Читать книгу Und da oben sind wir glücklich - Johanna Koers - Страница 6

Ein Zettel zum Abschied

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„Wozu brauchst du Zeit bis morgen früh? Was willst du so Wichtiges erledigen? Du hast keine Zeit, Ellie!“ Juli saß neben ihrer Schwester im Auto. Sie standen vor einer roten Ampel kurz vor dem Haus ihrer Eltern. Die ganze Fahrt hatten sie nicht geredet. Juli wusste, dass sie für ihre Schwester stark sein musste, aber der Kloß in ihrem Hals war zu groß. Sie hatte ihre Tränen nicht zurückhalten können. Ihre Schwester war krank. Genau wie ihre kleinste Schwester es gewesen war. Genau wie ihre Tante. „Du hättest alles von dort aus regeln können. Oder ich hätte es erledigt. Die Uni, das Gespräch mit Mama und Papa. Alles.“


„Es geht nicht um sie.“ Ellie konnte nicht weinen. Vielleicht war sie zu geschockt. Vielleicht hatte sie es auch einfach innerlich längst gewusst.


„Ich hätte Alex zu dir gebracht. Du hättest im Krankenhaus mit ihm reden können.“


„Alex wird es nicht erfahren!“


„Ellie, wie soll das gehen? Wie willst du ihm DAS verheimlichen?“


„Ich werde ihn verlassen. DAS ist es, was ich erledigen muss.“ Ellies Stimme war ganz ruhig. Ganz bedacht. Sie sah ihre Schwester nicht an. Ihr Blick ging geradeaus ins Leere.


„Bitte?!“ Juli war durch die Worte so irritiert, dass sie erst durch das hupende Auto hinter ihr die nun grüne Ampel bemerkte. Sie fuhr los, bog in die nächste Kreuzung und hielt am Straßenrand. Sie drehte sich zur Beifahrerseite und betrachtete ihre Schwester: „Wieso willst du das tun? Er liebt dich. Und du liebst ihn.“


„Genau deshalb.“ Ellie wandte sich ihr zu. „Ich liebe ihn. Mehr als alles andere. Alex ist der wichtigste Mensch in meinem Leben.“


„Warum willst du ihn dann verlassen?“ Juli konnte ihre Schwester nicht verstehen.


„Weil ich will, dass er glücklich ist. Du weißt genauso gut wie ich, wo das hier hinführt. Wir wissen, was der Tumor mit mir machen wird. Er wird mich zerstören. Genau wie er es bei Stella getan hat und bei Caterina. Ich möchte nicht, dass er das miterleben muss. Ich will nicht, dass er hilflos zusehen muss, wie mein Körper und mein Geist immer weiter zerfallen, bis von mir nichts mehr übrig bleibt.“


„Ellie, …“ Juli wusste nicht, was sie sagen sollte.


„Alex und ich lieben es, zu reisen, zu klettern, wir sind immer aktiv, immer unterwegs. Dieses Leben ist es, wofür wir brennen. Doch genau dieses Leben ist für mich vorbei. Dieses Leben kann ich nicht mehr leben. Und ich will ihm das Seinige nicht nehmen.“


„Du weißt, dass er dich nie verlassen würde. Er würde jeden Schritt mit dir gehen.“


„Das weiß ich. Und deshalb werde ich es ihm nicht sagen. Ich gebe ihn frei.“


„Ich finde, dass er die Möglichkeit haben sollte, selbst zu wählen.“


„Du weißt genau wie ich, dass er sich nie gegen mich entscheiden würde. Natürlich würde er das nicht. Alex hat keine Ahnung, was diese Diagnose bedeutet. Er hat keinen Schimmer, was aus mir werden wird.“


„Ich finde das nicht gut.“


„Das musst du nicht. Du musst es nur akzeptieren.“


„Wie soll das gehen? Wie willst du einfach aus seinem Leben verschwinden?“


„Ich werde einen Weg finden. Wichtig ist, dass die Menschen schweigen, die es wissen. DU wirst es ihm nicht sagen!“


„Ellie, ich …“ Juli konnte die Ausführungen ihrer kleinen Schwester zwar im Ansatz verstehen, empfand ihre Entscheidung aber nach wie vor als falsch.


„Willst du einer todkranken Frau einen Wunsch ausschlagen?“ Ellie sah ihre Schwester an. Ein leicht provokantes Funkeln lag, trotz der schrecklichen Situation, in ihren eigentlich leeren Augen.


„Das ist nicht dein Ernst.“ Juli schüttelte den Kopf. Vor sechs Jahren hatte Stella ihre Schwestern mit diesen Worten immer dazu gebracht, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Ellie lehnte den Kopf zur Seite und spitzte unschuldig ihren Mund. „Du spielst die Krebskarte?“


„Ja. Weil ich es kann.“ Sie musste lachen. Und Juli konnte nicht anders als in dieses sarkastische Lachen einzusteigen. Gar nichts an dieser Situation war lustig. Sie hatten wirklich keinen Grund zum Lachen, aber sie konnten es nicht kontrollieren. Sie lachten und lachten, bis sie weinten. Alles hatte sich in den letzten Stunden geändert. Aus einem glücklichen Leben mit unendlich vielen Plänen war ein Leben am seidenen Faden geworden. Schreckliche Monate würden folgen, das wussten sie beide nur zu gut.


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„Und?“ Ihre Mutter stand im Flur noch bevor Ellie und Juli das Haus richtig betreten hatten. Da war er wieder. Dieser Moment. Dieser minimale Augenblick. Sich treffende Blicke, die Worte überflüssig machten. Ihr Vater war hinter ihrer Mutter aufgetaucht. „No, no, no. Non dev´essere vero. Per favore, dio.“ Sie hatte sich an die Brust ihres Mannes gelegt und weinte. „Dimmi che non è vero. Non prenderti un altro mio figlio.“…


„Mama.“ Ellie ging einen Schritt auf sie zu und legte vorsichtig ihre Hand auf ihren Rücken: „Ich werde nicht sterben.“


„No?“ Ihre Mutter wandte sich ihr zu.


„Nein. Dr. Meier wird mich heilen. Ich gehe morgen in das Krankenhaus und lasse alle Untersuchungen machen. Dann kann er uns genau sagen, was wir machen. Ich bin nicht Stella. Und auch nicht Caterina. Beruhige dich, ja?“


„Non morirai. Tu stai bene. Non sei Stella.“


„Ja, Mama. Ich bin nicht Stella. Ich werde nicht sterben.“ Margherita umarmte ihre Tochter und hielt sie ganz fest.


„Non morirai. Ti amo, Elena. Ti amo!“


„Ich liebe dich auch, Mama!“ Ellie wandte sich aus ihrer Umarmung. „Ich muss einige Sachen packen und werde dann zum Proberaum fahren.“ Sie drehte sich um und verschwand über die Treppe nach oben. Juli folgte ihr.


„Warum hast du sie angelogen?“


„Was hätte ich denn sagen sollen?“


„Die Wahrheit?“


„Wozu? Wenn ich sterbe, dann erfahren sie es früh genug. Warum soll ich ihnen ihre Hoffnung nehmen?“ Ellie stand vor ihrem Kleiderschrank und warf Kleidung aufs Bett, die sie in ihre Kliniktasche packen wollte. Juli setzte sich auf die Bettkante. Ihre Schwester hatte Recht. Die ganze Zeit dachte sie an alle anderen, organisierte, überlegte was für wen am besten war. „Und wir wissen nicht, ob es ein Glioblastom wie bei Stella ist.“

„Da seid ihr ja endlich.“ Maj, Nik und Pete standen im Proberaum an ihren Instrumenten und spielten die ersten Klänge, als Ellie und Juli mit Verspätung zur Probe kamen. „Jetzt aber schnell. Wir müssen unbedingt noch mal die Songs fürs Wochenende durchgehen.“


„Ich muss vorher mit euch reden.“ Ellie war weiter in den Raum hineingegangen. „Ich werde am Wochenende nicht dabei sein.“


„Bitte?“ Maj sah sie entgeistert an. „Wie soll das denn ohne dich funktionieren? Sollen Juli und ich jetzt einfach deine Parts übernehmen?“ Sie wirkte empört.


„Es tut mir leid. Ihr werdet für unbestimmte Zeit ohne mich auskommen müssen.“


„Was soll das heißen?“ Nik betrachtete Ellie und Juli, während er seine Bassgitarre wieder zurück auf ihren Ständer stellte. Irgendwas war anders. Die beiden Schwestern verhielten sich seltsam.


„Mein Zusammenbruch vor zwei Wochen, … ich hatte nicht einfach zu wenig getrunken …“ Ellie stockte, als sie merkte, wie ihre Schwester neben ihr zu weinen begann.


„Entschuldigung.“ Juli drehte sich um und ging Richtung Sofa.


„Was ist los?“ Auch Maj hatte ihre Gitarre zur Seite gelegt und war auf Ellie zugekommen. Pete hatte sich hinter seinem Schlagzeug erhoben.


„Ihr wisst alle, dass meine Schwester an einem Hirntumor gestorben ist.“ Ellie hätte auch einfach „Ich habe einen Gehirntumor und bin todkrank“ sagen können, aber sie konnte es nicht.


„Nein …“ Maj sah erst Ellie schockiert an, wandte ihren Blick dann kurz zu Juli und zurück: „Das ist nicht wahr.“


„Doch, ist es. Ich habe nicht einfach zu wenig getrunken. Mich hat es genauso getroffen wie meine Tante und Stella.“


„Wirst du operiert?“ Nik sah sie besorgt an. „Du wirst doch gesund, oder?“


„Das weiß ich noch nicht.“ Ellie konnte die geschockten Gesichter ihrer Freunde sehen. „Ich werde morgen aufgenommen, es werden Untersuchungen gemacht und dann werden sie die für mich passende Therapie erarbeiten.“ Ellie versuchte ein Lächeln.


„Wir sind für dich da … die ganze Zeit! Wann immer du uns brauchst.“ Pete, der ansonsten gerne Spaß machende, immerzu lustig und gut gelaunte Mann, wirkte plötzlich ganz ernst. Maj weinte. Ellie und Juli waren seit dem Kindergarten ihre besten Freundinnen. Sie ging einen Schritt auf Ellie zu und nahm sie in den Arm. Ellie ließ die Umarmung zu. Nik und Pete taten es Maj gleich. „Wir fünf, … wir halten zusammen. Wir sind für dich da!“ Er streckte die Hand in Richtung Juli „Komm zu uns.“ Langsam erhob sich Juli. Die Umarmung ihrer Freunde tat Ellie gut. Sie hatte das Gefühl, sich fallen lassen zu können und nicht funktionieren zu müssen.


„Ich habe noch eine Bitte an euch.“ Als sie sich aus ihrer Umarmung gelöst hatten, sah sie ihre Freunde der Reihe nach an: „Ich werde Alex verlassen. Ich möchte nicht, dass irgendjemand von euch ihm gegenüber erwähnt, dass ich krank bin.“


„Was? Warum?“ Maj sah sie genauso irritiert an wie vorhin ihre Schwester.


„Ich weiß, was dieser Tumor mit mir machen wird. Meine Tante, Stella, … ich weiß, dass dieser Tumor mein Leben zerstören wird und meinen Körper und meinen Geist zerfrisst. Ich will nicht, dass Alex das miterlebt.“ Ellie konnte in den Gesichtern ihrer Freunde sehen, dass sie, ebenso wie Juli, von ihrer Entscheidung nicht begeistert waren. „Ich möchte auch keine Diskussion darüber. Es ist meine Entscheidung!“


„Ok.“ Maj nickte. „Verstanden.“


„Ich werde ihm nichts sagen.“ Pete nickte ebenfalls. Ellie sah Nik an.


„Ich weiß, dass ich viel von dir verlange, Nik. Alex und du: Ihr seid richtig gute Freunde geworden. Aber ich bitte dich wirklich inständig …“


„Ich werde schweigen. Ja, wir sind gute Freunde. Aber du, … wir fünf, … das gibt es schon viel länger. Es ist deine Entscheidung. Wie du schon sagtest. Und ich stehe hinter dir.“


Ellie stand seit zehn Minuten vor der Wohnungstür seines Appartements. Sie traute sich nicht hinein. Tausende Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie gleichzeitig nur Leere fühlte. Wie gerne würde sie sich einfach in seine Arme legen und sich halten lassen. Wie gerne würde sie ihm alles sagen. Einfach in seinen Armen weinen. Aber das konnte sie nicht. Sie konnte nicht so egoistisch sein und sein Leben zerstören, nur weil das ihrige beendet war. Es wäre besser, er würde sie hassen, als zuzusehen, wie sie zerfallen und das Zeitliche sie segnen würde. Die Hoffnungslosigkeit, die Ohnmacht, den Schmerz zu fühlen, wenn er ihr nicht helfen kann, wäre viel schlimmer als das Gefühl verlassen zu werden.

Als sie den Schlüssel gerade im Schloss umdrehen wollte, öffnete sich die Tür von innen. Alex stand strahlend vor ihr: seine blau-grauen Augen, seine markanten Gesichtszüge, sein sportlich-athletischer Körperbau, seine dunkelblonden, perfekt gestylten, Haare. Als Ellie ihn damals im Kletterpark kennengelernt hatte, war sie vom ersten Moment an verliebt gewesen. Eigentlich hatte sie nicht an Liebe auf den ersten Blick geglaubt. Aber dieser junge, charismatische Mann, der ihr so hilfreich und motivierend zur Seite gestanden hatte, der hatte es ihr angetan.


„Da bist du ja endlich!“ Alex ging einen Schritt auf sie zu und legte seine Hände um ihre Taille. „Ich habe dich schrecklich vermisst.“ Er zog sie zu sich heran und küsste sie. Ellie erwiderte seinen Kuss. Seine Lippen auf ihren – ein so vertrautes Gefühl. Sein Aftershave in ihrer Nase – ein so vertrauter Geruch. Seine Hände an ihren Hüften – eine so vertraute Berührung. Als er sie losließ, lächelte er immer noch glücklich vor sich hin. „Ich habe das Essen schon im Ofen. Ich hatte eher mit dir gerechnet.“


„Ich hing bei der Bandprobe fest“, entschuldigte sich Ellie.


„Das ist ja nichts Neues.“ Er lächelte. Er war nicht sauer. Ellie folgte ihm in die kleine, aber geschmackvoll eingerichtete Küche. Im Türrahmen blieb sie stehen. Sie betrachtete ihn, wie seine flinken Finger Gurke und Paprika für den Salat klein würfelten. Er summte gut gelaunt zur im Hintergrund laufenden Musik. Alex hatte keine Ahnung, welche Lawine der heutige Tag im Leben seiner Freundin ausgelöst hatte. Und er wusste noch nicht, mit welcher Kraft diese Lawine auch sein Leben tangieren würde. „Ellie?“ Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch. Alex sah sie – immer noch lächelnd - an.


„Ja?“


„Ich hatte dich gefragt, ob du mir eben das Öl reichen kannst. Aber du bist ja ganz weit weg mit deinen Gedanken.“ Das war eine Aussage, kein Vorwurf.


„Entschuldige.“


„Schon gut.“ Alex hatte sich selbst das Öl aus dem Schrank genommen. Er betrachtete seine Freundin: „Ist alles okay?“ Seine Augen fixierten sie. In Gedanken sagte sie: „Nein! Nichts ist okay. Ich bin krank, todgeweiht. Ich habe einen bösartigen Hirntumor, wie meine Schwester, und ich werde wahrscheinlich sterben. Mein Körper wird zerfallen, ich werde Schmerzen haben, ich werde nie wieder die Ellie sein, die ich war. Ich werde ans Bett gefesselt sein, zu müde zum Leben. Ich werde am Ende nur noch sterben wollen. Nichts ist okay. Gar nichts. Bitte, tesoro mio. Bitte. Halte mich. Halt mich fest und lasse mich nie wieder los. Ich brauche dich. Ich brauche dich mehr als jemals zuvor.“


„Ja, es ist alles gut“, kam ihr stattdessen über die Lippen und sie bemühte sich um ein Lächeln.


„Wirklich?“ Sie wirkte unglaublich müde und erschöpft. Irgendwie traurig.


„Ja. Ich bin nur k. o. Die Woche war anstrengend: viele Bandproben und eine Ausarbeitung für die Uni.“ Es gab keine Ausarbeitung. Aber das wusste Alex nicht. „Ich bin einfach nur müde.“ Alex lächelte sie an. Er glaubte ihr.


„Was hältst du davon: Ich koche zu Ende, dann essen wir und dann bekommst du eine Massage auf dem Sofa?“


„Das klingt wundervoll.“ Ellie nahm sich ein Glas und Wasser aus dem Kühlschrank. Sie setzte sich an den kleinen Esstisch und wartete. „Wie war dein Seminar? Irgendwas Interessantes?“


„Seminar, Essen, Zusammensitzen. Nicht wirklich.“


„Und die Vorträge?“


„Gut, aber das interessiert dich nicht wirklich“, er lächelte sie wissend an. „Und bei dir?“


„Wie gesagt, viel Stress.“


„Ausarbeitung fertig? Welches Thema?“ Was sollte sie sagen? Es gab keine Ausarbeitung. Sie hatte ihn noch nie belogen. Aber es war das Richtige.


„Fertig, aber das interessiert dich nicht wirklich“, imitierte sie ihn. Und Alex gab sich damit grinsend zufrieden.


„Keinen Appetit?“ Alex betrachtete Ellies Teller. Sie hatte nicht viel gegessen.


„Nicht wirklich. Tut mir leid, dass du extra gekocht hast.“ Sie sah ihn reumütig an, ihr Kopf schmerzte.


„Das macht doch nichts. Leg dich aufs Sofa. Ich räume hier noch auf und dann komme ich zu dir.“ Ohne ein weiteres Wort stand Ellie auf und verschwand ins helle und modern eingerichtete Wohnzimmer. Durch die großen Fenster konnte sie über die Dächer hinweg den Fluss sehen. Die glänzenden weißen und schwarzen Möbel ließen den Raum in einem stilvollen Ambiente erscheinen. Das graue Ecksofa fügte sich perfekt in den Raum ein. Der kleine, schwarze Wohnzimmertisch stand auf einem runden, schwarzen, flauschigen Teppich. Die drei Grünpflanzen verliehen dem Wohnzimmer ein angenehmes Flair. Alex` Mutter war Floristin. Sie hatte im gesamten Appartement Pflanzen verteilt. Zur Verbesserung des Raumklimas, zur Förderung der Konzentrationsfähigkeit, zur Senkung des Stresslevels, zur Reinigung der Luft von Schadstoffen und zur Erhöhung der Luftfeuchtigkeit, wie sie immer zu predigen vermochte. Auf dem großen Flachbildfernseher an der Wand hatten sie und Alex bereits viele Filme und Serien gesehen. An der ansonsten schlicht weiß gehaltenen Wand hatten sie hinter dem Sofa eine Collage mit gemeinsamen Fotos aufgehängt: vom Klettern in den Alpen, vom Skifahren in Méribel, vom Strand auf Gran Canaria, auf der Bergspitze der Königin der Dolomiten – Marmolada. An der Wand neben der Tür über dem schwarzen Sideboard hatte Ellie ein schlichtes fünfteiliges Leinwand-Set eines Bergpanoramas gehängt. Sie war so vertieft in die Betrachtung des ihr eigentlich so bekannten Raumes, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Alex im Türrahmen aufgetaucht war und sie lächelnd beobachtete.


„Überlegst du gerade, was wir hier für neue Dekoration brauchen können?“ Obwohl Ellie auch nach drei Jahren Beziehung nie offiziell bei ihm eingezogen war, verbrachte sie doch die meiste Zeit bei ihm. Für Dekoration war sie zuständig. Solange sie nicht den an sich schlichten Stil zerstörte, hatte sie freie Handhabe. Ellie selbst liebte diese elegante Dezenz, die das Appartement ausstrahlte. Trotz der Schlichtheit, oder gerade dadurch, wirkte es sehr exquisit. Auf das Sideboard hatte sie zwei unterschiedlich große LED-Lichtkugeln gestellt, die den Raum abends in eine angenehm romantische Atmosphäre versetzten. Sie leuchteten dezent orange, wie eine untergehende Sonne. In der schmalen, hohen Vitrine neben dem Fernseher hatte sie Souvenirs von ihren Reisen platziert.


„Nein“, sagte Ellie ehrlich. „Dieser Raum ist perfekt, wie er ist.“ Alex lächelte.


„Massage?“


„Ja.“ Alex setzte sich hinter Ellie auf die Sofakante und begann sie zu massieren. Sie genoss seine Nähe, seine Hände auf ihren Schultern, in ihrem Nacken, auf ihrem Rücken; dankbar, dass er hinter ihr saß, denn so konnte er die ein oder andere Träne, die über ihre Wangen floss, nicht sehen. Als Alex sich vorbeugte und ihr den Nacken küsste, huschte ihr das erste echte Lächeln des Tages über die Lippen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie vergessen, dass diese Augenblicke mit Alex die Letzten sein würden.


„Ist wirklich alles okay, Liebling? Du bist so still heute.“ Während Alex sich von der Sofakante neben sie gesetzt hatte, wischte sich Ellie in einer schnellen Bewegung über die Wangen, um sicherzugehen, dass keine Träne mehr zu sehen war. Alex sah sie liebevoll an.


„Ja. Ich bin wirklich nur müde, tesoro mio.“


„Okay.“ Er nickte. „Schauen wir unsere Serie weiter?“ Er machte eine leichte Kopfbewegung Richtung Fernseher.


„Unbedingt.“ Auch sie nickte und zwang sich ein Lächeln ab – es war nicht echt.


Als sie später am Abend nebeneinander im Bett lagen, hatte Ellie den Kopf auf seine Brust gelegt. Sie konnte seinen Herzschlag hören. Sie fühlte sich geborgen.


„Alex?“, sagte sie leise. Sie war sich nicht sicher, ob er bereits eingeschlafen war.


„Ja?“ Seine Stimme klang erwartungsvoll. Ellie bewegte sich von seiner Brust runter und legte sich ihm seitlich gegenüber, sodass sie ihn ansehen konnte. Ihren Kopf stützte sie mit ihrer Hand.


„Ich liebe dich. Mehr als alles andere.“ Alex hatte das Gefühl, als würde ihr Blick ihn mitten ins Herz treffen. Sie schaute ihn nicht nur an, sie schaute tief in ihn hinein. Diese Frau war alles für ihn. Sie war sein Leben.


„Ich liebe dich auch. Mehr als alles andere!“ Er streichelte ihr über ihren Arm. Ellie rückte näher an ihn heran und küsste ihn. Sie schob ihre Hand unter seine Decke und sein Shirt und streichelte seine nackte Haut. „Ich dachte, du bist müde?“ Er sah sie neckisch an. „Nicht mehr?“


„Nein.“ Auch sie musste grinsen. Ein ehrliches Grinsen.


„Wenn das so ist, …“ Alex zog sie an sich heran und küsste sie leidenschaftlich. Mit seinen Händen fuhr er ihren Rücken entlang, wobei er ihr Top hochstreifte um es ihr über den Kopf hinweg auszuziehen. Er küsste ihren Hals, ihre Schultern, ihre Brüste. Dann drehte er Ellie langsam von sich runter und zog sein Shirt aus. Sein nackter Oberkörper: seine breiten Schultern, muskulös, sportlich, durchtrainiert. Er hatte ein Sixpack, nicht zu sehr, gerade richtig. Ellie betrachtete den von ihr so geliebten Körper. Sie berührte seine Schultern, streichelte von dort über seine Brust und seine Muskeln. Alex lächelte sie an. Mit seinen Fingern fuhr er ihr vorsichtig durchs Haar und über ihre Wange. „Du bist so wunderschön“, flüsterte er, bevor er sie hingebungsvoll küsste. Ellie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Sie ließ ihn auch nicht los, als er mit seiner rechten Hand seine Boxershorts und ihren String auszog. Sie hielt ihn einfach fest und wünschte sich in diesem Moment nichts mehr, als ihn nie wieder loslassen zu müssen. Als er in sie eindrang, genoss sie es ein letztes Mal, auf diese Art mit ihm so eng verbunden zu sein. So nah, wie nur er ihr kommen durfte. So nah, wie nur sie ihm. Durch die Umarmung konnte sie sein Herz an ihrer Brust spüren: Es wurde immer schneller. Ellie lockerte ihre Arme leicht und sah ihn an. Er hatte seine Augen geschlossen. Seine normalerweise perfekt gestylten Haare lagen in einem Wirrwarr auf seinem Kopf. Ellie liebte sein Haar, wenn es aussah, wie jetzt. So durfte nur sie ihn sehen. Das war ihr Alex. Sie nahm ihre rechte Hand von seinem Rücken und streichelte damit sanft über seine markanten Wangenknochen. Als Alex die Augen öffnete, lächelte er sie verschmitzt an. Sie konnte nicht anders als sein Lachen zu erwidern. Ein echtes Lachen. Sie beugte sich vor und küsste ihn innig. Für den Moment wollte sie alles vergessen. Den Tumor, den Tod, ihre Angst, die Monate, die kommen würden, die Tatsache, dass sie ihn in wenigen Stunden für immer verlassen würde. Für diesen einen Moment, für diesen einen Akt: Wo sie ihn in sich spürte … wo sein Atem immer schneller wurde, seine Bewegung rhythmischer, bis sie spüren konnte, wie er in ihr kam ... ein letztes Mal.


Alex war neben ihr eingeschlafen, während Ellie die ganze Nacht wach gelegen hatte, um ihn beim Schlafen zu beobachten. Es war halb sechs. Um viertel nach sieben musste sie im Krankenhaus sein. Sie musste verschwinden bevor er wach werden würde. Langsam setzte Ellie sich auf. Immer noch betrachtete sie ihn, friedlich lag er dort. Nicht ahnend, dass sich mit dem Erwachen sein ganzes Leben ändern würde.


„Ich liebe dich, ... ich liebe dich so sehr“, flüsterte Ellie leise. „Bitte. Vergiss mich nicht.“ Eine Träne lief über ihr Gesicht. „Tesoro mio. Per sempre.“ Vorsichtig beugte sie sich zu ihm rüber und küsste ihn. Alex bewegte sich ein wenig und ein seliges, glückliches Lächeln legte sich auf seine Lippen. Ellie stand auf und verließ das Schlafzimmer. Im Badezimmer zog sie sich an, ging in die Küche, holte Zettel und Stift und schrieb. Bevor sie das Appartement verließ, warf sie einen letzten Blick auf ihren schlafenden Freund. „Es tut mir so leid, … bitte werde glücklich“, sagte sie, bevor sie die Tür leise schloss und seine Wohnung verließ. Als Alex zwei Stunden später erwachte, lag Ellie nicht mehr neben ihm. Er stand auf, im Badezimmer war sie nicht. „Ellie?“ Er ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen. Vielleicht hatte er einen ihrer Termine vergessen, er hatte keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Als er sich mit dem fertigen Kaffee an den Tisch setzen wollte, sah er ihn: den Schlüssel und den Zettel, der alles verändern würde. Die Schrift war deutlich verwackelt, einige Buchstaben schienen durch Tränen verschwommen. Aber es war Ellies Handschrift, ohne Zweifel. Und die Botschaft war deutlich. Die Nachricht war nicht misszuverstehen.



Und da oben sind wir glücklich

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