irgendwann sein geistiger Knoten von alleine platzte. Er hatte mit den Jahren lernen müssen, dass solche Dinge nicht mit Zwang zu lösen waren. Insoweit war alleine Gelassenheit angezeigt, auch wenn es schwer fiel, denn gerade das mit der Geduld war überhaupt nicht seine Stärke.
So gegen vier trat auf einmal die Kollegin Jacobsen in Stefans Büro, die über ihre Schiene eingebunden war, die Dateien der bundesweit ausgeschriebenen vermissten Personen zu durchforsten, um gegebenenfalls doch einen Hinweis auf die Herkunft des toten Mädchens zu finden. Er wusste, dass Elke Jacobsen auch die Ermittlungen in Sachen der vermissten Steffi Bauer führte und hatte sie gebeten, ihn diesbezüglich auf dem Laufenden zu halten. Die Kollegin berichtete ihm von ihren heutigen Erkenntnissen aus der Schule und dass es sich nach ihrer Einschätzung um den Fall eines ausgerissenen pubertierenden Teenagers und mangels sonstiger Anhaltspunkte wohl eher kaum um ein Verbrechen handele. Sie versprach, am Ball zu bleiben und Stefan auf jeden Fall aktuell über weitere Ergebnisse zu informieren.
Stefan bedankte sich und wählte sofort Evas Nummer. Also war es doch so, wie er sich das bei aller Vorsicht gedacht hatte. Die kleine Ratte war also ausgebüchst, weil die Mutter ihr zu wenig Freiraum gelassen hatte. Und wahrscheinlich machte sie gerade mit ihrem Lover ein Fläschchen Asti auf, während ihre Mutter sich zu Hause die schlimmsten Sorgen machte und die Augen ausweinte. Und da hieß es immer, Kinder seien ein Geschenk des Himmels.
Als Eva sich meldete, fragte er nur: „Bist du schon informiert?“
„Hallo Stefan, ja ich weiß Bescheid. Maria ist gerade bei mir. Die Ärmste ist völlig aufgelöst. Sie macht sich solche Vorwürfe. Glaubst du denn wirklich auch, dass Steffi einfach nur ausgerissen sein kann?“
„Süße, die ermittelnde Kollegin ist auf diesem Gebiet absolut erfahren und so, wie sie mir die Einzelheiten geschildert hat, klingt das alles schon ziemlich überzeugend. Und das ist so herum auch viel besser, als wenn es konkrete Anhaltspunkte für ein Verbrechen geben würde. Die Kleine taucht schon wieder auf, da bin ich ganz sicher. Dann bekommt sie mal richtig den Hintern voll und alles ist wieder gut.“
„Stefan, bitte! Natürlich machen wir uns noch immer Sorgen, denn Steffi ist ja noch nicht wieder da. Und danach müssen die beiden erst mal ihre Probleme in den Griff bekommen.“
„Aber Eva, anders als das junge Mädchen, das wir vor drei Tagen tot im Gebüsch gefunden haben, wird sie vermutlich gesund und munter sein.“ Das war zweifellos ein nicht von der Hand zu weisendes Argument.
„Ja, du hast natürlich völlig Recht. Bitte melde dich wieder, wenn du was Neues hörst. Und bitte pass auf dich auf.“
Dann wurde die Verbindung unterbrochen.