Читать книгу Carmen im Kopfhörer - Jochen Sommer - Страница 4
B wie Bogart
ОглавлениеEr war wirklich ein seltener Vogel, dieser Fischreiher. Geschützt von Paragraphen und unbehelligt von den wesentlich kleineren Möwen flog er dicht über der Wasseroberfläche, schnappte mit einer beiläufigen Kopfbewegung einen Fisch und stieg bedächtig höher.
Mit seiner glitzernden Beute im Schnabel überquerte er den Strand von Zandvoort, ohne sich um die vielen Lebewesen dort unten zu kümmern.
Nicht einmal um Beate, die auf ihrem dunkelblauen Strandtuch saß und gerade beschlossen hatte, ebenso modern zu sein wie die anderen Frauen. Scheinbar selbstverständlich streifte sie die Träger ihres Badeanzugs über die Arme, drehte das Oberteil zu einer stützenden Rolle unter der Brust zusammen und cremte sich ein. Ganz dick trug sie das Sonnenöl auf, um die ungewohnte Freiheit schadlos zu überstehen.
Barbusig saß sie nun da und befürchtete insgeheim, dass jemand daran Anstoß nehmen könnte. Doch das tat niemand – außer Rainer. Das Badetuch um die schmalen Schultern gelegt stand er plötzlich vor ihr, und Beate spürte die Empörung, die in seinem Blick lag.
Sehen konnte sie sie allerdings nicht, denn er hatte sich eine dieser verspiegelten Sonnenbrillen gekauft.
„Wartest du schon lange?“, fragte er, ihren glänzenden Busen ausdrücklich ignorierend.
„Nicht so sehr lange“, lächelte sie und freute sich, dass ihr Gatte hier am Strand ebenso modern sein musste, wie sie selbst.
„Außerdem hatte ich keine Langeweile“, sprach sie weiter, „ich genieße es sehr, das Meer und diese ungezwungenen freien Menschen zu betrachten.“
„Ja“, bestätigte Rainer und sah sich betont gleichgültig um. „Es hat sich nicht viel verändert, seit wir das letzte Mal hier waren“, behauptete er, richtete die Gläser seiner Brille direkt auf Beates zusammengerolltes Oberteil und lächelte wehmütig. „Nur wir, wir haben uns verändert. Du warst damals fünfundzwanzig, nicht wahr?“
Beate zog ihren Badeanzug beleidigt hoch und stand auf. „Ich gehe ins Wasser“, beendete sie das Gespräch und watete in die flache Nordsee. Sie musste ziemlich weit hinausgehen, bis sie schwimmen konnte. Wenn sie an den Strand zurückblickte, konnte sie Rainer gerade noch erkennen, der mit angezogenen Beinen dahockte und sich interessiert umschaute.
An seiner Statur allein konnte es nicht liegen, dass er so armselig wirkte, überlegte Beate. Es war vielmehr die offensichtliche Unfreiheit, die seinen Körper erst richtig zur Geltung brachte. Sie umgab ihn wie ein aufdringliches Parfüm. Die kindische Sonnenbrille war das i- Tüpfelchen auf dieser Gestalt am Ufer.
Beate watete zurück, ließ Rainer weiter gaffen und ging allein zu einem der Strandcafe´s. Auf der hölzernen Terrasse suchte sie sich einen Tisch vorn an der Brüstung und bestellte Campari. Den hatte sie zuletzt in Italien getrunken, vor vielen Jahren. Damals waren sie noch ins Ausland gefahren, später nur noch in die deutschen Mittelgebirge, zu Talsperren, von Tannen umzäunt.
Dieser Urlaub jetzt in Holland, Beate nippte an ihrem Getränk, war wirklich eine Überraschung gewesen; Rainer hatte ihn sogar ohne ihr Wissen bei seinem Abteilungsleiter beantragt. Solche Überraschungen hatte sie ihm eigentlich nicht mehr zugetraut. Für die Nordsee als Urlaubsziel hatten sie sich entschieden, weil sie, Beate, wieder mal eine hartnäckige Bronchitis plagte.
Wegen ihrer keuchenden Hustenanfälle hatte Rainer bereits das eheliche Schlafgemach gegen die Couch des Wohnzimmers getauscht.
Vielleicht, dachte sie beim zweiten Campari, kam Rainer jetzt in ein Alter, in dem wieder Entwicklungen möglich waren.
Jedenfalls, beschloss sie beim dritten Glas, wollte sie Rainer dabei helfen. Sie waren schließlich verheiratet.
„Freiheit“, sagte sie am nächsten Morgen im Frühstückssaal etwas laut, „die Freiheit ist es, die ich im Urlaub schätze.“
Betreten schauten andere Ehepaare zu Beate hinüber, und Rainer hob schnell die große Kaffeetasse vors Gesicht, um ausgiebig zu trinken. Appetit hatte er keinen mehr und auch keine Lust, auf dieses Thema einzugehen. Etwas überstürzt verließ er den Saal, setzte die Sonnenbrille auf und ging zum Strand.
Mit Beates Freiheitsbegriff wollte er sich nicht auseinandersetzen, auch nicht mit seinem eigenen. Nicht in diesem Urlaub, den er ursprünglich für eine ganz andere Reise beantragt hatte.
Die Luft flimmerte über dem Strand, wälzte sich in der Windstille schwer zwischen den Strandkörben hindurch, und Beate wusste nicht, ob das Geflimmer tatsächlich nur an der Hitze oder auch an den vielen Camparis lag, die sie getrunken hatte. Wie an jedem Nachmittag in diesem Urlaub saß sie auf ihrem gewohnten Platz vorn am Geländer des Cafe´s und langweilte sich. Rainer hatte sich auch nicht entwickelt, dachte sie, höchstens zurück. Pubertär war das, wie er Tag für Tag hinter seiner dämlichen Brille am Strand hockte und Frauen beglotzte.
Selbstmitleidig hob sie das Campariglas und prostete dem Mädchen auf der anderen Seite des Tisches zu. „Ich weiß zwar nicht, wie es auf holländisch heißt“, lächelte sie unglücklich in das fremde Gesicht, „aber trotzdem: Prost.“
„Ich weiß es auch nicht“, lachte das Gesicht zurück. „Nicht einmal auf arabisch könnte ich es Ihnen sagen, denn die trinken ja offiziell keinen Alkohol, diese Moslems.“
Beate staunte: „Wieso arabisch? Sind Sie Araberin?“
„Nicht ganz“, lachte das Mädchen. „Ich komme ursprünglich aus Hagen und jetzt gerade aus Tunesien.“
„Waren Sie freiwillig da unten?“, fragte Beate und dachte an die haarsträubenden Berichte, die sie gelegentlich beim Friseur las.
Das Mädchen blickte sie befremdet an. „Ich habe dort einige Monate gearbeitet, im Hotel, als Kindergärtnerin für die Gästekinder.“
Beate bestellte Getränke, und das Mädchen begann zu erzählen. Während die Schatten der Strandkörbe länger wurden, sprach es über die afrikanische Wüste, über wilde Berberstämme und sein eigenes ungebundenes Leben. Beate war sehr zufrieden mit diesem Nachmittag; der Kellner auch.
Rainer schob zur Kontrolle seine Sonnenbrille auf die Stirn, doch die beiden wankenden Gestalten nahten sich weiterhin. Eine davon war unverkennbar Beate.
„Das ist Anouschka“, stellte Beate die andere vor, „Anouschka aus Afrika.“
„Tatsächlich?“, wunderte sich Rainer und betrachtete die junge Frau gewissenhaft. Sie war etwas größer als Beate, schlanker und zwei Jahrzehnte jünger. Das wäre er jetzt auch gern, wünschte sich Rainer und bekam Anouschka letzten Satz gerade noch mit: „...und außerdem ist Afrika für mich ein Ort der Selbstfindung.“
Rainer merkte sich das für alle Fälle und fragte: „Heißen Sie tatsächlich Anouschka?“
„Nein“, sagte das Mädchen widerstrebend, „tatsächlich heiße ich nur Anna.“
„Die Mutter Courage bei Brecht hieß auch so“, tröstete Rainer sie. „Wenn man es sich recht überlegt“, schmeichelte er, “ist das gar nicht so abwegig. Zur Selbstfindung nach Afrika zu gehen, dazu gehört schließlich Mut.“
„Stimmt“, beendete Beate Rainers literarischen Ausflug, „aber heute Abend gehen wir erstmal gemeinsam ins Kino. Casablanca, mit Humphrey Bogart, spielt auch in Afrika.“
„Den liebe ich“, schwärmte Rainer, „der spielt immer so klassisch den Verlierer.“
Der Film war nicht synchronisiert, und holländisch hätte auch nicht gepasst zu den markanten Falten im Gesicht des Schauspielers und zu seinen lakonischen Sätzen. Rechts neben sich hörte Rainer Beates bronchiales Husten und rückte nach links. Sein Knie und Ellbogen berührten dabei Anouschka, und Rainer beließ es so. Zu seiner Zeit wäre das verstanden worden, doch Anouschka schien es nicht einmal zu bemerken; auch nicht die heimlichen Blicke, mit denen Rainer im Halbdunkel des Kinos ihr Profil betrachtete.
Näher kam er Anouschka auch am Plastiktisch des Cafe´s nicht, das sie nach dem Film aufsuchten. Etwas abseits saß er den beiden Frauen gegenüber, vermochte kaum ihrem leisen Gespräch zu folgen.
Als sie das Cafe´ verließen, war der Ablauf des nächsten Tages bereits geplant, und Rainer bekam von Anouschka einen Abschiedskuss. Sie schien seine Verlegenheit zu bemerken und sagte lächelnd: „Sie sind süß, irgendwie.“
Mit diesem Satz in den Ohren glitt Rainer in einen traumlosen Schlaf, aus dem ihn erst Beate weckte, die im Badezimmer keuchend abhustete.
Angewidert stand er auf, verzichtete auf die morgendliche Rasur und ging hinunter in den Frühstückssaal. Wenig später kam Beate, die Tasche mit den Strandutensilien in der Hand.
„In einer Stunde treffen wir uns mit Anouschka“, sagte sie. „Du hast doch sicher nichts dagegen?“
Rainer zuckte gleichmütig die Schultern. „Nein, warum?“, fragte er.
„Ich finde dieses Mädchen sehr sympathisch“, meinte Beate, „und es hat schon so viel erlebt.“
„Sie ist wirklich ganz nett“, bestätigte Rainer,.
Sie war mehr als das, dachte er, als sie am Strand ihre Decken ausbreiteten. Unter dem Kleid, das Anouschka gerade auszog, trug sie nur ihr Bikinihöschen, auf das Oberteil hatte sie verzichtet.
Rainer richtete die Gläser seiner Sonnenbrille hinaus aufs Meer und musterte Anouschka aus den Augenwinkeln. Ihre Brüste waren etwas kleiner als Beates, doch in den Konturen fester. Sie lagen nicht schwer auf den Rippen auf, sondern reckten sich vorwitzig nach oben, und ihre Brustwarzen hatten einen kleineren Hof.
„Warum tragen Sie eigentlich diese entsetzliche Sonnenbrille?“, fragte Anouschka gerade.
Rainer murmelte etwas von empfindlicher Bindehaut.
„Sie steht Ihnen überhaupt nicht“, sagte Anouschka. „Sie sehen damit aus wie ein italienischer Papagallo oder ein arabischer Waffenschieber. Ich hasse diese verspiegelten Gläser. Man fühlt sich beobachtet, selbst wenn sie woanders hingucken.“
Rainer zog die Brille ab und warf sie lässig in die Badetasche. „Ich werde mir sofort eine andere kaufen“, sagte er gehorsam. „Kommen Sie mit und beraten mich?“
„Im Interesse des guten Geschmacks“, sagte Anouschka, streifte ihr Kleid über und fragte Beate: „Sie haben doch nichts dagegen?“
„Nur gegen die Sonnenbrille habe ich was“, antwortete Beate und sah den beiden nach, wie sie über die Holzstufen die Düne emporstiegen. Sie, Beate, hätte Rainer niemals seine Sonnenbrille ausreden können, gestand sie sich ein. Anouschka hatte dafür weniger als eine Minute gebraucht. Vielleicht war sie auch der geeignete Katalysator, um Rainers Unfreiheit zu beseitigen, überlegte Beate.
Galant hielt Rainer Anouschka die Hand hin und half ihr über die letzte, etwas höhere Holzstufe der Düne hinweg. Er hielt ihre Hand auch noch, als es keine Holzstufen mehr zu überwinden gab.
„Da vorne gibt es Sonnenbrillen“, rief Anouschka, entzog Rainer ihre Hand und deutete auf einen Souvenirladen.
Dutzende von Sonnenbrillen lagen in drehbaren Metallständern, und Anouschka wählte eine im unteren Fach des Ständers aus. Wenn sie sich vorbeugte, konnte Rainer durch den Ausschnitt ihres weiten Kleides ihre Brüste sehen. Er ließ sich fast alle Brillen aus den unteren Fächern reichen, in allen Geschäften entlang der Strandpromenade.
Erst im letzten Geschäft fand er ein Modell, das ihm und auch Anouschka zusagte. Es erinnerte an eine Kassenbrille aus den dreißiger Jahren, hatte kleine, ovale Gläser, die seine Augen knapp verdeckten.
„Die sieht lustig aus“, fand Anouschka, „wie die Pennälerbrille von Heinz Rühmann in der Feuerzangenbowle. Die passt zu Ihnen.“
Rainer war geschmeichelt. „Die nehme ich“, sagte er und warf einen Abschiedsblick in Anouschkas Ausschnitt.
Irgendwie waren diese heimlichen Blicke spannender und erotischer als die mühelose Betrachtung am Strand, dachte Rainer. Anouschkas Assoziation zu Heinz Rühmann fand er aufschlussreich. Schließlich war der in diesem Film auch deutlich älter gewesen als das Mädchen, in das er sich verliebt hatte.
Als sie an den Strand zurückkamen, lagen die Badesachen noch da, Beate nicht.
„Sie ist bestimmt im Strandcafe´“, vermutete Anouschka und ging ebenfalls hin.
Rainer blieb zurück und sah ihr nach. Er konnte sich nicht erinnern, in den Jahren seiner Ehe jemals mit einer so hübschen Frau in Kontakt gekommen zu sein; vorher auch nicht. Es war schon verrückt, dass er Anouschka ausgerechnet durch Beate kennengelernt hatte. Sie hatte eben auch ihre guten Seiten, dachte Rainer versöhnlich.
Beate saß tatsächlich auf ihrem Stammplatz vorn an der Brüstung, Anouschka setzte sich zu ihr.
„Habt ihr eine Sonnenbrille gefunden?“ fragte Beate.
Anouschka nickte. „Nach langem Suchen, im letzten Souvenirladen.“
„Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie ihm die eklige Brille ausgeredet haben. Auf Sie hört er wenigstens. Wir könnten uns übrigens duzen“, schlug sie vor.
„Einverstanden“, sagte Anouschka.
Beate winkte dem Kellner, der brachte Campari.
„War es sehr nervig?“, erkundigte sich Beate.
„Überhaupt nicht. Dein Mann war ausgesprochen folgsam“, sagte Anouschka. „Ich glaube, er hat sich ein wenig in mich verguckt. Oder zumindest in meinen Ausschnitt.“
Beate staunte über Anouschkas Offenheit. „Das überrascht mich nicht“, sagte sie. „Wenn ich mein Mann wäre, ginge es mir bestimmt genauso.“
„Danke für das Kompliment“, lächelte Anouschka und sah Beate nachdenklich in die Augen. „Und wenn du nicht dein Mann wärest?“ fragte sie.
Die Frage verwirrte Beate. Sie griff zu ihrem Campariglas, nippte mehrmals und stellte es zurück. Sie wusste nicht recht, ob sie die Frage so verstanden hatte, wie sie sie hätte verstehen können. Vorsichtshalber wechselte sie das Thema.
„Was hattest du eigentlich damit gemeint: Afrika ist für mich ein Ort der Selbstfindung?“, fragte sie. „Was hast du dort Neues über dich herausgefunden?“
„Zum Beispiel, dass ich nicht nur eine Schwäche für Männer habe, sondern auch für Frauen“, wurde Anouschka deutlicher. „Das war für mich neu. Ich glaube inzwischen, dass jede Frau bi ist, die meisten wissen es nur nicht. Aber es ist schwer im Kommen.“
Beate wollte nicht verstehen. „Was ist schwer im Kommen?“
„Die Bisexualität“, sagte Anouschka unmissverständlich. „Nach einem Pfeifchen geht es besonders gut; es hilft, die Hemmungen zu überwinden.“
Das verstand Beate wirklich nicht. „Nach welchem Pfeifchen?“
„Haschisch“, erklärte Anouschka geduldig. „Ich habe mir aus Tunesien ein Päckchen roten Afghanen mitgebracht. Das ist der beste. Du kannst ihn gern mal probieren."
„Im Augenblick nicht“, lehnte Beate ab und bestellte Campari. „Ich habe keine Erfahrung mit Drogen und mit anderen Sachen auch nicht.“
„Das lässt sich ändern“, sagte Anouschka. „Was eine Droge ist, ist letztlich eine Frage des Landes, in dem du lebst.“
„Wieso?“, fragte Beate.
„Wenn du in den arabischen Emiraten leben würdest“, erklärte Anouschka, „kämest du wegen einer Flasche Whisky ins Gefängnis. Der Prophet war Antialkoholiker. Hier in Holland interessiert sich niemand für dein Haschischpfeifchen, in Deutschland kommst du ab einer bestimmten Menge in den Knast. Seit Afrika bin ich meine Vorurteile auch auf diesem Gebiet los, seit Afrika bin ich frei.“
„Auf allen Gebieten?“, vergewisserte sich Beate.
„Du hast mich genau verstanden“, lächelte Anouschka und drückte warm und kurz Beates Hand. “Unter Frauen haben wir die Heterospielchen doch nicht nötig“, sagte sie. „Ich sage einer Frau ganz offen, wenn ich sie mag. Dich, Beate, mag ich. Du bist genau mein Typ.“
Beate fühlte sich etwas unbehaglich. So deutlich hatte ihr noch nie jemand seine Sympathie gestanden und schon gar keine Frau. „Das ist alles ein bisschen viel“, sagte sie verlegen.
„Lass dir Zeit“, empfahl Anouschka, winkte dem Kellner und bezahlte. Schweigend liefen sie nebeneinander her durch den warmen Sand.
Rainer saß immer noch auf den Decken. Die kleinere Sonnenbrille stand ihm wirklich besser, dachte Beate und legte sich neben ihn. Sie legte sich auf den Bauch, die Stirn auf ihre verschränkten Unterarme.
„Dein Rücken ist rot“, hörte sie Anouschka sagen, „ich creme ihn dir ein.“
Anouschkas warme Hände verrieben sanft die Sonnencreme auf Beates Rücken. „Du bist ganz verspannt“, sagte Anouschka, „ich werde dich ein wenig massieren.“
Wirbel für Wirbel beschäftigte sie sich mit Beates Rückgrat. Mit den Beckenwirbeln und deren Umfeld befasste sie sich besonders intensiv, dann glitten ihre Hände hoch zu Beates Schultern und Hals; trotz der Hitze bekam Beate Gänsehaut.
„Hier oben ist alles steinhart“, hörte sie Anouschka sagen, „damit muss ich mich länger beschäftigen.“
„Mein Rücken ist auch nicht der beste“, meldete sich Rainer zu Wort.
„Schön der Reihe nach“, vertröstete ihn Anouschka urdeutsch und widmete sich ihm erst, als Beate wohlig schnarchend eingeschlafen war.
Allerdings dauerte die Massage nur wenige Minuten. „Ihre Muskulatur ist total in Ordnung“, verkündete Anouschka.
Rainer hatte es nicht anders erwartet, fand seine Fitness im Augenblick jedoch bedauerlich.
Als die Sonne sank, packten sie ihre Badesachen zusammen, und die beiden Frauen verabredeten sich für den nächsten Vormittag zu einem gemeinsamen Einkaufsbummel. Am nächsten Abend wollten sie zusammen mit Rainer in eine Diskothek gehen.
Beate ging sofort nach dem Frühstück in Anouschkas Hotel, während Rainer trödelnd durchs Zimmer lief und seine Strandsachen zusammensuchte.
Die Badehose zog er gleich an, stellte sich vor den langen Spiegel des Kleiderschranks und musterte sich. Der Gedanke an den verabredeten Discobesuch war ihm unbehaglich, der an die sportlich braunen Männerkörper unten am Strand auch. Er würde heute nicht ans Meer gehen, beschloss er.
Mit dem, was er vor sich im Spiegel sah, konnte er Anouschka nicht beeindrucken, dachte er illusionslos. Aber übertrieben männliche Formen, hatte er mal gelesen, waren auch nicht mehr gefragt, bei jüngeren Frauen. Gefragt waren heute innere Werte. Werte, die er sich nicht absprechen wollte. Nur im Spiegel sah er sie nicht.
Ohne konkreten Vorsatz bummelte er dann die Einkaufsstraßen entlang, betrachtete die Auslagen der Boutiquen und kaufte als erstes ein Paar Schuhe. Die hohen Absätze streckten seine Figur, und am Nachmittag hatte sich sein Spiegelbild verändert: Eine neue Hose, ein Polohemd in animalischem Rot, ein Wasserglas voll Bourbon in der Linken und eine Körperhaltung, die Rainer unwillkürlich an Bogarts lässige Posen denken ließ.
Etliche Whisky später glaubte er auch den zynischen Zug der Mundwinkel bei sich zu entdecken. Einen Hut wollte er sich aber nicht kaufen; er hatte es schließlich nicht nötig, irgendjemand zu imitieren.
Als Anouschka und Beate am Abend ins Hotelzimmer kamen, fühlte Rainer sich von neuer Zuversicht durchströmt. Einträchtig mit dem Whisky floss sie durch seine Adern, und er begrüßte die beiden Frauen eher beiläufig.
„Habt ihr was Schönes gekauft?“, fragte er.
„Nein“, sagte Beate, „wir haben Anouschkas Hotelzimmer den ganzen Tag nicht verlassen. Wir haben uns richtig verquatscht, ein bisschen getrunken und so. Aber du warst einkaufen, nicht wahr?“, fragte Beate und hustete.
Rainer nickte nur.
Beate hustete erneut. „Meine Bronchitis ist schlimmer geworden“, sagte sie. „Ich möchte heute nicht mit in diese verqualmte Disco gehen. Geht ihr beiden doch allein“, schlug sie vor.
Rainer schaute erfreut zu Anouschka hinüber und die nickte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass auch Anouschka sich für den Abend zurechtgemacht hatte: Mit einem dunklen Konturenstift hatte sie ihre rotgeschminkten Lippen betont, mit dezentem Make up ihre Augen. Ein enges, züchtig hochgeschlossenes graues Kleid schmiegte sich um ihren Körper, und sie trug flache Schuhe, wie Rainer erfreut feststellte. Dank seiner eigenen neuen Schuhe überragte er Anouschka jetzt ein wenig. Sie sah sehr fraulich aus, nicht so mädchenhaft wie am Strand.
Und etwas älter wirkte sie durch das Kleid auch; sie passte jetzt noch besser zu ihm, dachte Rainer.
„Wenn’s deiner Gesundheit dient“, sagte er deshalb großmütig zu Beate, „bleib halt hier. Wir kommen auch ohne dich zurecht.“
Im Licht der sinkenden Sonne gingen Rainer und Anouschka durch Zandvoort und suchten gemeinsam ein Tanzlokal.
Die Wände der Diskothek waren schwarz, glänzendes Chrom und der Metallboden der Tanzfläche reflektierten bunte Blitze und flackerndes Licht. „I can get no satisfaction“ brüllte Mick Jagger dazu aus tausend Lautsprechern, und Rainer war beruhigt. Wenigstens die Musik war ihm noch bekannt.
„Ladies and Gentlemen“, schrie ein magersüchtiger Mann ins Mikrofon, „oldie time is over.“ Mit nervösem Ruck schob er einen Knopf an der Musikanlage nach vorn und bearbeitete pantomimisch eine Gitarre.
Diese Musik war Rainer nicht bekannt. Unsicher hielt er sich an Anouschka fest und rief ihr zu: „Die Bar in Casablanca hat mir besser gefallen!“
Anouschka küsste ihn aufs Ohr und antwortete etwas, das Rainer nicht verstehen konnte. Immer mehr Menschen drängten sich ins Lokal und auf die Tanzfläche. Mädchen- und Männerkörper bewegten sich dort, schöne Körper, wie Rainer sie vom Strand her kannte. Er bestellte einen Whisky und schwang sich souverän auf einen Barhocker.
Anouschka deutete auf die Tanzfläche, Rainer schüttelte ablehnend den Kopf. So tanzte sie allein, und Rainer sah ihr von der Höhe seines Hockers aus dabei zu.
Zwischen all den buntgekleideten Menschen wirkte Anouschka in ihrem grauen Kleid fast nonnenhaft. Ihre Bewegungen waren sparsam und körperbetont. Sie tanzte gegen den hämmernden Rhythmus der Musik an, verwandelte deren Tempo in langsame Bewegungen. Wie eine Königskobra schlängelte sie sich zwischen den ekstatisch zuckenden Leibern der übrigen Tanzenden hindurch, ihre Hände bewegten sich, als würden sie den Konturen eines kurvenreichen Körpers folgen.
„Bärenstark“, sagte der hünenhafte Mann auf dem Hocker neben Rainer, der Anouschka ebenfalls gebannt zugesehen hatte. „Wie ist diese indische Tempeltänzerin hierher gekommen?“
„Sie ist mit mir gekommen“, informierte ihn Rainer knapp.
„Glück muß man haben“, sagte der Mann und musterte Rainer, „oder Geld. Sogar sehr viel Geld, in Ihrem Fall.“ Der Mann grinste neidisch und gemein und schaute wieder auf die Flaschen, die im Regal hinter dem Tresen standen.
Die Missgunst des Mannes ließ Rainer genüsslich an sich abperlen und lächelte Anouschka zu. Mit einer lässigen Handbewegung winkte er sie zu sich, und Anouschka gehorchte sofort.
„Gigantisch viel Geld“, hörte Rainer den Mann neben sich murmeln.
Anouschka fasste Rainer an seinem blutroten Hemd und zog sein Ohr zu ihren Lippen. „Tanzen Sie jetzt mit mir?“, flüsterte sie.
„Mindestens so viel wie Dagobert Duck und Bill Gates zusammen“, lästerte der Mann lauter.
Da rutschte Rainer stolz von seinem Sitz herab, schüttelte sich ein wenig und schritt auf den hohen Absätzen seiner Schuhe entschlossen zur Mitte der Tanzfläche. Nach einigen ungelenken Bewegungen verfiel er schließlich in eine Art Foxtrott, wobei ihn Anouschka umschlängelte. Dann begann er, den Grundschritt größer und mutiger auszulegen, bewegte auch Oberkörper und Arme dazu. Die wechselnden Musikstücke erzwangen keine Änderung seines Stils, doch er selbst änderte sich. Raumgreifend und provokant nahm er allmählich Besitz von der Tanzfläche, rempelte hier und dort Tanzende an, entschuldigte sich selten. Rücksichtslos und fordernd nahm er sich den Platz, den er benötigte. Anouschka folgte ihm wie sein eigener Schatten.
Rainer hatte niemals in seinem Leben so getanzt wie in dieser chromglänzenden Diskothek. Ohne Gefühl für die verstreichende Zeit, ohne dass es ihn körperlich anstrengte, tanzte er.
Er tanzte, bis ihn der Magersüchtige per Mikrofon bremste: „Bluestime now“, verkündete er, „Some oldies first.“
Die meisten Pärchen verließen die Tanzfläche, nur wenige, auch Anouschka und Rainer, blieben zurück.
„Wollen wir das auch tanzen?“, fragte er leise.
„Da musst du durch“, sagte Anouschka, umfasste Rainer eng und lächelte zu ihm hoch.
Ausgerechnet ‚moon river‘ legte der Magersüchtige auf, und mit den ersten Takten versank Rainer in seiner Jugendzeit, in der Zeit vor Beate. Er war wieder im Partykeller seines Freundes Jörg, wo die Eltern gelegentlich vorbeischauten, nur so. Damals hatten sie auch so eng getanzt, wenn die Eltern endlich ins Bett gegangen waren, zu ‚moon river‘ oder ‚blueberry hill‘, die damals schon Oldies waren. Während die letzten Kerzenstummel herunterflackerten, waren die Mädchen moralischer geworden und die Jungen kühner.
Wie wenig sich seither doch geändert hatte, dachte Rainer wehmütig, denn auch Anouschka hielt seine Hände fest und ihn selbst auf wohlkalkulierter Distanz. Er spürte zwar den Druck ihrer Brüste durch sein Polohemd, doch unterhalb seines Hosengürtels trennten sie Welten.
Als er die überbrücken wollte, schob Anouschka ihn sacht und weit von sich. „Nicht hier“, flüsterte sie ihm ins Ohr, „lass uns ins Hotel gehen.“
Rainer war baff. Das hätten die Mädchen in Jörgs Keller nie gesagt. Er hatte wohl einige Jahrzehnte Emanzipation verschlafen, dachte er.
Rainer ging an den Tresen, warf dem Mann dahinter einen 50-Euro-Schein zu und sagte dem neidischen Hünen: “Das war übrigens mein letztes Geld. Die nächste Stütze kommt erst in zwei Wochen.“
Im Weggehen drehte er sich noch einmal um und ergänzte: „Du Arsch.“
Der Hüne schaute stumm zurück. Er wirkte jetzt sehr viel kleiner - auf die Distanz.
Anouschka wartete schon am Ausgang neben einem Taxi. Sie hielt ihm die Wagentür auf, und Rainer krabbelte hinein auf das bequeme Polster des Wagens. Anouschka nannte dem Fahrer irgendeine Straße, in der vermutlich ihr Hotel lag.
Sie setzte sich neben ihn, Rainer nahm ihre Hand und diesmal sträubte Anouschka sich nicht. Die Häuser der holländischen Stadt glitten an ihnen vorüber, rhythmisch erhellten die Lampen über der Fahrbahn das Innere des Wagens. Ihr Licht fiel erst durch die Frontscheibe, dann verschwand es, um anschließend durch die Heckscheibe zu fallen. So bewusst hatte Rainer noch niemals eine Taxifahrt wahrgenommen und schon gar nicht mit einer solchen Frau und so eindeutigen Absichten.
Das Hotel, vor dem das Taxi hielt, kam ihm allerdings sehr bekannt vor. Es war sein eigenes.
„Beate erwartet uns sicher schon“, sagte Anouschka beim Aussteigen. Rainer bezahlte den Fahrer und knallte die Wagentür heftiger zu als notwendig. Stinksauer lief er hinter Anouschka durch die große Hotelhalle, folgte ihr zum Zimmer.
Beate saß im Bademantel auf dem Bett, und auch Anouschka zog ihr graues Kleid aus.
„Darf ich mir deinen Bademantel leihen?“, fragte sie. Rainer nickte nur.
Mit einem blütenweißen Höschen bekleidet lief Anouschka ins Bad, zog sich den Mantel über und setzte sich neben Beate. Aus ihrer Tasche holte Anouschka eine kurze Pfeife und stopfte sie gewissenhaft. Es sah aus wie ein Ritual.
Anouschka entzündete die Pfeife, sog genüsslich daran. Sie inhalierte tief und behielt den Rauch fast eine Minute in der Lunge, bis sie ihn langsam ausatmete. Dann reichte sie die Pfeife an Beate weiter, die den Rauch in gleicher Weise einsog.
Nach einigen tiefen Zügen bot Beate Rainer die Pfeife an, doch der lehnte ab. Dieser süßlich riechende Tabak war nicht sein Geschmack. Außerdem fand er es lächerlich, zu dritt aus einer Pfeife zu rauchen; er war schließlich kein Indianer.
„Er ist darin etwas altfränkisch“, hörte er Beate murmeln. Mit einiger Verzögerung begann Anouschka zu lachen. Sie schaute Rainer aus weit offenen Pupillen an, bis sie ermattet gegen Beate sank.
„Ich würde ihn in Kauf nehmen“, keuchte Anouschka atemlos, „aber Männer sind einfach zu nichts zu gebrauchen. Sie sind total entwicklungsresistent.“
Beate fand den Ausspruch lustig und lachte ebenfalls, nur Rainer rätselte an den Worten herum. Nachfragen wollte er nicht, da keine der Frauen ihn mehr beachtete. Als die beiden begannen, ihre Pfeife neu zu stopfen, verließ er das Zimmer und lief hinunter in die Hotelhalle, um Zigaretten zu kaufen.
Als er zurückkam, konnte er die Zimmertür nicht öffnen, weil er die Chipkarte vergessen hatte. Mit einem altmodischen Schlüssel wäre ihm das nicht passiert, dachte Rainer verärgert. Die Tür wurde auch nicht geöffnet, als Rainer laut klopfte.
Vermutlich hatten die beiden Frauen ihn nicht gehört, denn aus dem Zimmer drang Musik, untermalt von Beates lautem Keuchen.
Warum ihr ausgerechnet hier an der See die Bronchitis so schwer zu schaffen machte, verstand Rainer nicht.
Er hatte aber auch keine Lust, wie ein Idiot an der verschlossenen Zimmertür zu klopfen. So ging er hinunter auf den Parkplatz zu seinem Wagen, drehte die Rückenlehne flacher und versuchte zu schlafen.
Es wurde eine unruhige Nacht, erfüllt von merkwürdigen Träumen.
Anouschka und Beate spielten darin eine Rolle, und gelegentlich verschmolzen die beiden miteinander und wurden zu einer dritten Frau, die Rainer nicht kannte. Er selbst spielte in dem Traum keine Rolle, wohl aber das hünenhafte Arschloch aus der Discothek. Es saß auf seinem Barhocker und rief ständig: „Wie Dagobert Duck, mindestens wie Dagobert Duck!“ und lachte gehässig.
In aller Herrgottsfrüh wachte Rainer fröstelnd auf. Die Scheiben seines Wagens waren beschlagen, und Rainer schaltete die Scheibenwischer, das Licht und den Motor an.
Direkt vor der Motorhaube seines Wagens ließ ein schwarzgekleideter Junge entsetzt eine Sprayflasche fallen und rannte davon. Auf der Hotelwand prangte ein frischgesprühtes ‚A‘, das von einem Kreis eingerahmt war.
Rainer stieg aus, hob die Sprayflasche auf und sah sich um. Der Parkplatz war menschenleer, und Rainer sprühte neben dem ‚A‘ ein großes ‚B‘ an die Wand, rahmte es ebenfalls mit einem Kreis ein.
‚A‘- wie Anouschka - stand ja schon überall, aber ‚B‘ wie Bogart?
Das war die logische Fortsetzung, dachte Rainer, das Leben ging schließlich weiter.
Es war die erste vorsätzliche Sachbeschädigung, die Rainer jemals begangen hatte, und er fühlte sich erleichtert. Genau so was hatte er gebraucht, nach dieser enttäuschenden Nacht.
Die Spraydose warf er in die Blumenrabatte neben dem Parkplatz und parkte seinen Wagen um, vorsichtshalber.
Anouschka sah er in diesen letzten Urlaubstagen nicht mehr, doch Beate blieb ihm erhalten.