Читать книгу Ein Schuss kommt selten allein - Johanna Hofer von Lobenstein, Aj Sherwood - Страница 9
KAPITEL 3
ОглавлениеDie Stadt Nashville hatte nicht nur eine Strafanstalt, und im Laufe der Zeit hatte ich sie alle schon von innen gesehen. Aber wenn wir in der Agentur vom »Gefängnis« sprachen, ging es meist um das »Riverbend Maximum Security«, denn dort hatten wir am häufigsten zu tun. Es lag westlich von North Nashville, umgeben von grünen Wiesen und bewaldeten Hügeln. Zumindest das Umland war sehr malerisch. Die Gebäude waren in den Achtzigerjahren entstanden, auf dem Gelände des hundert Jahre alten Vorläufers, des »Tennessee State Penitentiary«. Der ganze Komplex war sehr … beige. Die Fassaden, die Dächer, die Schilder – alles hatte die gleiche Farbe, ein Schandfleck inmitten der grünen, sanft geschwungenen Hügel, auf denen das Gefängnis erbaut war.
Ich persönlich hatte sehr viel übrig für Farben. Dem entsprechend trug ich heute ein hellrosa Oberhemd, eine weiße Weste und dunkelblaue Jeans. Meine Kleidung war nicht allzu stereotyp, denn damit wäre der Ärger vorprogrammiert gewesen. Gleichzeitig hatte ich es satt, dass Schwulsein immer mit gepflegtem Aussehen assoziiert wurde. Aber ich war auch nicht bereit, in alten Jeans und löcherigem Hemd herumzulaufen, nur um »männlicher« zu wirken.
Donovan, der auch Jeans und ein Oberhemd anhatte, sah dagegen ohne jede Mühe total maskulin aus. Zugegeben, die Muskeln hatten auch etwas damit zu tun. Schon allein, wenn er sich bewegte oder einen Fuß vor den anderen setzte, betonte das seine Muskeln, obwohl seine Klamotten nicht besonders figurnah geschnitten waren. Donovan trug seine Männlichkeit so selbstverständlich wie Eau de Cologne. Tja, und ich? Mit meiner Schwimmerfigur war ich weder besonders dünn noch besonders muskulös, sondern einfach nur ich. Donovans Level von Männlichkeit würde ich in diesem Leben nicht mehr erreichen.
Nicht, dass viele Männer das geschafft hätten.
In Anwesenheit eines so eindeutigen Alphamännchens spürte ich meine Libido erwachen. Ich hatte eine Schwäche für Männer wie ihn. Dieses Selbstbewusstsein, die Selbstverständlichkeit, mit der solche Männer überlebensgroß ihren Platz in der Welt beanspruchten, sprach mich einfach an. Und ja, zugegeben, Donovan hatte einen schönen Körper, und ich war ja nicht blind.
Die Fahrt zur Strafanstalt zog sich etwas. Unser Büro lag in der Innenstadt, und der Straßenverkehr in Nashville wurde oft mit »eine Schildkröte, die sich im Schneesturm durch gefrorenen Zuckersirup arbeitet« beschrieben. Wir hatten also reichlich Zeit, zu plaudern, was mir entgegenkam, weil ich Donovan noch einiges erklären wollte.
Als wir so im zäh fließenden Verkehr saßen, bemerkte er: »Du hast sogar im Gebäude immer eine Sonnenbrille auf. Ich nehme mal an, das hat einen Grund?«
Wie sollte ich das am besten beantworten? Mit einem Seitenblick fragte ich also: »Was weißt du eigentlich über Leute wie mich?«
»Nicht besonders viel, jedenfalls nicht mehr als der Durchschnitt«, gab er zu. »Ich weiß, dass es verschiedene Arten von Medien gibt. Dass manche von euch einen Anker brauchen. Dass manche mit Hilfsmitteln arbeiten, andere nicht. Das war’s aber auch schon.«
»Das sollte reichen, um zu verstehen, was ich gleich erkläre. Dass ich keine Hilfsmittel benutze, hast du schon gesehen. Ich bin definitiv jemand, für den es besser wäre, wenn er einen Anker hätte. Aber ich habe keinen. Meine Fähigkeit, mich abzuschirmen, ist unter aller Kanone. Ich schaffe nie mehr als das absolute Minimum. Also ist das hier«, ich tippte an meine Sonnenbrille, »so etwas wie meine Abschirmung. Lebendige Energie anzusehen ist extrem anstrengend – für mich ist es so, als würde jeder Mensch, dem ich begegne, leuchten wie ein Neonschild. Stell dir einfach vor, du wärst ständig von Tausenden Leuchtreklamen umgeben.«
Donovan verzog das Gesicht. »Wie oft bekommst du denn Migräne?«
Ich tat, als würde ich applaudieren. »Du hast eine schnelle Auffassungsgabe. Ungefähr einmal pro Woche. Aber die dunklen Brillen helfen wirklich. Ich habe mir angewöhnt, mittags eine Pause zu machen. Dann sitze ich einfach in einem dunklen Raum, mache die Augen fest zu und meditiere. Das nimmt die Spitzen raus.«
Donovan legte die Stirn in besorgte Falten. »Das klingt aber gar nicht gut. Was kann ich tun, um dir zu helfen?«
Ich musste lächeln und wünschte mir nichts sehnlicher, als ihn gut genug zu kennen, um ihn einmal aus Leibeskräften umarmen zu können. Ich mochte diesen Kerl und wollte mich gerne mit ihm anfreunden.
»Sei einfach nur du selbst.«
»Bane«, knurrte er frustriert.
»Havili«, gab ich scherzhaft zurück.
»Nun sag schon. Es muss doch irgendetwas geben.«
»Leider nicht so recht …«, wenn er nicht mein Anker werden wollte, jedenfalls, »aber wenn ich mich mal zu sehr vollgedröhnt habe, dann bring mich so schnell wie möglich in den dunklen Abschirmraum bei der Psy. Schieb mich einfach da rein, gib mir eine große Flasche Wasser mit, und lass mich ein paar Stunden in Ruhe. So komme ich am schnellsten wieder zu mir.«
Die Antwort besänftigte ihn anscheinend nur wenig. »Gut zu wissen.«
Vielleicht wurde ihm in der prallen Sonne langsam zu heiß – auf jeden Fall rollte er die Ärmel bis zum Ellbogen hoch. Ich legte es wirklich nicht darauf an, seine Arme anzustarren. Die Narben hatte ich schließlich auch durch die Kleidung mehr oder weniger deutlich gesehen, und sie gaben mir mehr Rätsel auf als Antworten. »Ähm. Warum hast du eigentlich deine Narben eingefärbt, wenn ich fragen darf?«
Er warf mir einen scharfen Blick zu. »Du schaust durch den Filzstift durch, nehme ich an.« Er hob die Hand, auf der die weißen Linien, breit und aufgeworfen, kreuz und quer über seine dunkle Haut liefen.
»Ja, ziemlich deutlich. Entschuldige, du musst nicht antworten, nur weil ich neugierig bin.«
Er winkte ab, als wäre es schon in Ordnung, dann antwortete er, teils amüsiert, teils resigniert: »Ich gebe ehrenamtlich einen Kurs im Gemeindezentrum. Boxen für Kinder. Ein paar von den Kids wussten, dass ich wegen dem Vorstellungsgespräch ein bisschen nervös war, hauptsächlich wegen der Narben. Sie wollten sie weniger gruselig machen. Also haben sie Filzstifte genommen und Flammen draufgemalt, wie auf ein aufgemotztes Auto. Tja, und leider waren das Permanentmarker.«
So viel Kinderlogik brachte mich zum Lachen. »Und du hast es vor dem Gespräch nicht mehr abgekriegt!«
»Ich hab’s wirklich versucht«, klagte er, »und das hat mich bestimmt drei Hautschichten gekostet. Wenn ich ihnen jetzt erzähle, dass ich den Job bekommen habe, denken sie natürlich, dass ich es ihren Malkünsten zu verdanken habe.«
»Aber das war ja auch so«, stimmte ich zu, ohne eine Miene zu verziehen.
Er verdrehte die Augen, keine Ahnung, wieso.
Wir stellten das Auto auf dem Besucherparkplatz ab, und ich schloss sorgfältig hinter uns ab. Hier kam es zwar so gut wie nie vor, dass Insassen ausbrachen, aber es war besser, kein Risiko einzugehen. Auf dem Weg ins Gebäude erklärte ich Donovan die Lage.
»Da drinnen musst du vorsichtig sein. Hier sitzen eigentlich nur die Häftlinge mit Todesurteil und die wirklich gefährlichen männlichen Kriminellen. Es gibt zwar auch Bewährungsprogramme, aber alles in allem wirst du da drin keine netten Leute finden.«
Er sah mich scharf von der Seite an. »Und wie hart ist das für dich?«
Oha, er war wirklich schnell. »Na ja … es ist nicht gerade angenehm, sagen wir’s mal so. Aber du musst keine Angst haben, dass ich da drin in Ohnmacht falle oder so. Denk einfach daran, dass du dich zwischen mich und elektronische Geräte stellen musst. Ich will ja nicht versehentlich jemandem zum Ausbruch verhelfen.«
»Roger.« Er hatte schon die Hand an der Türklinke des Besuchereingangs, als er innehielt und nachdenklich fragte: »Sag mal, wie viele von denen sitzen eigentlich wegen dir hier drin?«
Dieser Mann stellte wirklich genau die richtigen Fragen. Ich antwortete ehrlich: »Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen.«
Mit einem leisen »Puh« nickte er grimmig, hielt dann die Tür auf und bugsierte mich hinein.
Auch in der Besucher-Lounge fand sich die beige Farbpalette wieder. Hellbeige Fliesen, die schon bessere Tage gesehen hatten, dunkelbeige gestrichene Wände, weiße Pressspan-Tresen. Ich blieb am Empfang stehen und begrüßte die Frau dahinter mit einem Lächeln. »Hey, Ellen.«
»Oh, Jon, hi!« Ellen war Mutter dreier Kinder und hatte ein so strahlendes Lächeln, dass alle Besucher sich automatisch willkommen fühlten. Im Verlauf der vielen, vielen Besuche, die ich hier bereits gemacht hatte, hatten wir uns näher kennengelernt. Einmal hatte ich versehentlich ihren Taschenrechner geschrottet und ihr als Entschuldigung eine Schachtel Pralinen geschickt. Seither waren wir Freunde. »Wen haben Sie da mitgebracht?«
»Meinen neuen Kollegen, Donovan Havili«, stellte ich vor. »Donovan, das ist Ellen Masters, Wächterin der Pforte.«
»Unter anderem«, antwortete sie mit einem Lächeln, in dem leichte Beklommenheit mitschwang, als sie Donovan in die Augen sah. »Äh, nett, Sie kennenzulernen.«
»Ebenfalls«, erwiderte Donovan mit höflichem Lächeln, das mehr als gezwungen wirkte.
Ich registrierte Ellens Miene und ihre Emotionen und stöhnte innerlich auf. Genau wie meine Kollegen hatte sie auf Vorsicht geschaltet. Warum mussten die Leute sich so sehr vom Äußeren beeinflussen lassen? In Donovans Fall lagen sie damit mehr als falsch. Wenn sie ihn nur so sehen könnten wie ich, dann wüssten sie ganz genau, dass sie von diesem Mann nichts zu befürchten hatten.
»Donovan war früher bei der Militärpolizei«, sagte ich in dem Versuch, ihre Befürchtungen zu zerstreuen. »Wir sind also sehr froh, ihn zu haben. Ich zeige ihm heute das Nötigste, und er ist so nett, sich um die Elektronik zu kümmern, sodass ich nichts kaputt machen kann.«
Ellen blinzelte hinter den Brillengläsern. Dann sah sie ihn sich noch mal an, dieses Mal weniger eingeschüchtert. »Oh. Ja, das ist gut. Es ist immer praktisch, wenn Sie jemanden dabeihaben. Ich gebe Ihnen mal die Besucherpässe. Bei wem sind Sie denn heute?«
»Bei Kurt.«
»Dieser Kerl«, schimpfte sie, während sie nach dem Körbchen mit Besucherausweisen griff. »Ich schwöre, er würde sogar vergessen, es mir zu sagen, wenn er seinen eigenen Kopf verlegt hätte. Er ist so was von unorganisiert. Hier, die sind für Sie. Ich piepse ihn mal an.«
Folgsam klemmte ich mir den Pass an den Hemdkragen, während ich nur mit halbem Ohr zuhörte, als sie uns anmeldete. Währenddessen beugte sich Donovan zu mir herunter und raunte mir zu: »Um wen geht es heute eigentlich?«
Da fiel mir wieder ein, was ich vergessen hatte, und ich antwortete mit einem entschuldigenden Blick: »Ach ja, wir sind vorhin vom Thema abgekommen. Wir sind hier, weil einer der Insassen unter Umständen in einen weiteren Fall verwickelt ist, in dem gerade ermittelt wird. Goddard ist ein Pädophiler, der vor zwei Jahren wegen dreier sexueller Übergriffe verurteilt wurde. Er ist eindeutig überführt und kommt hier so schnell auch nicht wieder raus. Aber jetzt hat Kurt Hinweise darauf, dass er vielleicht auch einem vierten Jungen etwas getan hat. Wir sind hier, um herauszufinden, ob er es wirklich war oder ob da draußen noch ein Perversling rumläuft, der Kinder überfällt und der gefasst werden muss.«
»Verstehe. Wirst du öfter deswegen hierherbestellt? Um zu prüfen, ob Insassen noch mehr auf dem Kerbholz haben?«
»Entweder das, oder ich helfe dabei, nachzuvollziehen, wo die Leichen begraben sind.« Seufzend blickte mich um und fühlte mich auf einmal viel älter als meine 25 Jahre. »Die Besuche hier sind nie schön für mich.«
Die Gittertür öffnete sich mit einem Summton, und Kurt trat ein. Er war ein ehemaliger Polizist, der im Dienst verletzt worden war und seither Schreibtischdienst machen musste. Aus ihm hätte ein guter Kriminalbeamter werden können, aber diese Möglichkeit war ihm wegen des kaputten Knies verwehrt. Heute fungierte er als Verbindungsmann zwischen den Revieren und dem Gefängnis und unterstützte die Kriminalpolizei bei der Aufklärung von Fällen wie diesem. Ein strahlendes Lächeln glitt über sein faltiges Gesicht, wobei man seine nikotinverfärbten Zähne sehen konnte. »Grüße Sie, Jon. Haben Sie einen Freund mitgebracht?«
»Donovan Havili, unser neuer Kriminalberater bei der Psy«, stellte ich vor. »Donovan, das ist Kurt Bowen.«
Zumindest Kurt schien sich von Donovans Aussehen nicht zu einer vorschnellen Meinung über ihn verleiten zu lassen und streckte ihm die Hand entgegen. »Wilkommen im Irrenhaus, Mr Havili.«
»Danke«, gab Donovan zurück und schüttelte ihm die Hand.
»Er ist heute meine persönliche Elektronikbarriere«, scherzte ich. »Ich will Ihr Telefon nicht schon wieder zerstören.«
»Gott sei Dank. Also gut, kommen Sie rein. Sie haben Ihren Kollegen schon eingewiesen? Gut, gut. Goddard wartet in einem Besucherraum. Ich habe ihn noch nicht befragt. Mr Havili, wenn wir gleich reingehen, achten Sie bitte darauf, dass Jon die Tür nicht anfasst. Alles andere sollte kein Problem sein, es sind keine elektronischen Geräte außer der Schließanlage im Raum.«
Donovan nickte. »Das kriege ich hin.«
Wir folgten Kurt durch den schmalen Gang, den zu beiden Seiten Metalltüren säumten. An manchen blätterte die Farbe ab. Ich hielt mich in der Mitte, um nichts anzufassen, überwiegend aus Gewohnheit. Überwiegend.
Auf halber Höhe schloss Kurt mit seiner Karte eine Tür auf und ging hindurch. Ich wich aus, damit Donovan die Tür aufhalten konnte, was er auch prompt tat. Dann stellte er sich vor das Schloss, sodass ich es nicht versehentlich berühren konnte. Zu meiner großen Beruhigung wuchs er schnell in seine Rolle hinein. Ich trat in den kargen Raum.
Das Gefängnis war Goddard nicht gut bekommen. Das hatte ich auch nicht anders erwartet, denn mit Pädophilen hatten selbst Kriminelle kein Erbarmen. Eigentlich fand ich es erstaunlich, dass Goddard nach zwei Jahren immer noch am Leben war. Seine Aura war normalerweise dunkel und verdreht. Jetzt hatte sie eine zusätzliche Schicht tintiger Sättigung, die es noch abstoßender machte, ihn anzusehen. Er saß da wie ein in die Enge getriebenes Tier, zusammengekauert, die Augen eingesunken und die Lippen, die er ständig wie unter Zwang befeuchtete, blutig und aufgesprungen. Als er Donovan erblickte, sank er noch mehr in sich zusammen, als hätte er Angst, dass der Böse Mann nun gekommen sei, um ihn zu holen.
Dann fiel sein Blick auf mich, und er fletschte die Zähne. »Jonathan Bane.«
»Tag, Goddard«, erwiderte ich ruhig. Goddard hatte nicht besonders viel für mich übrig. Bevor ich auf den Plan getreten war, hatte die Polizei einen anderen Verdächtigen gehabt. Auf Goddard waren sie erst durch mich aufmerksam geworden. Dafür hasste er mich immer noch. »Kurt hat eine Frage an Sie.«
»Und da bringt er natürlich seinen Lieblings-Zirkusaffen mit«, höhnte Goddard, dann zuckte er zurück und zog wieder den Kopf ein.
Ich fragte mich, wieso, bis ich eine warme Hitzelinie an meinem Rücken spürte. Donovan berührte mich nicht, stand aber so dicht hinter mir, dass ich jeden Atemzug spüren konnte. Er war wie eine lebende Waffe, bereit, schon bei der kleinsten Provokation loszugehen. Ich musste ihn noch nicht mal ansehen, um zu merken, wie sein Beschützerinstinkt einrastete. Ich fand das unglaublich beruhigend. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so sicher gefühlt wie in diesem Augenblick. Eigentlich war das komplett absurd, schließlich kannte ich diesen Mann erst knappe sechs Stunden. Und trotzdem hatte ich nicht den leisesten Zweifel daran, dass er Goddard schnell und gnadenlos bezwingen würde, sollte er mich angreifen.
Es fühlte sich großartig an.
Bei Donovans Miene schien selbst Kurt leicht nervös zu werden, offenbar machte er ein ganz schön böses Gesicht. Aber Kurt schüttelte die Beklemmung ab und setzte sich Goddard gegenüber an den Tisch.
»Wir haben eine einfache Frage an Sie. Wenn Sie sie beantwortet haben, können Sie wieder in die Bibliothek zurück. Haben Sie Jesse Thorpe ebenfalls sexuell genötigt?«
Goddard starrte mich verstockt an.
Den Blick kannte ich gut. Emotionen waren nie ganz exakt zu lesen und zuzuordnen. Sie waren nicht mit Etiketten versehen, und ich konnte nicht immer ihre Ursache erkennen. Aber diese Reaktion war nicht ungewöhnlich. Kriminelle, denen klar war, was ich tat, schauten mich ständig so an. Sie wussten, dass Lügen sinnlos war, also zogen sie es vor, zu schweigen. Was sie natürlich nicht wussten, war, dass ich keine Gedanken lesen konnte. Ich sah zwar, dass Goddard solche Verbrechen begangen hatte, doch wie viele Opfer es gab, konnte ich nicht feststellen. Aber da ich den Verbrechern nicht genau erläuterte, worin meine Gabe bestand, konnte ich ein bisschen tricksen.
»Ja, hat er.«
Fauchend wie die verdorbene Kreatur, die er war, warf Goddard sich zurück und zerrte an den Fesseln, die an seinen Handgelenken klirrten. »Dreckiges Arschloch! Als ob ich nicht schon für die nächsten sechzig Jahre hier drin verrotten müsste. Was interessiert es dich, ob ich ein Kind mehr oder weniger hatte?«
»Weil Sie dann noch weitere zwanzig Jahre bekommen, deswegen«, zischte Kurt zurück. Er sah zornig und resiginiert zugleich aus, als er wieder aufstand. »Tja, dann wäre das ja geklärt.«
Ein Teil von mir wünschte, die Antwort wäre Nein gewesen – der Teil, der sich wünschte, dass dem Kind nichts zugestoßen wäre. Andererseits war ich auch froh, dass Goddard der Täter war, einfach weil der Mann ja schon hinter Schloss und Riegel saß und somit nie wieder einem Kind etwas antun würde. Kopfschüttelnd wandte ich mich um, vorsichtig, um Donovan nicht anzurempeln, der sich mitdrehte und mir den Weg zur Tür frei machte.
Noch bevor ich sie erreicht hatte, hörte ich die Handschellen klirren, sah den erschrockenen Blick von Kurt und wusste instinktiv, dass Goddard sich gleich auf mich stürzen würde. Ich zuckte zurück, panisch darauf bedacht, mich zu schützen, kam aber noch nicht mal halb zur Tür hinaus.
Donovan war wie ein Schatten, um einiges schneller, als man es einem Mann seiner Größe zugetraut hätte. Er packte Goddard, riss ihn herum wie eine Marionette und hatte ihn im Sekundenbruchteil auf den Tisch geknallt, die Arme ausgestreckt, den Kopf zurückgerissen. Goddard verdrehte flehentlich die Augen, aber er brachte nicht mehr als ein Krächzen heraus.
Wie versteinert starrte ich die beiden an. Wahnsinn. Ich hatte Donovan noch nicht mal gehört. Wie er da stand, völlig unaufgeregt, und Goddard festhielt, als wäre er ein kleiner Floh, nichts weiter als eine lästige Unannehmlichkeit, um die man sich kümmern musste, ohne sich groß den Kopf zu zerbrechen.
Es war unglaublich sexy.
Ich fand meine Stimme wieder und brachte ein »Danke« heraus.
Donovan zwinkerte mir zu. »Soll ich ihn irgendwo hinbringen, Mr Bowen?«
»Wenn Sie ihn einfach noch kurz festhalten würden? Ich rufe schnell zwei Wachleute, dann kommt er in Einzelhaft.« Kurt zog das Walkie-Talkie vom Gürtel, bellte ein paar Anweisungen hinein und klemmte es sich dann wieder an den Hosenbund. Prüfend schaute er Donovan an. »Sagen Sie mal, Mr Havili, Sie können sich nicht zufällig vorstellen, Jons Anker zu werden?«
Ich hob protestierend die Hände. »Moment, Moment, was soll der arme Mann denn von uns denken? Meine Güte, Sie und Jim sind wirklich schlimm.«
Mit einem Seitenblick bemerkte Kurt trocken: »Tja, woran das wohl liegen mag?«
Zum Glück kamen gerade die Wachleute, die Goddard am Kragen packten und wegbrachten, also blieb es mir erspart, die beiden noch weiter vom Thema abzulenken. Goddard versuchte schlauerweise nicht noch einmal, mich anzugreifen. Eigentlich schade, ich hätte gerne gesehen, wie Donovan ihn noch mal überwältigte.
Nur weil ich tunlichst die Finger von Verabredungen aller Art ließ, war ich ja nicht scheintot. Es war einfach total scharf, Donovan Havili in Aktion zu erleben.
»Na, das war ja spannender, als ich erwartet hatte.« Kurt blickte mich zerknirscht an. »Beim nächsten Mal sorge ich für bessere Fesseln. Ich dachte, Handschellen würden reichen. Ganz schön dumm von mir.«
»Das wäre gut«, stimmte ich ihm zu, denn ich konnte nicht unbedingt davon ausgehen, dass Donovan dann noch da sein würde. Ich hatte inzwischen gelernt, keine allzu großen Hoffnungen zu haben, was das Durchhaltevermögen anderer Menschen betraf. »Es kommt noch so weit, dass ich Gefahrenzulage berechnen muss.«
»Haha, sehr witzig«, entgegnete Kurt. »Okay, ich muss das hier noch zusammenschreiben und dem Direktor melden. Der Abrechnungsbogen geht per E-Mail an Marcy, wie gehabt.«
»Danke. Wir machen uns dann auf die Socken.« Ich wartete, dass Donovan mir die Tür aufhielt, und war froh, als wir endlich draußen waren. Mein Herz klopfte immer noch wie wild.
Donovan war verdächtig still, während wir unsere Besucherausweise abgaben, uns von Ellen verabschiedeten und nach draußen gingen. Er machte den Mund erst wieder auf, als wir angeschnallt im Auto saßen.
»Bane.« Er starrte geradeaus über die Felder.
»Ja?« Ich machte mich auf alles gefasst, denn ich hatte keine Ahnung, was jetzt kommen würde.
»Hand aufs Herz. Und bitte eine ehrliche Antwort. Wie oft pro Woche passiert es, dass du tätlich angegriffen wirst?«
»Ich habe nicht wirklich einen Wochendurchschnitt«, wich ich aus.
»Dann eben pro Monat«, setzte er nach.
Ich seufzte, innerlich schon halb resigniert. Donovan mochte fünfzehn Jahre bei der Army gewesen sein, immun gegen Gewalt war er deswegen noch lange nicht. Sicher wünschte er sich nach allem, was er gesehen und erlebt hatte, ein friedlicheres Leben. Meine Antwort würde ihn nicht davon überzeugen, zu bleiben.
»Zwei-, dreimal pro Monat geht irgendjemand auf mich los. Meistens werden sie aufgehalten, entweder von mir selber oder von einem Polizeibeamten vor Ort.«
»Verstehe«, sagte er nur. Dann flammte die Beschützerlinie in seinen Meridianen heiß und wild auf, intensiver, als ich es bisher gesehen hatte.
Ich starrte darauf und traute meinen Augen kaum. Er hatte erfahren, dass ich mehr oder weniger regelmäßig in Lebensgefahr geriet, und das schreckte ihn nicht ab? Stattdessen verspürte er das Bedürfnis, mich zu beschützen? Entweder hatte er einen extrem schwachen Überlebensinstinkt oder einen gewaltigen Beschützerinstinkt, das konnte ich noch nicht ganz ausmachen.
Er spürte meinen Blick, wandte sich mir zu und schaute mich unverwandt an. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich, ich wäre Telepath, denn ich hätte zu gerne gewusst, was gerade in seinem Kopf vorging. Seine Energiebahnen veränderten sich nicht, also hatte ich keine weiteren Hinweise. »Kannst du sehen, dass mir dieser Gedanke ganz und gar nicht gefällt?«
»Ich kann sehen, dass dein Beschützerinstinkt sehr ausgeprägt ist«, korrigierte ich ihn heiser.
Er kniff die goldbraunen Augen zusammen. »Und das wundert dich.«
»Die meisten Leute würden an deiner Stelle das Weite suchen.« Ich verbiss mir sorgfältig die Worte Niemand entscheidet sich je dafür, bei mir zu bleiben. »Ich meine, ich kann das total verstehen. Ich mache niemandem einen Vorwurf. Der Job ist ziemlich crazy.«
Sein Ausdruck blieb rätselhaft, er schaute mich einfach weiter an. Schließlich sagte er: »Ich passe auf dich auf.«
Diese einfache Aussage wurde von einem Strom unglaublich intensiver Emotionen begleitet – Loyalität, Respekt, dem Wunsch, mich zu beschützen. Ich schluckte. Selbst wenn ich keine Gedanken lesen konnte, war es offensichtlich, was er fühlte. Wenn er mich ansah, sah er jemanden, der es wert war, beschützt zu werden. Und das von ihm, diesem sanften Riesen von einem Mann. Das war unglaublich. Es passierte wirklich nicht oft, dass jemand mich so sah. Ich wurde rot und musste den Blick abwenden, um nicht von meinen Gefühlen überwältigt zu werden. »Danke. Na komm, lass uns in die Agentur zurückfahren und uns abmelden. Das war erst mal genug Abenteuer für einen Tag, würde ich sagen.«