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Vorbemerkung

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Die Erfahrungen seiner Generation haben Heinrich Böll ein Leben lang bewegt und sein literarisches Schaffen entscheidend geprägt. Sein umfangreiches Werk stellt sich in seinen Perspektiven gegen alle herkömmlichen Bestimmungen des Menschen und die ihm vorgegebenen Verhältnisse. Es ist die literarische Zeugenschaft einer individuell begründeten, spannungsreichen Sicht auf Ereignisse und Entwicklungen der von Heinrich Böll aufgenommenen Welt, die noch immer fasziniert. Dass sich in seinem Leben und Schreiben Kritik und Widerstand sowie Engagement und die Hoffnung auf veränderte gesellschaftliche Verhältnisse produktiv verbunden haben, bildet die Leitlinie der vorliegenden Biografie.

Heinrich Bölls literarische Zeugenschaft beeindruckte auch die Königlich Schwedische Akademie. Sie zeichnete ihn 1972 als ersten deutschen Schriftsteller nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Nobelpreis für Literatur aus und würdigte in ihrer Entscheidung nicht nur die literarischen Arbeiten, sondern auch die unablässig bewahrte Ausrichtung seiner Aufmerksamkeit auf »die Lebensluft, die seine Generation atmen mußte, das Erbe, das sie anzutreten hatte«.1

Bereits ein flüchtiger Blick auf das Spektrum der von ihm nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommenen und verhandelten Ereignisse und Themen zeigt, dass er sich unbestechlich und hartnäckig denjenigen widmete, die nicht nur in der Nachkriegszeit unterdrückt und verdrängt wurden. Das Register seiner Stoffe liest sich in dieser Hinsicht wie eine kritische Gesellschafts-, Politik- und Kulturgeschichte: die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands, dem Grauen des Zweiten Weltkriegs sowie den Verdrängungsmechanismen und verdeckten Kontinuitäten der NS-Diktatur; die Kritik der restaurativen Tendenzen und die Verquickung der katholischen Kirche mit den politischen Instanzen in der Adenauer-Ära; sein Engagement in der Zeit der Studentenproteste und der Notstandsgesetzgebung in den 1960er-Jahren; die Kontroversen um die Ursachen der terroristischen Gewalt in den 1970er-Jahren; die Beteiligung an den Protesten gegen die atomare Aufrüstung, die Anfänge der Friedensbewegung und der ökologischen Debatte Anfang der 1980er-Jahre.

Doch es ging ihm nicht nur um die Einmischung, sondern auch um das Schreiben. So bekräftigte er in einer Selbstauskunft: »Schreiben wollte ich immer, versuchte es schon früh, fand aber die Worte erst später«.2 Schreiben galt ihm als produktiver Akt, »Träume, Vorstellungen, Ideen aufs Papier zu bringen und in gesellschaftliche Praxis umzusetzen«3. Noch 1985 bekannte er sich zum Schreiben als seiner zentralen existentiellen Verortung im Leben. »Ich liebe das Schreiben. Es ist für mich eine Freude, etwas aufzubauen. […] vor allem ist das Schreiben einfach der Wunsch, etwas zu erschaffen.«4 In diesem Sinne produktiv hat Bölls literarisches Leben, das 1936 begann, in nahezu 2.500 Texten seinen Niederschlag gefunden.5

Als Material für diese Biografie konnten nicht nur der Nachlass und veröffentlichte Quellen genutzt werden, sondern auch einige unveröffentlichte Zeugnisse. Auf dieser Grundlage wird hier ein Leben nachgezeichnet mit seinen Impulsen, An- und Einsichten.

Und es ist der Ertrag einer sich in diesem Leben verwirklichenden Autorschaft, die in ihrer unkonformen literarischen Fantasie auch heute noch ebenso herausfordernd wie aktuell ist. Denn Heinrich Böll glaubte an die Möglichkeit der Literatur, die Vorstellung einer in Fakten gebannten Welt zu suspendieren: »Was wirklich ist, bestimmt der Autor, der Maler, der Bildhauer, der da seine Wirklichkeit schafft.«6

Wirklichkeit, immer wieder neu ›bestimmt‹ durch die Fantasie des Autors – das bedeutete für Heinrich Böll, im Bestehenden Perspektiven für Veränderungen zu entwerfen, erstarrte Haltungen und Überzeugungen zu hinterfragen, zu irritieren und zu provozieren, Ab- und Ausgegrenztes sichtbar zu machen.

Dazu gehörte für ihn, grundsätzlich Unabhängigkeit zu wahren, auch wenn nicht nur in der Nachkriegszeit zur An- und Einpassung ans Gegenwärtige geraten wurde. Ihm war es wichtig, das eigene Tempo zu halten, auch wenn ein anderes gefordert wurde. Er verteidigte beides für sich und andere stets hartnäckig. Gelassen – zuweilen aber auch betroffen – nahm er dafür den Vorwurf (s)einer Entfernung aus der Zeit in Kauf. »[D]ie Marschierlust hat mir immer gefehlt […]. Wohin die heutige Entwicklung mich, würde ich Schritt mit ihr fassen, führen könnte, weiß ich nicht; selbst wenn ich’s wüßte, Schritt halten mag und kann ich nicht.«7 Seine Haltung, die Eigenständigkeit des Urteils zu verteidigen, inspiriert auch heute noch die Beschäftigung mit seinem Werk.

Auf diese Haltung bezog sich Theodor W. Adorno, als er anlässlich von Heinrich Bölls 50. Geburtstag in seiner »Keine Würdigung« überschriebenen Würdigung Böll ein Denken in »ungedeckte[r] Position« bescheinigte. Durch dieses Denken, so Adorno, habe Heinrich Böll auch dem ›Repräsentativen‹, das man ihm zudachte, »widerstanden« und anstelle eines »jubelnde[n] Einverständnisses« mit diesem den »Stand des Ungedeckten«8 vorgezogen. Was Adorno unter ›ungedeckt‹ verstanden wissen wollte, erläutert eine Bemerkung, die er in seiner Vorlesung Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft so formulierte: »Erkenntnis fängt dort an, wo es keine Bräuche gibt, wo man ins Offene kommt, wo man ungedeckt ist, nicht die stärkeren Bataillone hinter sich hat.«9 Damit hatte Adorno formuliert, was Böll augenzwinkernd und unmissverständlich zugleich in seiner 1964 publizierten Erzählung Entfernung von der Truppe hatte durchblicken lassen: »Daß Menschwerdung dann beginnt, wenn einer sich von der jeweiligen Truppe entfernt.«10 Als ›Wahlspruch der Menschwerdung‹ gelesen, heißt dies: Menschwerdung beginnt mit der Aufkündigung des Konformitätszwangs herrschender Gewissheiten (die ›jeweilige Truppe‹). Gemeint ist damit die gewagte Überschreitung einer Regel, die das eigene Verstehen im allgemein Geltenden fundiert. Kurz: Menschwerdung ist Regelbruch durch Eigensinn.

Heinrich Böll

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