Читать книгу Carmen im Kopfhörer - Jochen Sommer - Страница 3
Beethoven im Erdgeschoss
ОглавлениеIm weiten Bogen rollte die Kugel über das Parkett, lief einige Meter am Rand der Bahn entlang und fiel kraftlos in die seitliche Führungsrinne. Die Punktzahl – null – hatte der Schriftführer bereits eingetragen, als Rainer zögernd vorgelaufen und die Kugel nach kurzem Flug auf die Bahn geplumpst war.
Mehr Punkte, dachte Rainer bedrückt, bekam er nur durch Zufall.
Und selbst dann, wenn die Kugel den Kegeln korrekt entgegenrollte, befürchtete er, sie könnte auf der langen Bahn ermattet liegen bleiben oder diese weißen Holzfiguren nur sanft beiseiteschieben, statt sie umzustoßen. Außerdem belästigten ihn das kameradschaftliche Getue seiner Kollegen, das Poltern des auseinanderwirbelnden Holzes, die Biertrinkerei und der Geruch nach Zigarettenrauch und Schweiß.
Schuld daran, dass er ihrer Büromannschaft beitreten und sich jeden Donnerstag im ‚Goldenen Anker’ blamieren musste, war natürlich Beate. Ihre Idee war es gewesen, Rainers überschüssige Energie von heimlichen Spaziergängen weg in geordnete Bahnen zu lenken, ihm die Möglichkeit zu geben, sich einmal wöchentlich ‚so richtig auszutoben’, wie sie es nannte.
Der Erfolg gab ihr Recht. Missgelaunt und müde kam er anschließend nach Hause, sah lustlos dem laufenden Fernsehprogramm einige Minuten zu und ging schlafen.
Aber Rainer schlief nicht. Er lag im Bett, atmete tief und regelmäßig, wenn Beate leise das Schlafzimmer betrat, und überlegte, wie er Kegelkugel und Frau endlich entrinnen könnte. Einen großen Unterschied zwischen beiden sah Rainer an solchen Abenden ohnehin nicht. Das schwache Licht, das die Vorhänge durchdrang, half seiner Phantasie, sich unter Beates hochgewölbter Bettdecke eine monströse Kegelkugel vorzustellen, die er Berge und Abhänge hinunterrollen lassen konnte, bis sie irgendwo zerplatzte oder in der Ferne verschwand. Selbst Beates Schnarchen ließ sich mit solchen Träumereien leichter ertragen, und erst das Geräusch des Weckers zwang ihn, der Realität ins Gesicht zu sehen. In Beates Gesicht.
Am Morgen schien es ihm besonders unerfreulich zu sein, und Rainer beeilte sich aufzustehen. Zuspätkommen gab es bei ihm nicht.
Pünktlich zu Dienstbeginn saß er am Schreibtisch, ordnete Akten und Verwaltungsvorgänge. Lediglich das Lachen der Kollegen, das ihm nach den Kegelabenden bis in den langen Bürokorridor entgegenhallte, störte ihn, da es stets abbrach, wenn er, Rainer, die Tür öffnete.
Der einzige, über den er mitlachen durfte, war Ludwig. Ludwig saß im Büro nebenan und nahm ebenfalls an den Kegelabenden teil, obwohl er unverheiratet war. Wenn Rainer über die Freiheit dieses Kollegen nachdachte, wurde er neidisch; wenn er ihm gegenüberstand, mitleidig. Die traurigen Augen in dem alterslosen Gesicht weckten in Rainer ein Gefühl väterlicher Überlegenheit, und er musste sich zurückhalten, Ludwig den Arm um die Schulter zu legen und Tröstliches daherzureden. ‚Es wird alles gut’ oder ‚Kopf hoch!’. Davon abgesehen wäre Ludwig auch mit emporgerecktem Kopf nicht weiter aufgefallen. Irgendwann, nach weiteren Dienstjahren, würde er bestimmt ins Untergeschoss des Gebäudes versetzt, um dort als stellvertretender Archivleiter auf seine Pensionierung zu warten. Dabei war Ludwig nicht unintelligent. Wenn Rainer an Kegelabenden eine Partie ausließ, setzte er sich gern neben Ludwig, um mit ihm zu reden. Er mochte die leise, schüchterne Sprechweise, und es interessierte ihn herauszufinden, wer es fertiggebracht hatte, Ludwig so zu unterdrücken und zu ängstigen.
Es war seine Mutter, bei der er immer noch wohnte, und es gab keinen Bereich, in den sie nicht sorgend und helfend eingriff. Von den Einlagen seiner Schuhe über baumwollene Oberhemden bis zur Auswahl seiner Freundinnen – überall schützte sie ihn vor Fehlentscheidungen. Besonders bei den Freundinnen. Hier war ihr Schutz so ausgeprägt, dass Ludwig nach einer qualvoll verlaufenen Jugendliebe keine weiteren schlechten Erfahrungen mehr verkraften musste. Gute auch nicht.
„Was Ihnen fehlt“, sagte Rainer in Ludwigs traurige Augen hinein, „ist eine Frau. Eine, die gefestigt ist, die Ihnen die Kraft gibt, sich von Ihrer Mutter zu lösen.“
Meine Frau, dachte Rainer plötzlich, Beate.
Bei dieser überraschenden Lösung für Ludwigs Problem lehnte Rainer sich nachdenklich zurück, schlug die Beine übereinander und erlaubte sich ausnahmsweise eine Zigarette.
Unter Rainers prüfendem Blick rutschte Ludwig beunruhigt auf dem harten Wirtshausstuhl umher und hätte gerne gewusst, worüber sein verständnisvoller Kollege nachdachte.
„Ich glaube“, beugte sich Rainer vor, „ich kann Ihnen helfen. Wir beide sollten uns mal in Ruhe unterhalten. Ich finde, Sie sollten endlich beginnen, Ihr eigenes Leben zu leben.“
Das fand Ludwig schon lange insgeheim, aber Rainer war der erste, der dieses Ansinnen so deutlich aussprach.
„Es ist Ihr gutes Recht“, entschuldigte Rainer ihn und fragte: „Wie alt sind Sie eigentlich?“
„Sechsunddreißig“, antwortete Ludwig kleinlaut.
„Mein Gott! Sechsunddreißig!“ Rainers Lächeln wurde genießerisch. „Da hatte ich schon etliche wilde Jahre hinter mir“, log er und hätte es beinahe selbst geglaubt. „Aber zu alt ist es auch wieder nicht.“ Und nachdrücklicher: „Noch nicht.“
Rainer trank sein Weinglas leer, sagte abschließend: „Überlegen Sie es sich“ und ging zum Tresen.
Beinahe beschwingt ging er hin und beobachtete aus der Entfernung Ludwigs Gesicht. Shakespeare, kein Geringerer fiel ihm ein. Das Gift, das er in Ludwigs Ohr geträufelt hatte, begann zu wirken: Er rutschte nicht mehr verzagt auf seinem Stuhl herum, der arme Ludwig, sondern griff entschlossen nach seinem Schorleglas, nippte daran und stellte es energisch zurück.
„Geben Sie mir noch einen Kurzen“, befahl Rainer der Wirtin und sah der Kugel nach, die Ludwig mit ungewohnter Heftigkeit an den Kegeln vorbeischoss. Gewonnen, dachte Rainer und stellte das Schnapsglas zum Nachfüllen zurück.
Behindert von Kopfschmerzen und Aktenordnern versuchte Rainer am nächsten Morgen aus den Eingebungen des Vorabends einen Plan zu formen. Einen Schlachtplan, der alle strategischen Elemente enthielt und dann nur noch durchgeführt werden musste. An der erfolgreichen Durchführung zweifelte Rainer nicht, da er ja für das höchste Gut des Menschen kämpfte, die Freiheit.
Zumindest für seine eigene, schränkte er vorsichtig ein, als Ludwig an seinem Schreibtisch vorbeistrich und offenbar eine Fortsetzung des gestrigen Gesprächs wünschte. Rainer lächelte ihm hoffnungserweckend zu, vertröstete ihn auf die Mittagspause und entwarf die Grundzüge seines Planes: Sieger würde er sein, Rainer. Der Gegner war Beate. Für Ludwig blieb somit nur die Rolle des Opfers übrig.
Rainer war sehr zufrieden mit dieser Aufteilung und begann sofort mit taktischen Überlegungen. Zwischen Sieger und Opfer eine vertrauensvolle Beziehung herzustellen war Frontabschnitt I.
Im Frontabschnitt II musste er eine Verbindung zwischen Ludwig und Beate schaffen. Eine höchst innige Verbindung, die es schließlich ihm, Rainer, erlauben würde, das Opfer zu mimen und der Sieger zu sein. Er sah sich bereits greinend im Wohnzimmer seiner Schwiegermutter sitzen. „Meine Frau betrügt mich“, hörte er sich schluchzen, „das kann ich ihr niemals verzeihen!“
Verdammt noch mal, dachte Rainer empört und verließ wütend seine Vision, das könnte er ihr wirklich nicht verzeihen. Diese ganzen Ehejahre und dann das!
Das war Frontabschnitt III, rief er sich zur Ordnung, der Befreiungsschlag. Mit dieser Wut in sich und der Familienmoral im Rücken würde er die Trennung durchstehen.
Seufzend stand Rainer vom Schreibtisch auf und ging zur Kantine. Durch die Glastür sah er Ludwig bereits am vorderen Tisch warten, seinen dünnen Tee rühren und zur Tür starren. Rainer unterdrückte sein Mitleid; er befand sich schließlich im Kriegszustand.
Hart stellte er die Kaffeetasse auf Ludwigs Tisch, setzte sich ihm gegenüber und fragte barsch: „Nun? Haben Sie es sich überlegt? Die Zeit drängt. Ihre, nicht meine.“
Ludwig hörte erschreckt auf zu rühren und umfasste haltsuchend das Teeglas. Ausweichen gab es hier nicht.
„Ja“, sagte er hilflos, „Sie haben ganz recht. Ich muss endlich ein eigenes Leben beginnen. Packen wir´s an“, fügte er ängstlich hinzu. Der Augenblick, das spürte er, verlangte starke Worte.
Rainer war irritiert. Etwas mehr Widerstand hatte er schon erwartet. „Morgen Abend, was haben Sie da vor?“, fragte er.
„Morgen?“ Ludwig rührte hastiger im Tee und suchte nach einer Ausrede für seine Mutter. „Morgen ist Samstag. Da habe ich nichts vor.“
„Dann treffen wir uns um acht im Goldenen Anker“, sagte Rainer. „Einverstanden?“
„Einverstanden“, antwortete Ludwig und gab Rainer im Aufstehen die Hand, als schlösse er einen Pakt.
„Schatz“, sagte Rainer beim abendlichen Fernsehen zu Beate, „von Ludwig habe ich dir schon erzählt, nicht wahr?“
„Ludwig?“ Beate stellte die Sendung leiser und versuchte sich zu erinnern. „Der vom Kegelclub?“, fragte sie tastend.
„Ja, der“, nickte Rainer. Wie gut, dass er ihn schon erwähnt hatte. „Den treffe ich morgen Abend. Er hat Probleme.“
„Probleme?“ Probleme interessierten Beate grundsätzlich. Sie drehte die Sendung noch leiser. „Probleme mit seiner Frau, vermutlich?“
„Nein“, wunderte sich Rainer, „nicht mit seiner Frau. Mit seiner Mutter. Ludwig ist Junggeselle.“
„Junggeselle? So. Mit seiner Mutter? Wie alt ist er denn?“
Beates Interesse schwand.
„Sechsunddreißig.“
„Ach ja. Und da hat er noch Probleme mit seiner Mutter?“
„Nun“, begann Rainer und suchte nach Erklärungen, „er ist ein Einzelkind.“
„Ein Einzelkind?“ Beate, die niemals eines bekommen hatte, fühlte sich angesprochen. „Und was hast du damit zu tun? Du hast doch gar keine Erfahrung mit Kindern.“
„Bitte!“, sagte Rainer ärgerlich. „Ludwig ist kein Kind mehr. Ludwig ist sechsunddreißig Jahre alt und versucht jetzt, sich von seiner Mutter zu lösen. Dabei soll ich ihm helfen.“
„Du.“ Beates Blick glitt über Rainers Körper hinweg zum Fernsehgerät. „Ausgerechnet du, also, sollst ihm dabei helfen?“
„Natürlich“, sagte Rainer gereizt, „könntest du es etwa besser?“
„Möglich“, lächelte Beate. „Frauen können sowas besser; sie haben das größere Einfühlungsvermögen.“
Rainer griff beherrscht zur Weinflasche, füllte erneut sein Glas und fragte sanft: „Und wie, meine Liebe, würdest du vorgehen?“
„Psychologisch.“ Beate blicke ihn hochmütig an. „Ganz einfach: Psychologisch.“
„Darin kenne ich mich nicht gut aus“, gab Rainer zu.
„Natürlich nicht“, bestätigte Beate, „du bist ja auch keine Frau.“
Das war unbestreitbar. Rainer schwieg. Frontabschnitt II, dachte er, das war eine gute Gelegenheit, eine Verbindung zwischen Ludwig und Beate herzustellen.
„Also gut, ich überlasse ihn dir“, sagte er. Ein Überraschungsangriff.
„Wie?“ Beate sah verblüfft zu ihm hin. „Wen überlässt du mir?“
„Ludwig“, sagte Rainer. „Ich werde ihn zu uns einladen, damit du psychologisch vorgehen kannst. Als Frau“, fügte er herausfordernd hinzu.
„Schön“, sagte Beate, „bring ihn her.“ Sie dachte gar nicht daran nachzugeben.
Ludwig sah schnell ein, dass Beate für Mutterprobleme die Kompetentere war und versprach zu kommen.
Es war ein Dienstag, an dem Ludwig kam. Rainer hatte seit einiger Zeit schon beiläufig am Fenster gestanden und auf die Straße hinabgeblickt. Herr Breitmüller von gegenüber hatte seinen klobigen Wagen unter der Laterne geparkt, die Nachbarskinder waren zum Abendessen gerufen worden, und die Sonne beeilte sich unterzugehen. In wenigen Minuten würde sie endgültig die Beleuchtung dieser Vorortstrasse den Laternen überlassen.
In dem langen Schatten, den die Häuser jetzt warfen, sah Rainer einen Mann näherkommen, der eigentlich nur Ludwig sein konnte. Das modische Grau des Mantels glich dem des Straßenbelags, nur die Bewegung und der Blumenstrauß unterschieden ihn davon. Der Blumenstrauß allerdings mehr. Er war groß, in Seidenpapier verpackt, und oben schauten die Köpfe von blassrosa Nelken hervor. Sie waren das einzig Farbige an dieser Erscheinung, und Rainer dachte, dass sich Beate bestimmt über diese Blumen freuen würde.
Das Klingeln der Glocke rief ihn zur Korridortür, und aus der muffigen Luft des Treppenhauses trat Ludwig in die der Wohnung. Rainer setzte ihn auf die Couch des Wohnzimmers und holte Beate, die sich im Schlafzimmer die Lippen nachzog. Beinahe anziehend sah sie heute aus, stellte Rainer zufrieden fest. Eine Spur zu üppig vielleicht, aber das passte zu ihr.
Ludwig, der Beate schüchtern Hand und Blumen reichte, schien sich in ihrer Gegenwart ebenfalls wohl zu fühlen, denn es dauerte nicht lange, bis beide lebhaft miteinander sprachen. Rainer hielt sich rauchend im Hintergrund und beobachtete die Entwicklung seines Schlachtplans. Der Vormarsch in Frontabschnitt II kam zügig voran.
Etwas zu zügig, dachte er plötzlich eifersüchtig, denn Beates Verhalten musste man eigentlich Flirten nennen. Dreistes Flirten, korrigierte er sich, taktloses. Schließlich war er immer noch der Ehemann. Rainer drückte seine halbgerauchte Zigarette aus, nahm sich verstimmt eine neue und verbot sich, den günstigen Verlauf seines Plans zu behindern.
Sich an diese Verbot zu halten, war nicht einfach, bemerkte er in den nächsten Wochen. Ludwig war ein häufiger Gast geworden, denn seine Mutter hatte keine Einwände gegen diese Besuche. Und an den Tagen, an denen er nicht kam, versäumte es Beate nie, sich nach dem Befinden des ‚Jungen’ zu erkundigen. Sie hatte sogar begonnen, mit irgendeiner Zeitschriftendiät abzunehmen, was Rainer bei einer Frau ihres Alters einfach lächerlich fand. Lächerlich und charakterlos, denn für ihn, den Ehemann, hätte sie sich dieser Tortur niemals unterzogen.
Um nicht überflüssig und fernsehlos im Hintergrund zu sitzen, gewöhnte Rainer sich an, in ein nahe gelegenes Lokal zu gehen, wenn Ludwig kam. Zeitungslesend saß er am Tresen, beobachtete die anderen Männer, die bereits ihre Freiheit zurück hatten und wartete. Wartete auf das Nachhause gehen, wartete auf irgendein Anzeichen, dass Beate endlich auf die Idee gekommen war, ihr Verhältnis zu Ludwig in Rainers Sinn zu vervollständigen.
Eines Abends, als Rainer aus seinem Stammlokal kam, war Ludwig bereits gegangen. Beate saß Wein nippend auf der Couch, und Rainer öffnete weit die Fenster. Der Abend war schwül gewesen, Gewitterwolken zogen von West nach Ost, doch hier im Zimmer war die Schwüle besonders drückend.
Unter Beates abschätzendem Blick zog Rainer seinen Sessel näher zum Tisch und nahm sich ebenfalls ein Glas Wein. Er musste nicht erst überlegen, warum Beate ihn so abschätzig musterte, denn sie fragte sofort, wie viele Jahre sie eigentlich verheiratet seien.
„Dreiundzwanzig glückliche Jahre, Schatz“, antwortete Rainer und war sicher, dass er die Kampfzone bald würde ausweiten können.
„Dreiundzwanzig Jahre“, nickte Beate und nahm ein Schlückchen aus ihrem Glas, „dreiundzwanzig Jahre Glück.“
„Glück und Treue“, betonte Rainer. „Das ist eine lange Zeit. Eine sehr lange Zeit.“
Beate legte die Arme breit auf die Rückenlehne der Couch und sagte: „Ich glaube, dass nichts dieses Glück gefährden könnte.“
„Nein“, lächelte Rainer und achtete darauf, dass sein Lächeln nicht triumphierend wirkte, „nichts. Dafür sind wir zu alt.“
Zu alt war sie eigentlich nicht, dachte Beate, als sie am nächsten Nachmittag beim Friseur saß und in den bunten Zeitschriften blätterte, die dort auf dem Tisch lagen.
Nur ein bisschen altmodisch kam sie sich im Augenblick vor. ‚Durch Horst erst lernte ich meinen Mann wieder lieben’, schrieb da eine Leserin dem Zeitschriftenpsychologen. In den übrigen Heften fand sie ähnliche Berichte, in denen alte Ehen durch Impulse von außen aufgefrischt wurden.
Auch ihrer eigenen Ehe, fand Beate, täte eine Auffrischung bestimmt gut, denn Rainers Gleichgültigkeit hatte in den letzten Wochen deutlich zugenommen. Er kam offenbar nicht mehr auf die Idee, dass sie, Beate, auch für andere Männer attraktiv sein könnte. Es war kein Kompliment, wenn Rainer sie bedenkenlos mit Ludwig allein ließ und lieber in dieses stickige Lokal ging.
Beleidigend, stellte Beate fest, war Rainers Vertrauen in jedem Fall. Und beleidigen ließe sie sich nicht.
Der Count-down hatte begonnen; das spürte Rainer, ging zum Abteilungsleiter und beantragte Urlaub für die Zeit danach. Er hielt es für klüger, in den ersten Wochen nach der Trennung nicht greifbar zu sein, einfach fortzufahren, bis sich Beate an ein Leben ohne ihn gewöhnt hatte. Mallorca oder Gran Canaria schien ihm weit genug. Schäkernd und frei würde er an tropischen Tresen sitzen und sein Leben neu planen.
Doch zuerst galt es Beate zu überführen. Die Abende, an denen Ludwig kam, schieden aus; dafür war Rainers Rückkehr aus seinem Stammlokal zu unregelmäßig. Zu regelmäßigen Zeiten kam er nur aus dem Büro zurück. Also würde es während der Arbeitszeit geschehen, folgerte Rainer.
Es war ein Donnerstag, an dem Ludwig nicht im Büro erschien.
„Der ist mal wieder beim Arzt“, sagte ein Kollege zu Rainer, als der in der Mittagspause erst Ludwigs Abwesenheit bemerkte.
„Seltsam“, sagte Rainer, „mir ist heute auch elend.“ Er meldete sich schnell krank und fuhr nach Hause.
Der Tag schien wie jeder andere zu sein. Rainer parkte sein Auto vor dem Haus, registrierte die von der Schule heimkehrenden Nachbarskinder und ließ sich Zeit. Ludwig saß in der Falle und konnte ihm nicht entkommen.
Hinter der Wohnungstür im Erdgeschoss dröhnte laute Musik – Beethoven. Rainer fand das angemessen und schritt auch so die Treppen empor.
Als er die Korridortür öffnete, sah er Beate, die sich, einen Packen Bettwäsche auf dem Arm, durch die Schlafzimmertür zwängte.
„Du bist schon da?“, lächelte sie betroffen und stopfte die Wäsche in die Waschmaschine. Dann begrüßte sie ihn, wie sie ihn seit der Verlobungszeit nicht mehr begrüßt hatte.
Rainer befreite sich mühsam und schritt misstrauisch durch die Wohnung. Doch Ludwig fand er nicht. Weder in den Zimmern, noch in den Schränken oder unter den Betten.
Ludwig begegnete ihm erst wieder am nächsten Morgen, als der mit einem Versetzungsantrag zum Personalbüro ging.
„Die Arbeit im Archiv hat mich schon immer interessiert“, murmelte Ludwig und deutete auf die Papiere in seiner Hand. Er sah heute ziemlich blass aus.
Rainer dachte an die unerfüllten Hoffnungen, die er in diesen jungen Mann gesetzt hatte und sagte abweisend: „Ich glaube, die Ruhe da unten wird Ihnen guttun, gesundheitlich.“
Das glaubte Ludwig inzwischen auch. Für einen Vormittag wie den gestrigen bei Beate war er eben nicht geschaffen. Wäre er doch bloß zum Arzt gegangen.