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Klüger als Gauguin

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Mit dem Haare kämmen beendete Rainer seine morgendliche Wascherei und ging in die Küche. In zwölf Minuten musste er das Haus verlassen, in seinen Wagen steigen und zur Arbeit fahren. Dort erwartete ihn die tägliche Routine, am Nachmittag Beate. Bis zum nächsten Morgen. Dann wieder die Arbeit, jahrelang, bis zur Pensionierung. Dann nur noch Beate.

Mein Gott, dachte Rainer erschrocken, dann nur noch Beate! So ungeschminkt hatte er sich das bisher nie überlegt. Zur Pensionierung waren es noch achtzehn Jahre. Sein Vater war sehr alt geworden, sein Großvater ebenso. Und diese langen Jahre also nur sie. Gauguin müsste man sein, einfach weglaufen, die Frau verlassen, auf eine Südseeinsel fliehen und malen.

Malen konnte er leider nicht.

Trotzdem. Irgendeine Möglichkeit musste es geben, dem zu entfliehen. Mord, zum Beispiel, würde auffallen. Eine Scheidung war noch schwieriger, weil Beate da mitzureden hatte. Spurlos verschwinden war unmöglich. Das Einwohnermeldeamt, die Lohnsteuerkarte, die Rentenversicherung, alles konnte nachgeforscht werden.

Rainer fuhr den Wagen in die Tiefgarage seiner Behörde und grübelte im Aufzug weiter. Scheidung war eben doch die einzige Möglichkeit. Drei Jahre Trennung genügten ja schon. Drei Jahre! Welcher Idiot sich bloß diese endlose Frist ausgedacht hatte. Drei Tage könnte er gerade noch durchstehen und am vierten Tag vor Beates siegesgewohnter Stimme kapitulieren. Er hatte sich nie gegen sie behaupten können.

Bei Arbeitsschluss war Rainer noch keine Lösung eingefallen. Missmutig stieg er die Treppen des alten Mietshauses zum dritten Stock empor, öffnete weit die hohen Fenster auf dem Treppenabsatz, der zwischen den einzelnen Stockwerken lag. Der muffige Geruch besserte sich dadurch nicht.

Vielleicht lag der auch an Beate, dachte Rainer gehässig, als er nach dem Öffnen der Korridortür seine Frau sah, die sich, einen Packen feuchter Wäsche auf dem Arm, durch die Badezimmertür zwängte. Wie immer trug sie eine unförmige Kittelschürze über ihrem kräftigen Körper, wie immer sah er unterhalb der Schürze bunte Leggins.

Asyl? War das vielleicht kein Grund, in einem fernen Staat um Asyl zu bitten? Andere bekamen es aus viel banaleren Gründen. Nur, weil die angeblich ihre Meinung nicht frei äußern konnten. Konnte er es etwa?

Schlechtgelaunt stellte Rainer seine Aktentasche neben die Garderobe, sagte „n´Abend, Schatz“ und konnte, der Wäsche wegen, den Begrüßungskuss vermeiden. „Na“, fragte er freundlich, „gab´s was?“

Natürlich gab´s was. Jeden Tag gab´s was. Frau Immels vom ersten Stock hatte nicht gekehrt. Im Treppenhaus hatte es nach Angebranntem gerochen und Herr Breitmüller von gegenüber so herablassend gegrüßt. Und Herr Wittmann, der Lebensmittelhändler, wollte aufgeben.

Wer wollte das nicht, dachte Rainer verzweifelt und drehte den Fernseher an. Kinderstunde. Er drehte ihn wieder ab.

„Hörst du mir überhaupt zu?“, empörte sich Beate gerade.

Nein, dachte Rainer und sagte: „Ja, Schatz, Herr Wittmann will aufgeben.“ Er hatte sich angewöhnt, bei solchen Fragen den letzten Satz zu wiederholen. Beate war zufrieden und redete weiter. Redete, bis Rainer Kaffee gekocht hatte und sie schlucken musste. Das Fernsehprogramm erlöste ihn schließlich. Sport. Eine Sendung über Judo.

„Interessiert dich das?“, fragte Beate erstaunt.

„Judo? Natürlich. Hab´ ich ja selbst mal gemacht!“, sagte Rainer nachdrücklich. Im dritten Schuljahr, dachte er und starrte konzentriert auf den Bildschirm. Irgendjemand erzählte irgendwas über diesen Sport. „Im Judo“, erläuterte der gerade, „verwendet der Schwächere die Kräfte des Gegners gegen diesen selbst.“

Plötzlich war Rainer wirklich interessiert und langsam - im Verlauf der Sendung - formte sich unscharf ein Plan. Judo, ganz klar. Die Stärkere, unbestreitbar, war Beate. Ihre Stärken waren Willenskraft und Durchsetzungsvermögen und gnadenlose Konsequenz. Wie jeder Diktator konnte sie keinen Entschluss rückgängig machen. ‚Lieber gehe ich zugrunde’ pflegte sie dann zu sagen. Na also.

„Schatz!“, sagte Rainer glücklich und hob mit einer leichten Verbeugung seine Kaffeetasse. Beate wunderte sich.

Die Morgenwäsche hatte Rainer schon lange nicht mehr so vergnügt erledigt wie am darauffolgenden Tag. Er schabte sich sorgfältig die Bartstoppeln vom Hals, überprüfte seine sanfte Haut wie der männliche Mann in der Fernsehreklame und schaute durchs Küchenfenster nach dem Wetter. Wolken zwar, doch zuweilen zeigte sich die Sonne.

Den Arbeitstag verbrachte er wohlgelaunt, holte danach sein Auto aus der Tiefgarage und fuhr ins Grüne. Eine geschlagene Stunde spazierte er zwischen Bäumen umher, deren Namen er nicht kannte, schaute im Gras Käfern und Insekten zu und gedachte der Hippies, die seit Jahrzehnten aus der Mode gekommen waren.

Der muffige Geruch im Treppenhaus störte ihn heute nicht, auch nicht Beate, die uninteressiert fragte, warum er so spät dran sei. „Der Wagen sprang nicht an“, antwortete Rainer kurz, bereitete Kaffee und schaltete den Fernseher ein.

Am nächsten Nachmittag sprang der Wagen wieder nicht an, zwei Tage später auch nicht.

Am Freitag schließlich hatte Rainer drei Stunden Verspätung, weil er den Wagen zur Reparatur gebracht hatte. Die Bäume, Gräser und Käfer langweilten ihn allmählich – er war nicht sonderlich naturverbunden –, und er überlegte, wo er die Stunden nach Feierabend in der nächsten Woche verbringen sollte.

Ohne Misstrauen meinte Beate, es sei auch höchste Zeit gewesen, den Anlasser endlich reparieren zu lassen.

Misstrauisch wurde sie auch am Montag nicht, als Rainer zwei Stunden zu spät kam, weil er Akten aufzuarbeiten hatte. Nur stutzig. Und noch stutziger, als die Akten auch am Dienstag und Mittwoch aufgearbeitet werden mussten.

Als Rainer am nächsten Morgen aus dem Bad kam, war Beate bereits aufgestanden und fragte beiläufig, ob Rainer heute auch Akten aufarbeiten müsse.

„Wahrscheinlich, Schatz“, bedauerte Rainer.

Und wann er denn, voraussichtlich, zurückkäme, damit sie, Beate, rechtzeitig das Abendessen aufsetzen könne.

„Ich weiß es nicht genau“, sagte Rainer ausweichend.

„Das Einfachste wäre es dann“, lächelte Beate, „wenn ich dich gegen fünf Uhr im Büro anrufe.“

„Ich glaube nicht, dass dann die Telefonzentrale noch besetzt ist“, sträubte sich Rainer.

„Ich habe deine Durchwahl“, beruhigte ihn Beate.

„Wir arbeiten einen Stock tiefer im Zimmer eines Kollegen“, sagte Rainer, „und dessen Durchwahl kenne ich nicht. Ich muss jetzt los“.

Hastig verließ er die Wohnung.

Den Spätnachmittag verbrachte er im Bahnhofsrestaurant und trank einige Glas Bier.

Beim Begrüßungskuss roch Beate den Alkohol sofort. „Der Abteilungsleiter hat uns eine Flasche Sekt spendiert, wegen der vielen Überstunden“, log Rainer.

Wie lange denn dieses ‚Akten aufarbeiten’ – Beate setzte die Worte hörbar in Anführungsstriche – noch dauern würde?

„Ich weiß es selbst nicht, Schatz“, nuschelte Rainer, während er das Abendessen in sich hineinschaufelte. Beates Misstrauen war offensichtlich, und Rainer beschloss, es wohldosiert zu steigern.

In den nächsten Wochen häuften sich seine Termine: Die Geburtstagsfeiern, die er bisher gemieden hatte, die Einweihung von Frau Gwisdons neuer Wohnung, Herrn Müllers Ein- und Herrn Meiers Ausstand, überall war er dabei. Ohne Beate natürlich. Die saß zu Hause und überlegt, was sich wohl tatsächlich hinter Rainers gesellschaftlichen Interessen verbarg. Vielleicht eine der netten Kolleginnen?

Sehr verdächtig fand sie zudem die Blumen, die er ihr gelegentlich mitbrachte und die freundliche Beachtung, die er ihr plötzlich schenkte. Nach all den ermüdenden, ereignislosen Ehejahren konnte es nur eine vernünftige Erklärung geben: Schlechtes Gewissen.

Vom Kaufhaus in der Stadtmitte war es nicht weit zu Rainers Behörde, und Beate verschob ihre Einkäufe auf den Nachmittag, um bei Büroschluss die Auffahrt der Tiefgarage beobachten zu können. Und tatsächlich verließ Rainer an den Tagen, an denen er mal wieder ‚Akten aufarbeitete’, pünktlich seinen Arbeitsplatz. Er log recht überzeugend, wenn er anschließend seinen Ärger wegen der vielen Überstunden vorbrachte.

Sollte wirklich eine andere Frau, überlegte Beate ungläubig, Gefallen an diesem farblosen Mann gefunden haben? Nun ja, sie selbst war ja auch nicht überkritisch gewesen, als es ums Heiraten ging. Und etwas Anderes konnte jene Frau nicht wollen. Für ein romantisches, leidenschaftliches Abenteuer hätte sie Rainer, ausgerechnet, nicht erwählt.

Es war also ernst. Rainer zurückgewinnen – darum ging es nicht. Allein in der Wohnung oder vor dem Fernsehgerät, darum ging es.

Am nächsten Vormittag telefonierte Beate mit ihrer Mutter und lud sich zum Mittagessen ein. Ihren Vater schickten sie anschließend in den Vorgarten zum Heckenschneiden. Beate erzählte von Rainers unbewiesener Untreue, sprach über die Prinzipien, die sie, die Mutter, ihr anerzogen hatte und die ärgerliche Konsequenz, die sie deshalb ziehen müsste: Rainer zu verlassen. Es wurde ein langes Gespräch, und Beate kam gerade noch rechtzeitig vor Rainer nach Hause.

Gauguin, dachte Rainer, war er nicht. Er war klüger. Er lief nicht einfach weg, sondern ließ sich elegant fortschicken. Das war viel schwieriger. Er spürte, dass Beate seine Ausreden nicht mehr glaubte, dass sie einen Entschluss gefasst hatte, der für ihn die Freiheit bedeutete. Jetzt musste er ihr nur noch einen konkreten Anlass geben.

Ins Bahnhofsrestaurant fuhr er an diesem Nachmittag nicht. Wie am Anfang ließ er seinen Wagen am Waldesrand stehen, spazierte zwischen unbekannten Bäumen umher und suchte nach dem Anlass. Weder die Käfer noch vereinzelte Eichhörnchen inspirierten ihn, und als er zum Wagen zurückkam, erwartete ihn Beate. Eine erleichterte Beate, die das Taxi, mit dem sie Rainers Wagen gefolgt war, zurückgeschickt hatte und froh war, dass Rainers Lügen diese harmlose Erklärung gefunden hatten.

Die Konsequenzen, die sie sonst hätte ziehen müssen, zog sie nicht.

Carmen im Kopfhörer

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