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1. Kapitel

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Der weiße Chevrolet mit der Polizeinummer schob sich durch den abendlichen Vorortverkehr von Los Angeles. Er durchquerte den Stadteil New Haven und rollte dann am San-Louis-Obisko-River entlang in nördlicher Richtung. Hier waren Grünanlagen mit Picknickplätzen und Minigolf geschaffen. Etwas weiter nördlich wurde es einsamer. Die Landschaft glich immer weniger einem gepflegten Park.

Der Verkehr wurde schwächer. An der Stelle, wo der Fluß einen Knick nach Osten macht und die Straße gabelt, bog der Streifenwagen ab. Es war die Grenze des 31. Polizeibezirks, die hier mit der Stadtgrenze zusammenfiel.

Sergeant Sullivan steuerte jetzt einen schmalen Weg hinunter der zum Fluß führte. In den letzten Monaten hatten sich hier Landstreicher gezeigt. Tramps, die in den Uferanlagen kampierten. Wenn es etwas gab, was der Sergeant in seinem Revier nicht leiden konnte, waren es Tramps. Für ihn hatte alles auf der Welt seinen geordneten Platz. Für den Rest waren die sechs Zellen in seinem Revier da, und, wenn die nicht ausreichten, das Zentralgefängnis von Los Angeles.

Der Chevrolet fuhr jetzt dicht am Wasser entlang. Trockene Zweige knackten unter den Reifen. Im Funkgerät rauschte es, dann kam eine Durchsage für die Cops in der City.

Sullivan runzelte die Stirn, als er eine verkohlte Feuerstelle neben dem Wasser sah. Feuermachen war um diese Jahreszeit streng verboten. Bei der herrschenden Trockenheit bestand die Gefahr von Flächenbränden.

Dann sah er den Wagen.

Es war ein zerbeulter Plymouth, dessen rostiges Heck aus dem Gebüsch herausragte. Der Sergeant stoppte und stieg aus.

Am Steuer des Plymouth saß ein junger Mann, dunkelblond, schmächtig. Er schreckte hoch, als Sullivan neben ihm auftauchte.

„Es sieht so aus, als käme sie nicht mehr“, sagte Sullivan und lächelte breit.

Der Junge zuckte zusammen.

„Wer?“

„Nun, Ihre Freundin!“

„Ich erwarte niemanden!“

„Okay“, brummte der Sergeant, „Aber ich erwarte, daß Sie mir Ihre Papiere zeigen.“

Der Junge griff in seine Brusttasche. Das Weitere geschah blitzschnell.

Als er seine Faust wieder zum Vorschein brachte, schwang er eine dünne Lederrute, an deren Spitze eine lederüberzogene Bleikugel befestigt war. Er handhabte sein Instrument mit einer Geschicklichkeit, die auf lange Übung schließen ließ.

Sullivan kam nicht mehr dazu, eine Abwehrbewegung zu machen. Der Totschläger knallte ihm gegen das Kinn, bevor er auch nur den Revolvergriff erreicht hatte.

Der Sergeant ging in die Knie. Er verlor nicht die Besinnung, er hatte plötzlich das Gefühl, statt Blut zähen Kleister in den Adern zu haben.

Der Motor des Plymouth heulte auf. Der Wagen brach durch das Gebüsch, schlingerte am Wasser entlang und raste den Weg zurück. Als der Sergeant endlich seinen. Revolver herausbrachte, war der Plvmouth auf der breiten Ausfallstraße im Verkehrsstrom untergetaucht.

Sullivan schleppte sich zu seinem Wagen zurück, ließ sich in die Polster fallen und griff nach dem Mikrophon.

„Zentrale“, keuchte er. „Der Fahrer eines Plymouth mit der Nummer BH-21-4718 widersetzte sich der Überprüfung und floh in südlicher Richtung auf der San-Louis-Avenue. Er muß sich jetzt der Brücke über den Obisko nähern.“

„Verstanden! Riegeln Sie die San-Louis-Avenue von Norden her ab. Wir kommen von Süden her!“

Die Jagd begann. Sullivan massierte sich sein Kinn und steuerte dann seinen Chevy auf die Avenue hinaus. Die San-Louis-Avenue war eine der großen Ausfallstraßen, die laufend von Polizei überwacht wurde. Der Plymouth hatte keine Chance, diesem dichtgeknüpften Netz zu entkommen. Von allen Seiten tauchten jetzt Streifenwagen und Polizeipatrouillen auf Motorrädern auf. Sie näherten sich sternförmig der Obisko-Bridge.

Es war nur eine kurze Brücke, und der Fluß war an dieser Stelle sehr schmal. Dafür hatte er sich tief in den felsigen Boden eingegraben.

Die Brücke diente nur dem Zubringerverkehr zur San-Louis-Avenue. Sie hatte ein niedriges Eisengeländer, dem der Rost von fünfzig Jahren zugesetzt hatte. Bis zu diesem Abend hatte jedoch niemand die Haltbarkeit des Geländers ausprobiert.

Der Plymouth erreichte die Abzweigung ungefähr zwanzig Sekunden vor dem ersten Polizeiwagen. Diese zwanzig Sekunden genügten dem Fahrer. Er riß die Tür auf und ließ sich seitlich aus dem Wagen fallen. Dreimal überschlug er sich, dann rutschte er auf dem Bauch den Abhang herunter, der zum Wasser führte. Niemand hatte gesehen, daß er ausstieg. Dafür sahen eine Menge Leute, was der Plymouth tat.

Der führerlose Wagen raste in spitzem Winkel auf die Brücke zu. Es gab beträchtliche Panik bei einigen entgegenkommenden Wagen. Die Leute waren alle viel zu aufgeregt, als daß sie gesehen hätten, daß niemand am Steuer saß.

Der linke Kotflügel rasierte am Geländer entlang. Mit einem Ruck schleuderte es den Wagen herum. Das Heck stieg senkrecht empor. Dann wurde das Geländer weggeknickt wie das Gewissen eines Börsenmaklers beim Sommerschlußverkauf.

Das zerbeulte Wrack klatschte in das Wasser des Flusses und bohrte sich in Sekundenschnelle auf den Grund. Zeuge dieses letzten Bildes waren die Besatzungen von drei Streifenwagen, darunter Sergeant Sullivan.

Die Männer nahmen an, was sie annehmen mußten. Der Fahrer hatte die Kontrolle über den Wagen verloren und war mit ihm in den Fluß gestürzt. So war es logisch, daß niemand auf den schmächtigen jungen Mann achtete, der sich seitwärts in die Büsche schlug. Die Leute starrten vielmehr auf die Stelle im Wasser, wo der Plymouth verschwunden war.

Eine Überprüfung der Zentrale hatte inzwischen ergeben, daß der Wagen gestohlen war. Somit war alles klar. Ein Kranwagen erschien und zog das Wrack noch vor Einbruch der Dunkelheit aus dem Wasser.

Die Experten machten lange Gesichter, als sie sahen, daß es leer war. Sie stellten eine Theorie auf, wonach der Fahrer aus dem Wagen geschleudert und mit der Strömung abgetrieben war. Sie gingen daran, den Fluß mit Stangen abzusuchen.

Sergeant Sullivan dagegen erlebte eine Überraschung. Er wurde über Funk ins Headquarter gerufen.

Dort erwartete ihn in seinem Dienstzimmer Captain Ballister, der Chef der Mordkommission im Zimmer waren außerdem noch der District Attorney MacLean und zwei Leute, die der Sergeant nicht kannte, die aber gewaltig nach FBI aussahen. Sullivan hatte einen Riecher dafür.

Der Captain hielt keine langen Reden. Er hielt Sullivan ein Foto hin.

„Kennen Sie dieses Gesicht. Sergeant?“

„Natürlich“, rief Sullivan überrascht. „Das ist der Bursche, der heute mit einem gestohlenen Wagen in den Fluß gestürzt ist.“

„Sind Sie absolut sicher?“

„Natürlich. Es ist schließlich keine zwei Stunden her, daß ich mit ihm zu tun hatte.“

Die beiden FBI-Leute sahen sich an.

„Wir müssen unbedingt herausfinden, was aus ihm geworden ist“, sagte der eine. Er wandte sich an Captain Ballister. „Tun Ihre Leute alles, um die Leiche zu finden?“

Der Captain schob grimmig das Kinn vor.

„Der San-Louis-Obisko ist schließlich kein großer Fluß, Gentlemen. Die Strömung hat die Leiche vielleicht ein paar hundert Meter mitgenommen, mehr bestimmt nicht, weil dann ein eiserner Rechen kommt und der Fluß unterirdisch weiter durch die Stadt läuft. Es kann nicht mehr lange dauern, bis sie ihn finden.“

Sullivan platzte heraus: „Was ist eigentlich los? War der Bursche so ein großer Ganove?“

„Schlimmer als das“, sagte der Captain. „Es ist Teddy Rodgers, der Neffe von Henry Rodgers II.“

„Dem Textilkönig?“

„Genau!“

„Well, das verstehe ich nicht. Die Rodgers sind doch so ziemlich die feinsten Leute hier am Platze. Eine Familie mit einem alten Namen und viel Zaster.“

„Trotzdem müssen wir genau wissen, was aus Teddy geworden ist“, sagte der Captain.

„Warum?“

Einer der FBI-Agenten mischte sich ein.

„Teddy war geisteskrank. Er ist vor einer Woche aus einer geschlossenen Anstalt in Oregon geflohen. Seitdem verfolgen wir seine Spur.“

„Geisteskrank?“ stotterte Sullivan. „Das heißt, er ist gefährlich? Ein Rodgers?“

„Erraten! Sie haben Glück gehabt, Sergeant, daß er keine Schußwaffe bei sich hatte. Die Ärzte bezeichnen Teddy als einen äußerst gefährlichen Burschen, der sinnlos und brutal zuschlägt. Jetzt verstehen Sie, warum wir wissen müssen, was aus ihm geworden ist. Sollte er nämlich zufällig noch herumlaufen, wäre er eine ziemliche Gefahr für seine Umwelt.“

„Allerdings!“

„Noch etwas“, sagte Ballister. „Kein Wort, an die Presse, klar? Diese Geschichte darf erst an die Öffentlichkeit, wenn sie restlos aufgeklärt ist.“

Das sollte jedoch nicht so schnell geschehen.

*

Henry Rodgers II verlebte einen unruhigen Abend. Seit einer Woche schlief er nicht mehr gut, genauer, seit dem Tag, an dem man ihm mitgeteilt hatte, daß Teddy aus der Anstalt ausgebrochen war. Seitdem ließ er sich zweimal täglich mit dem FBI verbinden und erkundigte sich nach dem Stand der Fahndung.

Die heutige Nachricht hatte ihn schwer getroffen.

„Eine rätselhafte Sache“, hatte der FBI-Agent am Telefon gesagt. „Es gibt mindestens fünfzig Zeugen, die gesehen haben wollen, wie er mit einem gestohlenen Wagen in den Obisko-River stürzte. Aber es ist unmöglich, seine Leiche zu finden,“

Henry Rodgers hatte zu wenig Familiensinn, um sich über diese Nachricht nicht zu ärgern.

„Heißt das, daß er nicht tot ist?“

„Ich habe Ihnen die Tatsachen gesagt. Mr. Rodgers“, knurrte der FBI-Mann. „Es liegt an Ihnen, daraus Schlußfolgerungen zu ziehen.“

Henry Rodgers war diesen Ton nicht gewöhnt. Der Herr über ein Baumwollimperium, dessen Filialen in alle fünf Erdteile reichten, hatte Widerspruch zum letzten Mal als Vierzehnjähriger erlebt.

„Junger Mann“, bellte er, „würden Sie vielleicht die Güte haben, mir die Schlußfolgerungen des FBI mitzuteilen?“

„Natürlich. Wir sind der Ansicht, daß Teddy auf irgendeine Weise den Sturz überlebt hat und sich in Los Angeles verborgen hält.“

Rodgers schwieg ein paar Sekunden. „Ist die Presse informiert?“ erkundigte er sich dann.

„Bisher noch nicht. Wir tun alles, um zu verhindern, daß der Fall an die Öffentlichkeit dringt, Natürlich wird es auf die Dauer schwierig sein.“

„Ich hoffe, Sie sorgen dafür, daß er schnell gefaßt wird.“

„Darauf können Sie Gift nehmen.“ Der FBI-Mann schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort:

„Ich denke, es wird gut sein, wenn wir Ihnen Polizeischutz geben. Wir haben die Aussagen der Ärzte, die Teddy behandelt haben. Danach ist er auf Sie nicht besonders gut zu sprechen.“

„Kein Wunder! Er gibt mir die Schuld dafür, daß er in die Anstalt kam. Dabei war es das einzige, was wir für ihn tun konnten. Er war unheilbar krank, litt unter Verfolgungswahn und hatte Tobsuchtsanfälle.“

„Ich schicke jemand zu Ihnen, der bei Ihnen bleibt, bis wir Teddy haben“, sagte der FBI-Agent und hängte ein.

Henry Rodgers zündete sich nervös eine Zigarette an und trat ans Fenster. Er hatte dem FBI nicht den wahren Grund gesagt, weshalb Teddy schlecht auf ihn zu sprechen war.

Die Geschichte hatte vor vier Jahren begonnen. Damals hatte Teddy ein Mädchen kennengelernt, das er heiraten wollte. Sein Pech war nur, daß sie Fließbandarbeiterin in einer von Rodgers Fabriken war.

Henry Rodgers hatte kurzerhand nein gesagt. Als Teddy sich aufbäumte, hatte er ihm den Geldhahn zugedreht. Teddys Vater war tot und er war sein Vormund. Und es war undenkbar daß ein Rodgers eine gewöhnliche Arbeiterin heiratete.

Teddy machte kurzen Prozeß und ging arbeiten. Er war fest entschlossen, das Mädchen zu heiraten. Aber gegen den Willen eines Henry Rodgers anzukommen, war nicht so einfach.

Henry hatte das junge Mädchen zu sich bestellt. Da sie noch minderjährig war, zahlte er ihren Eltern einen Haufen Geld dafür, daß sie mit der Tochter verschwanden.

Doch das genügte Henry nicht. Anschließend setzte er das Mädchen unter Druck. Er drohte ihr, ihre Eltern zu vernichten, wenn sie Teddy nicht den Laufpaß gäbe.

Teddy hatte zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, was gespielt wurde. Aber als das Mädchen ihm den Laufpaß gab, griff er zur Whiskyflasche. Von da ab führte seine Bahn steil nach unten. Henry versuchte, sich mit ihm auszusöhnen, aber das gelang nicht. Daraufhin wandte der Alte schärfere Methoden an. Teddy wurde in eine Trinkerheilanstalt eingewiesen, brach aus und wurde wieder eingefangen. Systematisch wurde er von Henry Rodgers zerbrochen. Die Endstation war die Anstalt in Oregon.

Teddy lebte dort unter falschem Namen. Es war ein Zuchthaus, mit silbernen Bestecken. Die Macht Henry Rodgers hatte gesiegt.

Und dann kam der Tag, an dem Teddy ausbrach. Henry Rodgers hatte allen Grund, ihn zu fürchten. Nicht, daß er Angst hatte, Teddy könnte sich an ihm persönlich rächen. Aber Teddy konnte auspacken. Es gab eine Unmenge Klatschmagazine, die ihm für jedes Wort fünf Dollar und mehr zahlen würden.

Die Rodgers waren eine der alten, aristokratischen Familien des Landes. Sie waren Mitte des 19. Jahrhunderts aus Louisiana gekommen, damals schon als Millionäre. Henry Rodgers I und II hatten dem Bankkonto der Familie emsig Stelle um Stelle angefügt. Sie waren Aristokraten, aber nichts fürchteten sie so sehr wie den Klatsch.

Allein deshalb mußte Teddy wieder eingefangen und in die Anstalt gebracht werden. Außenseiter wurden nicht geduldet. Es war alles so einfach, wenn Teddy wieder festsaß. Und Henry Rodgers hatte die Unterstützung der Polizei. Teddy galt eben als gemeingefährlicher Irrer …

Das Läuten der Hausglocke riß ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich rasch um und lief durch die Halle.

Wird der Mann vom FBI sein, dachte er. Er wollte selbst aufmachen, da das Personal nicht merken sollte, daß die Polizei ihn bewachte.

Als er die Tür öffnete, stand ein junger Mann im hellen Trenchcoat draußen.

Henry Rodgers’ Augen weiteten sich in fassungslosem Entsetzen, und er öffnete den Mund, um zu schreien.

Im gleichen Augenblick blitzte die Klinge einen Rasiermessers auf. Der Schrei Henry Rodgers erstickte in einem dumpfen Gurgeln. Der massige Mann sackte zusammen und schlug dann auf den Boden.

Der junge Mann im Trenchcoat steckte das Messer ein und wandte sich um. Ohne Hast verschwand er im Dunkel der Bäume des Parks.

Fünf Minuten später traf der Bewacher des FBI ein. Er konnte nur noch den Tod des Textilkönigs feststellen.

Privatdetektiv Joe Barry - Der Teufel in der Stadt der Engel

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