Читать книгу Ein Schuss kommt selten allein - Johanna Hofer von Lobenstein, Aj Sherwood - Страница 8
KAPITEL 2
ОглавлениеAls Donovan auf dem Parkdeck hinter dem Gebäude mein Auto erblickte, kam die unvermeidliche Reaktion. Ich nannte es einfach Auto, aber in Wirklichkeit war es ein ehemaliger Militär-Humvee, von aller Elektronik befreit und mit einem EMP-Schutzschild um den Bordcomputer ausgestattet. Donovan fing an, über das ganze Gesicht zu strahlen wie ein Kind zu Weihnachten.
»Ich glaub’s nicht. Du hast nicht wirklich einen Humvee.«
»Okay«, erwiderte ich sarkastisch. »Dann hab ich wohl keinen.«
»Ich glaub’s nicht. Du hast wirklich und wahrhaftig einen Humvee«, gackerte Donovan. »Kann ich ihn mal fahren? Bitte lass mich fahren. Ich habe seit zwei Jahren nicht mehr in so einem Ding gesessen.«
Ich drückte ihm die Schlüssel in die Hand. Es war wirklich süß, wie begeistert er war. »Es wird dich freuen, dass Sitze und Aufhängung ausgetauscht wurden, er ist also sogar ganz bequem.«
Immer noch gackernd – ernsthaft, der Mann klang wie ein verrückt gewordener Hahn – stieg er in das dunkelgrüne Fahrzeug und schob als Erstes den Sitz nach hinten, damit seine Beine Platz hatten. Donovan war locker zehn Zentimeter größer als ich, und die saßen alle in den Beinen. Ich ließ ihn also ohne Kommentar machen und stieg auf der Beifahrerseite ein. Normalerweise saß ich am Steuer, damit mein Partner sich um Telefon, Papierkram und all solche spaßigen Dinge kümmern konnte. Aber heute mussten wir niemanden anrufen, es war also kein Problem, wenn Donovan fuhr.
Er schnallte sich an und fragte: »Wohin zuerst?«
»Zum Revier. Weißt du, wo das ist?« Ich setzte die dunklere Brille auf.
»Keine Sorge, ich kenne den Weg. Ich bin zwar nicht hier aufgewachsen, aber – ach so, das siehst du ja alles.«
»Nein, nein. Erzähl nur«, ermunterte ich ihn. »Es ist so: Ich sehe Emotionen und welche Art Erfahrungen jemand gemacht hat, und bis zu einem bestimmten Punkt auch die Auswirkungen auf den Körper, aber ich bin kein Telepath. Ich kann nicht alle Einzelheiten über eine Person lesen.«
Das nahm er mit einem Nicken zur Kenntnis, dann sprach er seinen Satz zu Ende. »Ich bin in den letzten drei Highschooljahren hier zur Schule gegangen, habe hier Autofahren gelernt, all so was. Die Straßen kenne ich also ganz gut, in der Innenstadt jedenfalls. Die Randbezirke sind neu für mich.«
»Nashville ist in den letzten Jahren förmlich explodiert. Heute ist es dreimal so groß wie früher, es gibt also bestimmt Gegenden, in denen du dich nicht so gut auskennst, denn die waren noch gar nicht da, als du das letzte Mal hier warst. Ich staune, dass du so schnell eine Wohnung gefunden hast.«
Donovan warf mir einen merkwürdigen Blick zu, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder nach vorn, um vom Parkdeck auf die Straße abzubiegen. »Du kannst sehen, dass ich eine neue Wohnung habe?«
Und da war es wieder. Genau das war der Grund, warum ich nie mit jemandem ausging. Ich vergaß ständig, was mir tatsächlich erzählt wurde und was ich einfach gesehen hatte. Persönliche Themen versuchte ich zu vermeiden, weil sie mich bei neun von zehn Malen in Schwierigkeiten brachten. Ich verzog also das Gesicht und sah aus dem Fenster. »Tut mir leid.«
»Ist schon okay«, versicherte mir Donovan. Er klang überhaupt nicht verärgert. »Ich muss mich nur erst daran gewöhnen, was du siehst und was nicht, das ist alles. Ja, ich habe eine neue Wohnung. Also, mehr oder weniger. Meine Großmutter ist letztes Jahr gestorben, und ich wohne jetzt in ihrem Haus. Ich bin dabei, es Stück für Stück zu renovieren. Wahrscheinlich werden wir es anschließend verkaufen, es ist nicht gerade für einen Kerl von meiner Statur gebaut, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.«
»Ja, kann ich.« Um vorsichtig das Terrain zu sondieren, fragte ich zögernd: »Hast du dir so diese spektakuläre Prellung am Knie zugezogen?«
»Es ist einfach nicht genug Platz zwischen der Wanne und dem Waschtisch«, klagte Donovan.
Ich musste mir auf die Unterlippe beißen, um nicht laut loszulachen – diese morgendliche Szene konnte ich mir lebhaft vorstellen. »Mein Beileid.«
»Ach, ist schon in Ordnung. Wenigstens habe ich ein Dach über dem Kopf, und die Klimaanlage funktioniert. Oh Mann, ich hatte ganz vergessen, wie es hier in Tennessee im Frühsommer ist.«
»Heiß, feucht und regnerisch. Du bist einfach die Luftfeuchtigkeit nicht mehr gewohnt nach all der Zeit in der Wüste. Ach, verdammt. Das sollte ich eigentlich auch nicht wissen.«
Donovan hielt an einer roten Ampel. Dann wandte er sich zu mir, legte mir die Hand auf die Schulter und sah mir direkt in die Augen. Was für wunderschöne Augen er hatte, ein helles Braun mit einem goldenen Ring um die Iris. »Bane. Entspann dich. Mir scheint, du bist es gewohnt, Stress zu bekommen, weil du so viel sehen kannst. Aber weißt du was? Ich habe in meinem Leben noch nie etwas getan, wofür ich mich schämen müsste. Ich bin also ein offenes Buch, okay?«
Seine Worte waren wie ein Freispruch, und ich atmete tief und erleichtert auf. »Danke.«
»Kein Problem.« Die Ampel sprang auf Grün, und er fuhr wieder an, was der Humvee mit einem leisen Grollen quittierte. »Erzähl mal, was ist das gleich für ein Job?«
»Leider ein Routinefall, so traurig es auch ist.« Ich sah aus dem Fenster und ratterte die Einzelheiten herunter. »Eine College-Studentin kommt für ein Sommersemester hierher, lässt sich mit einem verheirateten Politiker ein, die Affäre endet unschön, und sie beschließt, zurück nach Hause zu gehen. Sie packt zusammen, sagt allen Bescheid, dass sie wieder nach Kalifornien zieht, taucht dort aber nie auf. Bevor jemandem auffällt, dass sie nicht dort ist, wo sie eigentlich sein sollte, gehen fünf Tage ins Land.«
»Und wie kommst du da ins Spiel?«
»Die Psy ist gleich zu Beginn eingeschaltet worden. Die Polizei hatte nur die Vermisstenmeldung aufgenommen, aber die Eltern befürchteten, dass ihre Tochter tot war. Sie haben uns beauftragt, weil Carol mit den entsprechenden Hilfsmitteln Dinge und Menschen ausfindig machen kann. Sie hat uns zu einem Park gelotst, wo wir ein paar Stunden lang die Büsche durchkämmt und Marsha Brown schließlich tot am Flussufer aufgefunden haben. Nachdem wir die Leiche hatten, hat die Polizei die Sache als Mordfall eingestuft und angefangen zu ermitteln. Das Problem ist, dass der ehebrechende Politiker bestreitet, etwas mit ihrem Verschwinden und dem Mord zu tun zu haben, und die Polizei kann ihm bisher nichts nachweisen.«
»Und jetzt holen sie dich, um rauszufinden, ob er lügt.« Donovan trommelte gedankenverloren aufs Lenkrad. »Um was genau geht es dabei? Einfach sehen, ob sie den Richtigen in Verdacht haben?«
»Jepp. Das würdest du doch auch machen. Wieso sollte man Zeit und Manpower verschwenden, wenn man nicht wirklich sicher ist, dass er es war? Wieso sollte man nicht mich nutzen, um das zu klären? Ich bin zuverlässiger als jeder Lügendetektor. Sollte er schuldig sein, kann man danach Beweise suchen. Es ist günstiger für die Polizei und lukrativ für mich. Eine Win-win-Situation.«
»Hast du diesen fremdgehenden Mistkerl schon gesehen?«
»Noch nicht. Wir haben den Fall letzte Woche erst übernommen, und wie alles, bei dem Behörden involviert sind, dauert es etwas.« Ich studierte aus dem Augenwinkel seinen Gesichtsausdruck, aber es schien ihn nicht weiter zu beunruhigen, mit Mord, Leichen und betrügerischen Schweinehunden zu tun zu bekommen. Aber natürlich hatte er schon weit Schlimmeres erlebt. »Ich habe ein, nein, zwei Anliegen an dich, wenn wir gleich aufs Revier kommen. Die haben da diese ganzen elektronischen Schließanlagen, und sie werden sauer, wenn ich sie kaputt mache. Du müsstest mir also bitte die Türen aufhalten.«
»Na klar«, erwiderte Donovan einfach und bog rechts Richtung Innenstadt ab. »Was noch?«
»Wir haben ein System. Der Polizist, der das Verhör führt, hat einen Knopf im Ohr, sodass ich ihm von der anderen Seite des Verhörspiegels aus Hinweise geben kann. Normalerweise hält jemand das Walkie-Talkie für mich, oder wir kleben es irgendwo an. Von jetzt an ist das dein Job.«
Donovan nickte, während er an der letzten Ampel vor dem Parkplatz des Polizeireviers abbremste. »Was ist denn für dich ein sicherer Abstand?«
»Fünf Meilen«, scherzte ich und musste grinsen, als er die Augen verdrehte. »Nein, ganz im Ernst – am besten so weit wie möglich. Mindestens dreißig Zentimeter von mir weg, wenn das geht.«
»Dreißig Zentimeter?« Wir fuhren über die erste Rüttelschwelle, die im Humvee kaum zu spüren war, und Donovan lenkte den Wagen flüssig auf zwei Plätze am hinteren Ende des Parkplatzes. Dieses Monster war einfach zu groß für einen einzigen Parkplatz. »Ernsthaft, so elektrisch bist du?«
»Leider ja«, seufzte ich und kippte den Rest meines lauwarmen Kaffees hinunter. »Eine Sache solltest du noch wissen. Die Beamten hier sind uns wohlgesinnt, die meisten jedenfalls, aber ein paar Ausnahmen gibt es auch. Lass dich von denen nicht ärgern. Wir wurden von Detective Borrowman einbestellt. Er ist ein Freund von mir, also sollte es dieses Mal keine Probleme geben. Trotzdem. Wenn jemand anfängt, mich zu provozieren, sagst du am besten nichts dazu und guckst ihn einfach böse an.«
Donovan hielt inne, als er die Tür schon aufgestoßen hatte, das eine Bein noch in der Luft. Sein Blick war wieder so durchdringend, dass ich das Gefühl hatte, er könnte durch mich hindurchsehen. »Ich vermute, dazu gibt es eine Geschichte.«
»Ja, und es waren ruinierte Telefone, ein Laptop, das ich vielleicht, vielleicht auch nicht mit Absicht angefasst habe, und Vernachlässigung polizeilicher Dienstpflicht mit im Spiel«, erwiderte ich mit einer Grimasse. »Das kann ich dir später alles in Ruhe erzählen. Jetzt gehen wir erst mal rein. Oh, und bevor ich es vergesse – du bist offiziell Kriminalberater, und wenn jemand fragt, nennst du deinen Namen und sagst, dass du bei der Agentur arbeitest. Dann bekommst du keinen Stress.«
»Verstanden.«
Ich wurde das Gefühl nicht los, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Hoffentlich würde es mir wieder einfallen, bevor wir in Schwierigkeiten gerieten. Ich stieg aus, warf mir meine Ledertasche über die Schulter und ging vor durch die schmierige Hintertür der Polizeistation. Keine Ahnung, warum, aber dieses Revier sah für mich immer irgendwie dreckig aus. Ich wusste, dass hier regelmäßig sauber gemacht wurde, und man roch auch die Putzmittel, aber hier hatten fünfzig Jahre Schmutz ihre Spuren hinterlassen, und um den Laden wieder blitzblank zu bekommen, würde es mehr brauchen als eine Behandlung mit dem Wischmopp. Eine Bombe vielleicht.
Bei einer Beamtin, die allein an einem der hinteren Schreibtische saß, setzten wir unsere Unterschriften auf ein Klemmbrett und bekamen dafür Besucherpässe ausgehändigt. Es sah so aus, als ob Donovan sie etwas beunruhigte, aber sie stellte seine Anwesenheit als mein Begleiter nicht infrage und zog einfach eine Kopie von seinem Führerschein. Ich tauschte ein weiteres Mal meine Sonnenbrille, diesmal gegen eine hellere, mit der ich hier in den etwas dämmrigen Räumen besser sehen konnte. Wir befestigten die Besucherpässe an unseren Hemdkragen, und ich ging durch das Großraumbüro voraus zu Borrowmans Arbeitsplatz.
Da es keine Trennwände gab, sah er mich schon von Weitem, stand winkend auf und kam uns um den Schreibtisch herum entgegen. Ich scannte kurz seine Aura, um festzustellen, ob es Ärger geben würde, aber sie leuchtete gleichmäßig und klar, wenn auch mit leichten Verfärbungen der Frustration wegen des Falles. Violett blitzte seine Neugier auf, als er den Mann erblickte, der mir auf dem Fuß folgte.
»Bane. Sie sind ja früh dran, sehr schön. Und wen haben wir hier?«
»Das ist mein neuer Partner, Donovan Havili«, stellte ich mit großer Geste vor. »Donovan, Detective Harry Borrowman.«
»Ist ja toll«, platzte Borrowman heraus, die grauen Augen weit aufgerissen, als er zu Donovan aufsah. Der Detective war alles andere als klein, aber selbst er musste den Kopf heben, um Donovan in die Augen zu schauen. »Wow, das freut mich aber sehr. Wirklich, das meine ich ganz ernst. Ich hatte schon überlegt, selbst eine Anzeige aufzugeben, um einen Partner für Bane zu finden.«
Donovan wirkte ein wenig geschmeichelt ob dieser herzlichen Begrüßung und streckte die Hand aus. »Dann bin ich Ihnen ja zuvorgekommen.«
»Allerdings.« Borrowman schüttelte ihm offensichtlich erleichtert die Hand. »Passen Sie gut auf ihn auf, ja? Ich weiß, dass er manchmal anstrengend sein kann …«
»Hey!«, protestierte ich lächelnd, bevor ich das Aufziehen nickend hinnahm. »Kann sein, dass da etwas Wahres dran ist.«
Borrowman ignorierte mich komplett. »… aber er ist mein Freund und außerdem der Grund dafür, dass ich abends meist halbwegs pünktlich nach Hause gehen kann. Er macht meine Arbeit um einiges einfacher. Also, passen Sie auf, dass Sie ihn nirgends verlieren, und lassen Sie nicht zu, dass jemand noch mehr Löcher in ihn macht.«
»Ein Mal. Ein einziges Mal werde ich angeschossen, und kein Tag vergeht, an dem es mir nicht unter die Nase gerieben wird.«
»Weil Sie eins Ihrer Leben damit aufgebraucht haben«, gab Borrowman gereizt zurück, »obwohl Sie leider gar kein zweites haben. Blödmann.«
»Wie jetzt, als ob ich eine Katze wäre?«, brummte ich.
»Machen Sie sich um ihn keine Sorgen«, beruhigte Donovan den Detective mit einem kleinen Lächeln, das sogar das Herz eines grimmigen alten Mannes zum Schmelzen gebracht hätte. »Ich gebe gut auf ihn acht.«
»Sehr schön. Hat er Ihnen schon gesagt, worum es heute geht? Wunderbar, dann können wir ja anfangen.« Borrowman raunte uns halblaut zu: »Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass er unser Mann ist. Er hat zwar ein Motiv, na klar. Schließlich hatte seine Frau schon den Verdacht, dass er eine Affäre hatte, noch bevor Marsha Brown verschwunden ist. Aber er hat ein Alibi für die Tatzeit, kein hieb- und stichfestes, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass er es nicht gewesen ist. Was ich herausfinden muss, Bane, ist, ob er überhaupt darin verwickelt war oder nicht.«
»Beihilfe zum Mord, oder vielleicht hat er jemanden dafür bezahlt?« Ich rieb mir nachdenklich übers Kinn. »Dazu müsste ich ihn erst mal sehen, und selbst dann ist nicht sicher, was sich dabei wirklich zeigen wird. Wenn er schuldig erscheint, kann das auch Beihilfe, Betrug oder sonst was bedeuten.«
»Ich hatte schon befürchtet, dass Sie so etwas sagen würden. Wir nehmen ihn uns einfach mal vor.« Borrowman griff sich eine Akte vom Schreibtisch und reichte das Walkie-Talkie Donovan, während er sich den Knopf ins Ohr schob. »Raum 1. Kanal 3, Mr Havili.«
»Roger.« Donovan stellte mit routiniertem Griff den richtigen Kanal am Walkie-Talkie ein, dann hob er es an die Lippen. »Hören Sie mich?«
»Laut und deutlich«, bestätigte Borrowman, offensichtlich erfreut, dass er von allein darauf gekommen war, den Test zu machen. »Folgen Sie einfach Bane. Sie finden mich dann auf der anderen Seite des Spiegels.«
Die Verhörräume des Reviers waren im zweiten Stock, also gingen wir nach oben und bogen auf dem Treppenabsatz rechts ab. Borrowman trat in den Verhörraum, und wir schlüpften in den Nebenraum. Donovan ließ mich meinen Instruktionen gemäß nicht mal in die Nähe der Türklinke. Die Haustechniker würden ihn lieben.
Der Raum auf unserer Seite des Spiegels war bis auf ein Schaltpult mit Aufnahmegerät und zwei Stühle leer. Die Wände waren in einem zutiefst deprimierenden Grauton gestrichen. Außerdem roch es in diesem spärlich eingerichteten Raum stark nach Kaffee, was mir schmerzlich bewusst machte, dass ich keine volle Tasse mehr in der Hand hatte. Das alles ignorierte ich, verschränkte zur Sicherheit die Arme vor der Brust und sah mir dann die andere Seite näher an, wo der Stadtrat und sein Anwalt saßen.
Stadtrat Sinclair hatte eine so trübe Aura, dass ich wenig Lust verspürte, ihn näher kennenzulernen. So viele seiner Energiebahnen waren grau verschleiert von krankhaftem Ehrgeiz, Lügen und gescheiterten Beziehungen, dass sein gesamter Geist auf einen ungesunden, matten Glanz reduziert war. Der Rechtsanwalt neben ihm war ein ähnliches Kaliber, vielleicht geringfügig frischer. Immerhin betrog er seine Frau nicht. Aber das war auch schon der einzige Unterschied zwischen den beiden.
»Wow«, murmelte ich leise vor mich hin. »Eine Natter im Anzug. Ganz im Ernst, ich kann Politiker nicht ausstehen.«
Donovan ignorierte die einleitenden Floskeln von Borrowman, der sich gerade hinsetzte. »Und, ist er schuldig?«
»Auf jeden Fall. Aber nicht an dem Mord. Borrowman hat gut daran getan, mich anzurufen.« Ich deutete auf das Walkie-Talkie, und Donovan hielt es hoch. Der Sendekanal war offen. Ich sprach extra deutlich. »Borrowman, das ist nicht Ihr Mann. Er hat aber etwas anderes ausgefressen.«
Der Nachteil unseres Systems war, dass Borrowman nicht offenlegen durfte, dass ihm jemand etwas soufflierte, und somit auch keine Rückfragen stellen konnte. Aber ich hatte genug gesagt, um ihn in die richtige Richtung zu lenken. Jetzt beobachtete ich gespannt den Bereich genau unter dem Herzen des Politikers. Dort lag das dritte Chakra, das für Selbstbeherrschung, Zielstrebigkeit, Sehnsüchte, Wut und alles Mentale stand. Wer auch immer die Zuordnungen zu den Chakren vor Jahrtausenden festgelegt hatte, hatte wirklich gewusst, was er tat. Vielleicht war es auch ein Medium wie ich gewesen, denn die zugeordneten Qualitäten wurden für mich genau an der Stelle des dritten Chakras sichtbar.
Die Energiebahn, die in den Solarplexus hinein- und darum herumführte, bewegte sich schwach. Sie war dunkelgrau getönt, was bedeutete, dass er etwas getan hatte, worauf er nicht stolz war. Aber er bereute es auch nicht. Vermutlich war er noch nicht erwischt worden. Oder er dachte, dass er damit durchkommen würde. Männer wie er bereuten ihre Taten meist erst, wenn ihre Machenschaften aufgeflogen waren.
Die einleitenden Worte waren gewechselt, und Borrowman kam zur Sache. »Mr Sinclair, was wissen Sie über Marsha Brown?«
»Eine junge College-Studentin, die vergangene Woche verschwunden ist«, sagte Mr Sinclair aalglatt mit höflich-distanziertem Interesse. Er war der Typ Mann, den Menschen schnell ins Herz schlossen: weder besonders hässlich noch besonders gut aussehend. Er sah aus wie der Junge von nebenan.
»Sie meinen, die vergangene Woche umgebracht wurde«, verbesserte Borrowman betont höflich.
»Oh, ist das bereits erwiesen? Das wusste ich ja noch gar nicht. In den Nachrichten wurde das nicht so deutlich.«
»Beziehen Sie Ihre Informationen wirklich aus den Nachrichten? Ich muss sagen, Ihre Reaktion auf die ganze Sache ist etwas befremdlich, Mr Sinclair. Immerhin waren Sie vier Monate mit Ms Brown liiert. Nimmt es Sie denn gar nicht mit, dass sie tot ist?«
Bei dieser Frage begann der Rechtsanwalt unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen. Um seinen Klienten zur Vorsicht zu ermahnen, legte er stumm die Hand auf den Tisch.
Sinclair hielt den Kopf schief und zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. »Ach? Wie kommen Sie denn darauf, dass wir zusammen waren?«
»Sie hatte Fotos von Ihnen beiden auf ihrem Handy gespeichert, außerdem haben wir zahlreiche Textnachrichten und ihre Anrufliste gefunden«, antwortete Borrowman, nun etwas unwirsch. »Nun kommen Sie schon, Sinclair. Ich bin ziemlich sicher, dass Sie sie nicht umgebracht haben, und ich will es Ihnen auch gar nicht in die Schuhe schieben. Geben Sie einfach die Affäre zu, und helfen Sie mir dabei, zu rekonstruieren, wann sie genau verschwunden ist. Ich brauche Informationen – Fakten –, damit ich dieser Sache auf den Grund gehen kann.«
Sehr zögerlich musterte Sinclair den Detective, als sei er nicht sicher, ob er ihm glauben sollte. Dann wechselte er einen langen Blick mit dem Rechtsanwalt.
Wieder deutete ich auf das Walkie-Talkie, und Donovan hielt es für mich hoch. »Ich sehe drei Linien. Seine Ehe steht kurz vor dem Aus. Er war nicht glücklich darüber, dass Marsha sich von ihm getrennt hat, und hat immer noch Gefühle für sie. Aber er hat auch schon eine Neue, für die er noch mehr empfindet.«
Borrowman zuckte nicht mit der Wimper, als ich ihm das alles eröffnete. »Wir wissen, dass Sie schon eine neue Geliebte haben. Von der ahnt Ihre Frau wahrscheinlich noch nichts? Aber es spielt ja eigentlich auch keine große Rolle, denn Sie wollen sich sowieso scheiden lassen.«
Mr Rechtsanwalt ergriff zum ersten Mal das Wort. »Jetzt gehen Sie aber zu weit, Detective.«
Der Politiker schluckte und wurde ganz blass. »Wie … Woher wissen Sie …?«
»Weil ich Polizist bin und meinen Job gut mache«, bluffte Borrowman in leicht gelangweiltem Ton und lehnte sich mit den Unterarmen auf den Tisch. »Ihr Liebesleben ist mir auch völlig egal, Mr Sinclair. Ich will nur mehr über Marsha Brown erfahren. Wann haben Sie sich getrennt?«
Ein weiterer vielsagender Blick zwischen Sinclair und dem Anwalt, dann nickte der ältere Mann zustimmend.
»Vor zwei Wochen«, gab Sinclair schließlich mit einem Seufzer zu. Er ließ den Blick unruhig im Raum herumwandern und sah Borrowman nicht in die Augen. »Sie hat Schluss gemacht, weil ich mich geweigert habe, mich scheiden zu lassen. Aber ich habe meine Gründe dafür, bei meiner Frau zu bleiben.«
»Karrieregründe«, informierte ich Donovan, weil ich es mir nicht verkneifen konnte. »Die Frau ist so eng mit seinen Ehrgeiz- und Karrierebahnen verknüpft, dass ich sie kaum auseinanderhalten kann.«
Donovan pfiff leise durch die Zähne, während er Sinclair durch das Glas anstarrte. »Kein guter Grund, um verheiratet zu bleiben.«
»Sehe ich auch so.« Ich verstummte, um Borrowmans nächste Frage hören zu können.
»… hatten Sie Kontakt zu Ms Brown?«
»Nein. Obwohl, das stimmt nicht ganz. Einmal. Sie hatte etwas in meinem Auto vergessen, und meine Frau hätte es fast gefunden, also musste ich es verstecken und Marsha überreden, es abholen zu kommen. Sie war nicht gut auf mich zu sprechen, also ist sie nicht lange geblieben. Das war – äh, Samstag. Vorletzten Samstag. Wir haben uns nach dem Baseballspiel meines Sohnes kurz im Büro getroffen. Danach hatten wir keinen Kontakt mehr.«
»Um welche Uhrzeit war das?«, setzte Borrowman nach.
»Ich weiß es nicht genau. Davids Spiel war gegen drei zu Ende, der Weg zum Büro dauert zwanzig Minuten, also gegen halb vier vielleicht?«
Donovan drückte auf den Sprechknopf, und ich lächelte ihn kurz an. Er hatte schon gewusst, dass ich etwas sagen wollte – er hatte schnell gelernt, mich richtig einzuschätzen. »Stimmt, aber er verschweigt etwas. Fragen Sie nach.«
»Und Sie haben sie danach weder gesehen noch ihr Nachrichten geschrieben oder Ähnliches?«
»Nein.«
Irgendetwas stimmte nicht, der Meridian hüpfte und zuckte immer noch unruhig auf und ab. »Er lügt nicht direkt, aber er verheimlicht immer noch etwas.«
»Und jemand anders? Der Ms Brown kannte? Haben Sie mit jemandem gesprochen, der sie kannte, oder haben Sie über sie gesprochen?«
»Nein.«
»Gelogen«, flötete ich. »Glatt gelogen.«
Borrowman beugte sich vor, und in seinem Ton schwang jetzt eine leichte Drohung mit. »Mr Sinclair, Sie sind bisher bei der Wahrheit geblieben. Bitte fangen Sie jetzt nicht an, uns etwas vorzuenthalten. Mit wem haben Sie über Marsha Brown gesprochen?«
Jetzt begannen sich zum ersten Mal kleine Schweißperlen auf Sinclairs Stirn zu bilden. Er war viel zu routiniert, um eine Miene zu verziehen oder offensichtlich zappelig zu werden, aber innerlich wand er sich. »Niemand wusste von unserer Affäre. Mit wem hätte ich denn darüber sprechen sollen?«
»Und doch haben Sie es getan«, beharrte Borrowman. »Mit wem? Und warum?«
Schweigen.
»Mr Sinclair, Sie sind derzeit nicht tatverdächtig. Trotzdem kann ich jederzeit einen Durchsuchungsbefehl für Ihr Büro und Ihr Haus erwirken.«
»Detective«, knurrte der Anwalt. »Sie können meinen Klienten nicht so unter Druck setzen.«
Borrowman ignorierte ihn. »Das wollen Sie doch bestimmt vermeiden. Ihre Frau würde sicherlich wissen wollen, warum, und als ehrlicher Polizeibeamter müsste ich es auch sagen. Würden Sie also bitte meine Frage beantworten?«
Sinclair schloss die Augen und überlegte kurz, dann krächzte er: »Vor zwei Wochen hat meine Sekretärin das mit der Affäre herausbekommen. An dem Tag, als Marsha und ich uns getrennt haben. Sie hat gedroht, auszupacken, wenn ich sie nicht noch für die nächste Kampagne weiterbeschäftige. Dazu musste ich vertuschen, dass sie Spendengelder veruntreut hat, sonst wäre sie rausgeflogen.«
Aha, das erklärte die graue Linie. »Stimmt. Das ist sein einziges schmutziges Geheimnis, denke ich.«
»Danke, Mr Sinclair«, erwiderte Borrowman, der nahtlos zu seiner normalen Freundlichkeit zurückfand. »Eine letzte Frage noch, wenn ich darf. Haben Sie überhaupt den Verdacht gehabt, dass etwas faul ist, bevor Sie in den Nachrichten von Marshas Tod erfahren haben?«
»Nein. Ich wusste ja, dass sie nach Kalifornien zurückwollte. Ich habe mir nichts dabei gedacht, dass sie sich nicht mehr gemeldet hat.«
»Stimmt«, bekräftigte ich durch das Walkie-Talkie.
»Danke sehr. Bleiben Sie bitte in der Stadt, für den Fall, dass ich noch weitere Fragen an Sie habe. Das war es jedenfalls für heute.«
Donovan ließ das Walkie-Talkie sinken und schaltete es aus. Wieder sah er mich auf seine unverwandte Art und Weise an. »Das also ist dein Job.«
»Einer davon, ja«, bestätigte ich achselzuckend. »Lass uns die Abrechnungsbögen fertig machen und …«
Borrowman steckte den Kopf herein. »Bane, Mr Havili, gute Arbeit. Ich bin froh, dass es geklappt hat. Normalerweise gibt das Walkie-Talkie schon nach der Hälfte der Zeit den Geist auf, das macht mich immer wahnsinnig.«
»Das ist tatsächlich ein Problem.« Die vielen Verhöre, die man hatte unterbrechen müssen, weil ich dem Equipment zu nahe gekommen war, waren mir nur zu deutlich in Erinnerung. Wie ein Moderator bei einer Gameshow breitete ich die Arme aus: »Und jetzt haben wir eine Lösung gefunden!«
Borrowman applaudierte, und Donovan verbeugte sich erst vor ihm, dann vor mir. »Danke, danke.«
»Ich muss weiter, die Arbeit ruft«, sagte Borrowman. »Aber wir sollten mal Mittag essen gehen, damit ich den neuen Mann näher kennenlernen kann. Die Abrechnung mache ich fertig und schicke sie der Buchhaltung per E-Mail, Bane, keine Sorge.«
»Ah, sehr gut, danke Ihnen. Donovan und ich«, wandte ich mich lächelnd an meinen Partner, »machen uns dann auf den Weg.«