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ОглавлениеKapitel 1
Wir leben mit der Angst
Alle Welt spricht von Liebe. Liebe ist Thema Nummer eins. Sie wird besungen in endlos vielen Liedern und beschrieben in unzähligen Büchern. Sie motiviert zu edlen Taten – und manchmal auch zu großen Dummheiten. Sie macht stark und schön und gehört wie die Sonne zu unserem Leben.
Aber im Schatten der Liebe gedeiht eine andere Pflanze. Sie hat sich ebenfalls über die ganze Welt ausgebreitet und wuchert bis in unsere Seelen hinein. Wenn sie überhand nimmt, kann sie die Empfindungen für das Schöne im Leben ersticken. Diese Wucherpflanze heißt Angst.
Angst als Schutz
Angst gehört wie die Liebe zu unserem Leben. Manchmal kann man ihr sogar eine gute Seite abgewinnen: Stellen wir uns vor, wir hätten nie Angst! Vielleicht würden wir überhaupt nicht mehr leben! Angst vor Gefahren macht vorsichtig und umsichtig. Wir spüren das Risiko und bleiben auf der sicheren Seite: Lieber bei Rot an der Ampel anhalten, auch wenn ich es eilig habe und gerade keiner da ist – aber vielleicht kommt doch noch ein anderer Raser?
Lieber nicht ungesichert auf ein Dach steigen. Lieber die Leiter nehmen, anstatt einen wackligen Stuhl oben auf einen noch wackligeren Tisch stellen. Lieber den Strom abstellen, ehe ich an der Steckdose hantiere. Lieber einen Bogen um den Hund machen, lieber …
So kann Angst unser Leben schützen. Wir verkleinern das Risiko auf einen Rest, den wir ertragen können oder müssen. Doch auch wenn ich vorsichtig bin und folgsam bei Rot an der Ampel stehen bleibe, kann jemand auf mich auffahren. Auch wenn ich meine regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen machen lasse, kann etwas in der Zwischenzeit krank werden.
Doch wenn das befürchtete Ereignis eintritt, muss ich mir wenigstens keine Vorwürfe machen, unverantwortlich gewesen zu sein. Die Angst hat mich beschützt, so gut es eben ging.
Angst schützt nicht nur das persönliche Leben, sondern auch die Moral, zumindest äußerlich. Viele Untaten werden nicht begangen, aus Angst, „erwischt“ zu werden – von den Kindern angefangen bis zu den Erwachsenen, vom einfachen Bürger bis zum hehren Volksvertreter im Parlament, frei nach Wilhelm Busch: „Moral sei nicht das Gute, das man tut, sondern das Böse, das man lässt.“
Angst durch Abschreckung sichert auch das Überleben von Staaten und verhindert, dass aus einem „kalten“ Krieg ein „heißer“ wird. Weil Angst also vorsichtig macht und Leben schützen kann, lehren wir schon kleine Kinder, Angst zu haben vor den Gefahren, und sagen: „Fass die Herdplatte nicht an! Sie könnte immer heiß sein und dann verbrennst du dich.“ Um noch nachdrücklicher zu sein, legt Mama oder Papa die Hand des Kindes auf die Herdplatte. Diese ist zwar nur gut warm, aber trotzdem zuckt die kleine Hand zurück. Das Erziehungsziel ist erreicht, die Angst ist programmiert – obwohl wir vielleicht später hoffen, unser Kind wäre auch mutig und nicht zu übervorsichtig.
Mit Recht sagen Eltern ihren Kindern „Steigt nicht in ein fremdes Auto! Öffnet keinem Fremden die Wohnungstür! Nehmt keine Süßigkeiten und keine Schokolade von jemandem, den ihr nicht kennt! Seid vorsichtig! Es könnten schlimme Menschen dabei sein, die euch weh tun wollen!“
So lehren wir Angst und hoffen, sie schützt das Kostbarste und zugleich Verwundbarste, was wir haben – unsere Kinder. Doch wir zahlen immer einen Preis, denn die einmal „gelernte“ Angst setzt sich tief in der Seele fest.
Der Preis der Angst
Der Schutz durch Angst fordert seinen Preis. Wir müssen dafür bezahlen, ja manchmal dafür büßen. Die einen müssen Waffen produzieren, bis ihnen die Puste ausgeht. Die anderen können nicht wahrhaft echt sein, weil sie ja nicht dürfen, was sie eigentlich wollen. Die Dritten trauen sich nichts mehr zu, weil sie Angst haben vor dem Urteil anderer.
Doch wahre Tugend und Moral ist nicht die Vermeidung von Strafe, sondern die gute Gesinnung und das Streben nach dem Guten von innen heraus. Der Preis ist auch körperlich und seelisch zu zahlen. Angst verkrampft, vertreibt den Schlaf. Das Essen schmeckt nicht. Dort, wo normalerweise der Magen sein soll, fühlt man einen „Knoten“ im Bauch. Die Verdauung streikt. Und auch die Seele bekommt die Angst zu spüren, sie trauert oder ist angespannt. Freude währt nur einen Augenblick, denn hinter dem Moment lauert das Ungewisse.
Um die Stimmen der Angst im Inneren zu übertönen, muss der Lärm von außen lauter werden. Um die Dunkelheit der Seele zu vertreiben, müssen die Lichter zucken und helle Blitze werfen. Um die Starre des Körpers zu überwinden, muss er durch den stampfenden Rhythmus angetrieben und umhergeworfen werden. Um der inneren Angstleere zu entgehen, müssen künstliche Traumbilder und esoterische Fluchtwelten entstehen.
Angst ist zum ständigen Begleiter geworden. Das ist der höchste Preis. Sie lässt sich nicht mehr abschütteln. Wir müssen mit ihr leben wie mit einem ständig wiederkehrenden Virus.
Wir zahlen für Medikamente und Therapeuten, für Kliniken und Rehabilitation, für die Industrie der Glücksmomente und Glücksdrogen. Und wir merken: Den eigentlichen Preis zahlt der Mensch selbst. Denn einmal „gelernte“ Angst ist nur schwer zu verlernen und hat die Tendenz, sich dauerhaft einzunisten.
Die persönliche Seite der Angst
Obwohl Angst ein universales Phänomen ist, hat sie auch eine persönliche Seite. Immer ist es der Einzelne, der Angst verspürt, selbst wenn eine Masse in Panik davonstürmt.
Wenn ich Angst verspüre, ist es meine Angst. Der andere kann sie vielleicht gar nicht verstehen. Ich z. B. habe keine Angst vor Spinnen. Es macht mir nichts aus, wenn eine dort lebt, wo ich auch lebe. Im Gegenteil, sie fangen Fliegen und Fliegen stören mich – im Gegensatz zu Spinnen –, wenn es nicht zu viele sind (weil meine Gäste sonst denken könnten, ich habe ein unordentliches Haus).
Aber ich kenne jemanden, der große Angst hat, wenn sich eine Spinne im Zimmer befindet, und wenn es nur ein harmloser, langbeiniger Weberknecht ist. Dann muss erst eine aufwändige Tötungsaktion erfolgen oder das Tier muss zumindest erfolgreich des Hauses verwiesen werden, ehe man beruhigt einschlafen kann.
Es ist nicht meine unrealistische Angst vor der Spinne, es ist die der anderen Person. Sie gehört zu ihr wie ihre Kleider und wie ihr Gesicht.
Und wie ist das mit der Angst vor dem „Raubtier“ Maus? Auch diese Angst ist unrealistisch. Es traut sich ohnehin keine Maus mehr in unsere sterilen und „mausunfreundlichen“ Wohnungen. Ich bin mir oft nicht sicher, wer vor wem mehr Angst hat. Dennoch ist die Vorstellung, einer Maus zu begegnen, für manche der reine Horror.
Selbst Hunde müssen nicht unbedingt Angst hervorrufen. Mein kleiner dreijähriger Enkel z. B. ignoriert Hunde völlig. Neulich bin ich mit ihm spazieren gegangen. Er fuhr auf dem Dreirad, völlig hingerissen von einer Wasserpfütze und den Spuren, die das Dreirad im Wasser hinterließ. Der Hund, der ohne Leine vor dem Spaziergänger trottete, schnüffelte mal kurz am Gesicht meines Enkels Joe – sie waren auf gleicher Augenhöhe –, aber der schnüffelnde Vierbeiner bekam nur einen kurzen Blick. Joes Interesse galt weiter der Pfütze und den Spuren. Der Hund verstand und ging weiter.
Ich hoffe, das Verhältnis meines Enkels zu Hunden bleibt so ungetrübt. Auch ich habe überhaupt keine Angst vor Hunden, sie müssen nur klein genug sein. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mit Schlangen, Krokodilen und Löwen auf keinem guten Fuß stehe. Und nachts allein im Dschungel oder selbst bei uns im Wald mit seinen Wildschweinen – nein danke!
Apropos nachts. Nächte haben ihre eigenen Angstmuster. Als ich ein Teenager war, hatte ich mal wieder meinen Bruder besucht und wollte mit dem letzten Zug nach Hause fahren. Es gab eine enge, unbeleuchtete Gasse zum Bahnhof. An diesem Abend war es stockdunkel. Auf der linken Seite befand sich ein Lattenzaun. Damit ich auf dem Weg bleiben konnte, streckte ich meinen linken Arm aus und fuhr beim langsamen Vorwärtstasten mit den Fingern den Lattenzaun ab. Rrrr – machten die Latten unter meinen Fingern.
Und plötzlich hatte ich etwas Weiches im Arm. Stoff! Eine Person! Wahrscheinlich ein Mensch! Vor Schreck brachte ich kein Wort heraus. Kein „Guten Abend“ oder „Was machen Sie denn da? Kennen wir uns?“ Es wäre ja vielleicht angebracht gewesen, etwas Witziges von sich zu geben oder wenigstens höflich zu grüßen. Nichts, nur Schreck, dann den Arm einziehen und schnell weiter. War es eine Frau gewesen, ein Mann, ein hübsches Mädchen vielleicht? Keine Ahnung. Auf jeden Fall war es irgendjemand gewesen. Dieser „Jemand“ hatte sich nicht bewegt, nichts gesagt. Bestimmt hat es Angst gehabt. Ich hoffe doch sehr!
Auf jeden Fall bin ich seitdem diesen Weg immer mit einem mulmigen Gefühl gegangen. Ich glaube, ich habe seit damals sogar immer gepfiffen – ein fröhliches Lied, motiviert von Angst und um sie zu vertreiben.
Meine Sehnsucht ist auch meine Angst
Unsere Persönlichkeit ist das, was wir im sozialen Kontakt „vor uns hertragen“. Der Begriff „Persona“, von dem unser Wort abgeleitet ist, beschrieb im lateinischen Theater die Maske oder Larve, die die Schauspieler vor ihr Gesicht hielten, um ihre Rolle zu spielen.
Wir begegnen einander als Personen in verschiedenen Situationen und sozialen Aufgaben. Ich z. B. bin Deutscher, ein Mann, mit einem bestimmten Alter. Ich bin verheiratet, bin Vater, Pastor der Adventgemeinde, seit längerer Zeit Dozent an der Hochschule. Ich bin Traupastor, Evangelist, Beerdigungsredner. Außerdem passionierter Radfahrer, zuweilen Autofahrer, hoffentlich kein Trittbrettfahrer.
Unsere verschiedenen Rollen, die wir zu „spielen“ haben auf unserer Lebensbühne, sind vielfach bestimmt von den Anforderungen von außen, aber auch von den inneren Kräften, die schon vielfach benannt worden sind. Die einen sprechen von Trieben, die anderen von Bedürfnissen, wieder andere von Motivationsstrukturen oder Reiz-Reaktionsmechanismen.
Ich selbst spreche in diesem Zusammenhang gern von Sehnsucht und Angst. Beides sind Kräfte, die ich an mir erlebe, und ich kann sie praktisch verstehen. Sie spielen zusammen, miteinander und gegeneinander. Und wenn ich in einer Beratungssituation mit Menschen über Sehnsucht und Angst spreche, brauchen sie nur in sich hineinzuhören, um ihre Stimmen zu vernehmen.
Die erste Kraft, der wir uns zuwenden wollen, ist deshalb die Sehnsucht.