Читать книгу Leben mit "kaputtem Akku" - Johanna Krapf - Страница 9

Mélina Imdorf Leiterlispiel

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Ich kann nichts mehr essen. Messer bohren sich in meinen Kopf. Bitte, hört auf zu klappern mit Besteck und Geschirr. Seid still. Warum schreit ihr denn so? Jeder Laut ein Messer. Meine Augen brennen. Ich will weg.

Endlich Ruhe. Ich bin vom gemeinsamen Essen mit meiner Familie und Johanna, die extra hierher nach Mühlethurnen gekommen ist, damit ich ihr meine Geschichte erzählen kann, zurück in meine Wohnung geflüchtet. Jetzt liege ich auf dem Bett, im abgedunkelten Zimmer. Mein Kopf schreit, ansonsten ist es still. Ich bin allein, fühle mich getrennt von der Welt. Ich döse ein.

Die anderen habe ich einfach am Esstisch in meinem Elternhaus zurückgelassen. Tut mir leid, aber es musste sein. Mein Körper machte nicht mehr mit. Früher war das anders, früher, als ich noch tanzen konnte, da fühlte ich mich so wohl in meinem Körper, da konnte ich alles mit ihm ausdrücken: Rhythmus, Leidenschaft, Lebensfreude.

Jetzt lässt er mich schon nach der geringsten Anstrengung im Stich und reagiert jedes Mal mit einer tiefen Erschöpfung und heftigen Schmerzen: Gestern fuhr ich rasch zum Stall, um meinem Pferd Sämi – eigentlich gehört er den Eltern – nahe zu sein. Nicht um ihn zu reiten, ach was, das kann ich doch schon lange nicht mehr. Nicht einmal, um ihn zu striegeln, nur um ihn zu sehen und zu spüren. Und heute bezahle ich nun den Preis dafür: schwere Muskeln und Kopfweh. Deshalb kann ich das Interview nicht zu Ende führen, und Johanna wird nochmals anreisen müssen. Deshalb? Nein, stimmt nicht, ich hätte mich ohnehin nicht mehr konzentrieren können. Wir haben wahnsinnig lange gearbeitet. Zwei Stunden. Länger. Zweieinviertel Stunden! Kunststück, dass mein Gehirn glüht. Dass meine Augen aus dem Kopf quellen.

Mein Vater meinte, wir könnten das Interview am Computer beenden. Am Computer! Wie soll das denn gehen, wenn sich der Bildschirm schon nach fünf Minuten zu bewegen beginnt, das Bild auseinanderbricht und sich die Splitter in meine Augen bohren?

Beschreibung im Arztbericht: chronische Kopfschmerzen vom Spannungstyp, Migräne, lang andauernder Erschöpfungszustand, kein Anhaltspunkt für eine spezifische körperliche Ursache.

Eigentlich könnte die Diagnose schon seit acht Jahren feststehen: Ich leide an ME/CFS, das heißt, an einer organischen Krankheit. Doch diese Tatsache wird von den meisten Ärztinnen und Ärzten in der Schweiz, die mich untersucht haben, einfach ignoriert beziehungsweise sie (aner-)kennen die Krankheit nicht und sehen hinter all den körperlichen Symptomen ausschließlich die Psyche. Klar spielt diese hinein. Das will ich gar nicht abstreiten. Körper und Psyche sind nicht voneinander zu trennen. Warum habe gerade ich eine solch heftige – eine solch heftige körperliche – Krankheit bekommen? Diese Frage beschäftigt mich sehr. Dennoch muss zwischen der Rolle der Psyche und der organischen Krankheit, die mich seit Jahren fest im Griff hat, unterschieden werden. Letztere ist kein psychiatrisches Problem, sondern ein neuroimmunologisches Syndrom, und entsprechend können die Symptome – migräneartige Kopfschmerzen, schwere Erschöpfung, verhärtete Muskeln, eine Schlafstörung, Halsweh und anderes – nicht mithilfe einer Psychotherapie angegangen werden, sondern ihre Behandlung muss auf einer medizinischen Analyse basieren.

Die Frage nach der Rolle der Psyche, so interessant sie auch sein mag, lenkt die Aufmerksamkeit weg von den körperlichen Symptomen und deren Behandlung, aber auch von möglichen körperlichen Ursachen – Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus oder mit Borrelien etwa –, und hin zu der psychischen Disposition.

Gleichwohl frage ich mich immer wieder, welchen „Nutzen“ ich aus der Krankheit ziehe, und schlage damit einen Bogen von ihr zu meiner Kindheit, denn die Krankheit hat dazu geführt, dass ich jetzt, im Gegensatz zu damals, sehr viel Aufmerksamkeit erhalte! Dank ihr werde ich wahrgenommen, und das tut mir gut, in meiner Kindheit hingegen stand ich meist im Hintergrund. Ich wurde im September 1981 als klassisches Sandwichkind geboren. Meine beiden Brüder nahmen in der Familie sehr viel Platz ein. Da war der knapp zwei Jahre ältere Dominic, der schon als kleiner Bub jede Entscheidung hinterfragte und ständig gegen den Strom schwamm – Hauptsache anders als alle anderen –, was immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen und später zu endlosen Diskussionen führte. Mühsam war das, echt mühsam. Und dann der drei Jahre jüngere Daniel, der bei seiner Geburt fast gestorben wäre und danach noch lange Zeit kränkelte. Mit diesem schwierigen Start ins Leben hingen vermutlich auch seine ausgeprägte Ängstlichkeit und die Jahre andauernde Durchschlafstörung zusammen. Jedenfalls verlangten die beiden Buben meinen Eltern alles ab, und vor allem meine Mutter, die am Tourettesyndrom leidet, war oft am Ende ihrer Kräfte. Also fiel mir die Rolle des ruhigen, angepassten und schüchternen Kindes zu – was allerdings nicht heißt, dass ich nicht sehr genau wusste, was ich wollte, und dass ich meine Wünsche nicht durchgesetzt hätte. Klavierunterricht zum Beispiel und Reitstunden; darauf bestand ich als Neunjährige so lange, bis meine Eltern einwilligten. Und mit diesen beiden Hobbys glich ich aus, was mir an Aufmerksamkeit fehlte: Bei den Pferden holte ich mir Nähe und Wärme, indem ich eine Bindung zu ihnen aufbaute, und das Klavierspiel diente mir als Oase, in die ich mich flüchten konnte, wenn ich Abstand vom Alltag brauchte. Täglich übte ich bis zu zwei Stunden, freiwillig wohlverstanden, und vergaß alles um mich herum. So traten auch Probleme, zum Beispiel schulische, ganz automatisch in den Hintergrund und fühlten sich nach dem Üben nicht mehr so quälend an.

Ich spürte aber nicht nur sehr genau, was mir selbst guttat, sondern ich nahm auch die Bedürfnisse der anderen wahr, in erster Linie die meiner Mutter. Ich hatte immer irgendwie das Gefühl, ich müsse dafür sorgen, dass es ihr gut gehe, ich müsse sie schützen. Denn ich sah, mit wie viel Liebe sie sich um alles kümmerte, wie sie ihr Bestes gab, dass sie manchmal überfordert war, obwohl sie sich ganz uns Kindern und dem Haushalt widmen konnte. Sie ging nämlich erst wieder auswärts arbeiten, und das nur tageweise, als ich in die Pubertät kam. Mein Vater hingegen, der einen Vollzeitjob hatte, war viel weniger präsent.

Es mag jetzt den Anschein machen, als wäre meine Kindheit schwierig gewesen. Das will ich damit jedoch nicht sagen. Sie waren schön, meine Jahre hier in Mühlethurnen: Ich durfte ganz Kind sein, durfte nach Herzenslust spielen, drinnen und draußen, frei und unbeschwert, und es störte meine Mutter überhaupt nicht, wenn ich jeden Abend vor Dreck starrte. Sie freute sich über die kreativen Ideen der Kinder und mischte sich nicht in unser Spiel ein, aber sie war da, wenn sie gebraucht wurde. Doch ich beanspruchte ihre Zeit und Aufmerksamkeit selten, da ich ein braves Kind war.

In der Schule hielt ich mich ebenfalls im Hintergrund. Ich war im Klassenverband integriert, stand aber nie im Mittelpunkt des Geschehens. Auch wird mir, wenn ich mein bisheriges Leben überblicke, klar: Ich habe meistens nur eine Freundin gehabt und in der Regel nicht sehr lange dieselbe, denn ich bin wiederholt im Stich gelassen worden. Aber allein bin ich selten gewesen. Jedenfalls wenn ich von der Gegenwart absehe …!

Zurück zur Schule: Da ich, schüchtern wie ich war, weder dort noch zu Hause je um Unterstützung bat, erfüllten meine Leistungen, als es um einen allfälligen Übertritt in die Sekundarschule3 ging, die Anforderungen nicht. Vermutlich war ich aber auch einfach noch nicht reif genug. Also blieb ich in der Volksschule bis zum Ende der obligatorischen neunjährigen Schulzeit, was den Vorteil hatte, dass ich nie unter Druck geriet und im Großen und Ganzen gern zur Schule ging. Meine Eltern ließen mich gewähren und vertrauten darauf, dass ich meinen eigenen Weg finden würde. Und damit hatten sie recht, denn im Anschluss an die Volksschule durfte ich ein zehntes Schuljahr in Bern besuchen und holte dort den verpassten Sekundarschulabschluss nach.

Heute weiß ich, dass ich viel besser lernen kann, wenn ich den Lehrstoff mit Musik verbinde, wenn ich zum Beispiel ein Gedicht, das ich auswendig lernen muss, mit einer Melodie unterlege. Musik beziehungsweise Rhythmik war denn auch der Schlüssel zu meiner Zukunft. Nicht dass mir das nach dem Ende der Schulzeit bewusst gewesen wäre, sondern der Zufall oder das Schicksal wollte es, dass mir in der Berufsberatung beim Durchblättern eines Ordners mit allen möglichen Berufsbildern der Titel „Rhythmiklehrperson“ ins Auge stach. Das war es, was ich werden wollte: Der Beruf hatte mit Kindern zu tun, das war die Hauptsache, und Rhythmik tönte gut. Was genau er beinhaltete, fragte ich mich nicht. Ich absolvierte also das vorgeschriebene einjährige Praktikum – als Kleinkindererzieherin in einer Kinderkrippe – und nahm anschließend die vier Jahre dauernde Ausbildung an der Fachhochschule für Musik und Theater in Biel in Angriff. Dort kamen endlich meine Stärken zum Zuge: Bewegung und natürlich die Musik respektive das Klavierspiel. Die Bewegung war für mich seit der Pubertät immer wichtiger geworden, sodass ich fast jeden Abend in den Thuner Discos tanzen gegangen war und mich nächtelang auf Technopartys ausgetobt hatte, während sich meine Eltern zu Hause Sorgen machten. Und die Musik war seit meinen ersten Klavierstunden eine Konstante in meinem Leben gewesen.

Ich genoss das Studium in vollen Zügen. Die rhythmisch-musikalische Erziehung ist eine ganzheitliche Pädagogik und richtet sich in erster Linie, aber nicht nur, an Kinder. Durch den spielerischen Einsatz von Musik, Sprache und Bewegung – durch das ganzheitliche Erleben und fantasievolle Gestalten von Versen, Reimen, Liedern, Bewegungsspielen und Tänzen – wird das Kind in seiner natürlichen Musikalität, in seinem Bewegungsvermögen, in seiner Sprach- und Persönlichkeitsentwicklung gefördert, und seine Sinne, vor allem Auge, Ohr und Tastsinn, sowie die Körper-, Zeitund Raumwahrnehmung werden verfeinert. (Der therapeutische Aspekt der Rhythmik wurde in meiner Ausbildung nur am Rande tangiert.)

Doch nach dem Abschluss der Ausbildung im Jahr 2003 fand ich keine Stelle, denn im Kanton Bern wurde damals das Fach Musikgrundschule/Rhythmik an den Schulen noch kaum angeboten. Also arbeitete ich erst einmal als Springerin in einem Kinderhaus, was mir zwar nicht schlecht gefiel, aber eigentlich nicht meinem Berufsziel entsprach. Nach zwei Jahren schließlich war ich bereit, um dessentwillen „auszuwandern“, und übernahm in Zürich eine sechsmonatige Stellvertretung als Rhythmiklehrerin. Sie sollte sich als Sprungbrett für meine berufliche Zukunft erweisen, denn danach erhielt ich meine ersten festen Stunden, allerdings nicht alle an einer einzigen Schule, da die wenigsten Gemeinden eine Vollzeit arbeitende Lehrperson in Rhythmik brauchen. Das heißt, ich arbeitete mit größeren und kleineren Pensen in verschiedenen Gemeinden, in verschiedenen Kantonen gar, und war somit ständig auf dem Sprung von Schulhaus zu Schulhaus. In keinem Team war ich richtig integriert, ich musste mit vielen Klassenlehrpersonen zusammenarbeiten und unterrichtete unzählige Kinder. Das war, wen wundert’s, eine Herausforderung. Doch ich liebte meine Aufgabe: Sie gab mir die Möglichkeit, mich ganz auf die Kinder einzulassen und meine Kreativität auszuleben. Ja, ich hatte meine Berufung gefunden!

Sechs Jahre arbeitete ich als Rhythmiklehrerin, bevor mich die Gesundheit im Stich ließ, sechs zwar recht strenge, doch sehr gute Jahre. Deshalb möchte ich betonen, dass die späteren gesundheitlichen Probleme nichts mit dem Arbeitsdruck zu tun hatten. Es ging mir prima in dieser Zeit – ich wohnte in Gunzgen im Kanton Solothurn –, und auch mein Hobby, das Tanzen, kam trotz der beruflichen Herausforderung nicht zu kurz. Dank einer Kollegin, die mich zu einer Tanzshow mitgenommen hatte, entdeckte ich die Faszination des Paartanzes und besuchte nun Kurse, um die verschiedenen Tänze kennen- und beherrschen zu lernen. Ich stand also mit beiden Beinen im Leben, hatte einen tollen Job und ein neues Hobby, den Paartanz, als ganz plötzlich alles anders kam: Ich wurde telefonisch zu der Besprechung eines Papillomavirus-Tests (er dient der Prävention von Gebärmutterhalskrebs) aufgeboten, dem ich mich routinemäßig unterzogen hatte und der positiv ausgefallen war. Resultat der Besprechung: Ich musste eine Biopsie machen lassen.

Die Biopsie, wegen einer Zellveränderung durch Papillomaviren: höllisch, ohne Betäubung, höllisch, am Gebärmutterhals, höllische, traumatisierende Schmerzen!

Bei dieser Biopsie schnitt der Arzt Zellgewebe heraus – drei einfränklergroße Hautstücke waren es! –, ohne eine lokale Betäubung vorgenommen zu haben, sodass mein Geist zeitweise meinen Körper verließ, damit ich die höllischen Schmerzen nicht mehr wahrnehmen musste. Danach war ich nicht mehr dieselbe Person wie vorher. Ich verließ die Praxis und torkelte wie in Trance zum Bahnhof, fuhr zu meinen Eltern nach Mühlethurnen, setzte mich dort ins Auto und kehrte in meine Wohnung zurück. Es grenzt an ein Wunder, dass ich keinen Unfall baute. Ich kann mich jedenfalls an nichts mehr erinnern. Am folgenden Tag ging ich arbeiten, als wäre nichts gewesen. Oberstes Ziel: das Erlebnis ausblenden, die Erinnerung aus meinem Kopf kriegen, nur ja nicht darüber nachdenken. Auch die nachfolgende kleine Operation, bei der die entarteten Zellen weggelasert wurden, ließ ich anstandslos über mich ergehen, und zwar unter Vollnarkose, da ich auf keinen Fall irgendetwas davon mitbekommen wollte. Alles war mir egal, solange nur die Bilder der Höllenqual nicht in mir aufstiegen. Diese Entscheidung für eine Vollnarkose war allerdings vermutlich ein verheerender, folgenschwerer Fehler, denn die Narkose könnte einer der Auslöser meiner ME/CFS-Erkrankung gewesen sein.

Nach der Operation erholte ich mich nie mehr vollständig. Am Anfang dachte ich, das müsse wohl damit zusammenhängen, dass ich zu früh zur Arbeit zurückgekehrt war, weil meine Vorgesetzte mich unter Druck gesetzt hatte. Sie hatte behauptet, es sei an mir, eine Stellvertretung für die 14 Tage Krankenurlaub zu organisieren (was natürlich nicht stimmte). Als ich auf die Schnelle niemanden fand, der oder die für mich einspringen konnte, und da die Chefin nicht gewillt war, die Stunden ausfallen zu lassen, unterrichtete ich sie eben selbst. Keine gute Idee! Gar keine gute Idee, denn von da an fühlte ich mich ständig müde, und auch der Schlaf brachte mir nicht die gewünschte Erholung. Doch vorläufig machte ich mir deswegen noch keine Sorgen: Das sei die Frühlingsmüdigkeit, trösteten mich meine Bekannten, und außerdem standen die Sommerferien vor der Tür, danach würde bestimmt alles wieder beim Alten sein. Voller Elan und sogar mit einem größeren Pensum als vorher startete ich ins neue Schuljahr. Die Müdigkeit ließ jedoch nicht mehr von mir ab, ich litt ständig unter Kopfschmerzen, und eine eigenartige, sehr schmerzhafte Verhärtung der ganzen Nacken- und Rückenmuskulatur, die von einer Sekunde auf die andere meinen Rücken in eine Schiefhaltung brachte, überfiel mich nun immer öfter. Schließlich, nach einem besonders schweren Anfall, suchte ich die Notfallstation auf, wo ich aber nur mit ein paar Tipps – ich solle mich in der Badewanne entspannen und Salbe einreiben – abgespeist wurde. Danach ging ich zum Hausarzt, der ebenfalls sehr bald mit seinem Latein am Ende war und mich weiterverwies ans Spital Olten. Der dortige Neurologe machte diverse Tests, doch herauskam – nichts! Es sei alles in Ordnung mit mir.

Symptome: starke Müdigkeit, täglich heftige Kopfschmerzen, hin und wieder für kurze Zeit Muskelschmerzen in unterschiedlichen Körperteilen.

Immer häufiger hatte ich nun Probleme mit der Konzentration. Da stand ich dann mit vernebeltem Kopf vor den Kindern, konnte meine Stundenpräparation nicht abrufen, und ihre Fragen drangen nicht zu mir durch – und trotzdem sollte mit mir alles in Ordnung sein? Verzweifelt suchte ich wieder den Hausarzt auf. Dieser schrieb mich für zwei Wochen krank. Aber als es mir nachher immer noch nicht besser ging, war ich bei ihm nicht mehr willkommen. Also wandte ich mich, weil ich unbedingt ein Arztzeugnis brauchte, wieder an den Neurologen im Spital Olten, doch da war ich an der falschen Adresse. Er könne mich nicht krankschreiben, ich sei ja gesund, ich solle zum Hausarzt gehen: Hausarzt – Neurologe – Hausarzt, eine Endlosschleife, die damals ihren Anfang nahm und mich bis heute von Abklärung zu Abklärung, von Arzt zu Ärztin führt. Ich wusste nicht mehr weiter. Keiner wollte mir helfen, obwohl ich zwingend darauf angewiesen war, mal für einen Tag, mal für eine Woche, mal für drei Tage bei der Arbeit aussetzen zu können, denn ich war der beruflichen Herausforderung je länger je weniger gewachsen. Schlussendlich raffte ich mich auf und suchte mir eine neue Hausärztin. Und siehe da, ich hatte Glück und fand eine Frau, bei der ich mich sehr gut aufgehoben fühlte, die mich ernst nahm und mir ein Arztzeugnis ausstellte, wenn es nicht anders ging. Doch das schlechte Gewissen wegen meiner häufigen Ausfälle quälte mich, sodass ich zuerst diejenigen Stunden, die ich nach den Sommerferien neu übernommen hatte, kündigte, und dann, ein halbes Jahr später, auch eines der beiden anderen Pensen. Versicherungstechnisch war das natürlich alles andere als weise, aber ich sah keinen anderen Ausweg, und der Case Manager, der es eigentlich hätte besser wissen müssen, versagte völlig. Unterdessen erklärte mich meine neue Hausärztin zu 100 Prozent arbeitsunfähig. Dennoch knickte ich schließlich unter dem Druck der Schulleitung ein und kündigte auch noch das letzte Pensum. Über eineinhalb Jahre konnte ich nun überhaupt nicht mehr arbeiten.

In diese Zeit fiel meine erste Anmeldung bei der Invalidenversicherung (IV), und, nach der üblichen Wartefrist von weit mehr als einem Jahr, folgte mein Termin bei einem IV-Gutachter. Oje, war das ein Reinfall! Er hatte keine Ahnung von meiner Thematik, ging in keiner Weise auf mich ein, quetschte mich drei Stunden lang aus wie eine Zitrone und drehte mir zu guter Letzt in seinem Bericht, den ich später zur Einsicht erhielt, alles im Mund um, was ich gesagt hatte. Na ja, wenn mir diese Tortur wenigstens eine Rente verschafft hätte, dann hätte sie sich immerhin gelohnt. Aber ich war – so der Gutachter, ein Psychiater übrigens – gesund, munter und fit und hatte folglich keinen Anspruch darauf. Kein Wunder, dass mir das Vertrauen in solche „Fachpersonen“, ja, in die Schulmedizin überhaupt, damit endgültig abhandengekommen war.

Gleichzeitig nahm der Untersuchungsmarathon, auf den ich mich vor allem wegen der Kopfschmerzen und der Müdigkeit eingelassen hatte, seinen Lauf. Er brachte mich allerdings keinen Schritt weiter. Immer wieder musste ich mir anhören, dass mit mir körperlich alles in Ordnung sei. Spannungskopfweh und Müdigkeit seien wohl auf eine psychische Störung zurückzuführen, ich solle es doch einmal mit einem Antidepressivum probieren. Und als ich mich weigerte, solche Medikamente zu schlucken, schickte man mich in ein Ambulatorium für psychische Probleme, wo mir eine Angststörung angedichtet wurde mit der Begründung, ich sei verzweifelt vor Angst, dass ich wegen der Biopsie nicht mehr schwanger werden könne. Ja, natürlich war ich verzweifelt, ja, logisch, dass es mir psychisch nicht gut ging, aber das war doch nicht anders zu erwarten bei all den körperlichen Symptomen. Mit einer psychischen Störung hatte meine Verzweiflung jedenfalls nichts zu tun.

Neurologische Untersuchung in Olten (keine zielführende Diagnose), schlafmedizinische und Wachhaltetest-Untersuchung im Spital Solothurn (keine zielführende Diagnose), MRI in Olten (keine zielführende Diagnose), EEG in Olten (keine zielführende Diagnose), Besuch beim psychiatrischen Dienst in Solothurn, Ultraschall Milz.

Auf der persönlichen Ebene war mein Leben trotzdem reich: Am Tanzen hatte ich vorerst beharrlich festgehalten, denn nach der verhängnisvollen Biopsie und der OP hatte ich im Ausgang beim Discofox-Tanzen meinen zukünftigen Mann kennengelernt. Wir harmonierten wunderbar zusammen, und so entschieden wir uns, uns auf die Teilnahme an Tanzturnieren vorzubereiten – trotz der Erschöpfung, die mich ja immer begleitete, und trotz der Kopfschmerzen. Schließlich zog ich sogar zu ihm in den Kanton Baselland, wo er mit seiner Familie eine Bäckerei betrieb. Wir malten uns unsere gemeinsame Zukunft und die vielen Erfolge an Tanzturnieren aus, wenn es mir wieder besser gehen würde. Doch davon war vorerst keine Rede. Unterdessen konnte ich kaum mehr aufstehen, geschweige denn tanzen. Monatelang war ich sogar ganz bettlägerig und musste all meine Energie bündeln, um die migräneartigen Kopfschmerzen zu ertragen und wenigstens noch in die Psychotherapie und zu meiner Hausärztin gehen zu können. So begann ich mich denn auch mit dem Thema des begleiteten Freitods zu befassen, da ich mir nicht vorstellen konnte, diese grauenhaften Schmerzen ein Leben lang auszuhalten. Zum Glück stand mein Partner in dieser schwierigen Zeit voll hinter mir und kümmerte sich rührend um mich und um den Haushalt. Viel mehr als mal ein T-Shirt zu bügeln war mir nämlich nicht möglich. Auch weitere Abklärungen, um die Ursache meiner rätselhaften Krankheit aufzuspüren, ließ ich fortan bleiben, weil ich schlicht zu müde und krank war. Diese akute Phase dauerte mindestens ein halbes Jahr, bevor sich nach und nach eine Besserung abzeichnete, warum auch immer. Ich habe bis heute keine Erklärung dafür. Jedenfalls musste ich das Bett nicht mehr rund um die Uhr hüten, und ich begann vorsichtig, dies und jenes im Haushalt zu erledigen.

Mittlerweile war mein Vater, der nicht locker ließ bei seinen Recherchen nach der Ursache meiner Symptome, auf die Krankheit ME/CFS respektive CFS gestoßen, und er drängte darauf, diesem Verdacht nachzugehen. Nur wie und wo überhaupt? Der einzige „Spezialist“ in der Schweiz, den er auftreiben konnte und zu dem ich mich schließlich sogar schleppte, schaute mir tief in die Augen und sagte dann gewichtig: „Ja, genau, Sie leiden an CFS.“ Alles klar – nur, auf solch eine aus der Luft gegriffene (oder an den Augen abgelesene) Diagnose konnte ich gut verzichten! Weiter ging die hoffnungslose Suche nach CFS-Spezialist:innen, hoffnungslos darum, weil die Krankheit in der Schweiz offensichtlich noch völlig unbekannt war. Folglich weitete mein Vater die Recherche nach Deutschland aus, und, tatsächlich, in Bamberg stieß er auf einen Arzt, der ihm einen seriösen Eindruck machte. Doch ich war gar nicht erpicht auf eine solch beschwerliche Reise, und er brauchte wahrlich einen langen Atem, um mich von deren Sinn zu überzeugen. Nun, er sollte recht behalten, der Aufwand lohnte sich, denn Doktor Wolfram Kersten nahm sich meiner an, stellte mir sinnvolle Fragen und untersuchte mich gründlich. Anhand dieser Tests, die einerseits mögliche Krankheiten ausschlossen, andererseits vorliegende Störungen nachwiesen, stellte auch er die Diagnose Chronisches Erschöpfungssyndrom CFS in den Raum. Aber vor allem bestätigte er mir, dass meine Symptome einen organischen Ursprung hatten, dass also absolut nicht alles in Ordnung war, wie man mir bisher immer versichert hatte. Das war Mitte des Jahres 2012. Bis ich in der Schweiz eine Bestätigung der Diagnose CFS erhalten würde, sollte es noch über sieben Jahre dauern!

Umfassende Blut-, Hormon-, Stuhl- und Schwermetalluntersuchungen; Ausschluss: instabile Halswirbelsäule und Hashimoto-Thyreoiditis (Schilddrüsenentzündung, eine Autoimmunerkrankung);

Diagnose: CFS, Nebennierenunterfunktion, Mangel an Fettsäuren, Mineralstoffen sowie Vitaminen, Epstein-Barr-Infektion, Verdauungsstörung, Nahrungsunverträglichkeiten, eine hypotone Kreislaufdysregulation (niedrige Blutdruckwerte) u. a.

Auf diese Untersuchung und den Verdacht eines CFS folgte eine zwei Jahre dauernde Orthomolekulartherapie4 unter der Leitung von Doktor Kersten, die zumindest anfänglich eine leichte Abschwächung der Symptome bewirkte. Vermutlich hätten mir allerdings Hinweise, wie ich mich als CFS-Betroffene verhalten solle, und Strategien für den Umgang mit der Krankheit weit mehr genützt als die Therapie selbst. Ich hatte zum Beispiel keine Ahnung, wie wichtig das richtige Haushalten mit der verbleibenden Energie ist und dass jede noch so kleine Überanstrengung zu einem Rückschlag führt oder wie ich meine Schlafqualität verbessern könnte.

Daheim ging der Abklärungsmarathon weiter, denn ich hatte ja weiterhin keine gesicherte Diagnose, die auch in der Schweiz akzeptiert wurde, war und ist doch CFS (lieber wäre mir die Bezeichnung ME oder allenfalls ME/CFS) hier kein Thema. Zwar wusste ich nun, dass Epstein-Barr-Viren in meinem Blut nachgewiesen werden konnten, doch das ist bei 90 Prozent der Bevölkerung der Fall, und ich hatte einen niedrigen Blutdruck, der aber meine massiven Symptome ebenfalls nicht erklärte. Es folgten also weitere gynäkologische, neurologische, genetische und psychiatrische Untersuchungen und so weiter und so fort.

Die Fäden im Verlauf all dieser Abklärungen – der Suche nach einer Diagnose und deren Ursachen, nach geeigneten Ärzten und Ärztinnen, nach möglichen Behandlungsansätzen –, diese Fäden sind von Anfang an in den Händen meines Vaters zusammengelaufen. Er hat es sich sozusagen zu seiner Lebensaufgabe gemacht, mir jetzt, da er pensioniert ist, beizustehen auf meinem Weg zu einer Besserung oder gar Genesung. Dafür bin ich ihm außerordentlich dankbar.

Fast geht vergessen, dass ich neben diesem Untersuchungsmarathon auch noch ein Privatleben führte. Als ich mich nach der akuten Phase endlich aufgerappelt hatte, schien meinem Freund und mir der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein zu heiraten. Das war im Spätsommer 2013. Und ich begann auch wieder zu arbeiten, und zwar als Hilfskraft in der familieneigenen Bäckerei, wo ich mir mein 50-Prozent-Pensum nach Bedarf einteilen durfte. Und Anfang 2015 wurden mir sogar wieder sechs Lektionen Musikgrundschule an einer benachbarten Primarschule anvertraut, sodass ich die Arbeitszeit in der Bäckerei entsprechend reduzieren konnte. Natürlich hatte ich auch mein geliebtes Hobby, das Tanzen, wieder aufgenommen. Mein Mann und ich besuchten zusammen Privatlektionen, um uns auf unser erklärtes Fernziel vorzubereiten, nämlich bei der Schweizer Meisterschaft zuoberst auf dem Podest zu stehen. Und das hätten wir ganz bestimmt auch erreicht, wenn uns nicht eine Beziehungskrise – und mein Gesundheitszustand – einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Unsere Ehe war nämlich in eine Sackgasse geschlittert, und nach gut zwei Jahren zog mein Mann aus. Die Trennung machte mir natürlich außerordentlich zu schaffen, obwohl wir sie im gegenseitigen Einverständnis vollzogen hatten: Meine Träume waren geplatzt, nicht nur diejenigen für uns als Paar, sondern leider auch diejenigen für uns als Tanzpartner und Schweizer Meister im Discofox! Zwar trafen wir uns im folgenden Jahr noch hin und wieder zum Tanzen, aber da sich mein Gesundheitszustand erneut zusehends verschlechterte und ich infolge unserer Trennung auch psychisch mit mir zu kämpfen hatte, war ich den Anforderungen meines Ex-Mannes bald nicht mehr gewachsen, sodass er sich nach einer neuen Tanzpartnerin umschaute und die Tanzkarriere mit ihr weiterführte. Das schmerzt bis heute.

Ich fühlte mich von allen im Stich gelassen. Auch der lokale Sozialdienst, wo ich mich nach einer Sozialberatung erkundigte, versagte. Und unglücklicherweise hatte ich kurz vorher die langjährige Psychotherapie abgeschlossen, da mir die Therapeutin mitgeteilt hatte, sie könne mich nicht länger unterstützen; was ich brauche, sei eine Körpertherapie.

Psychisch tauche ich völlig ab.

Suizidgedanken verfolgen mich.

Ich stehe in der Dusche und sehe den Duschschlauch,

wie er sich um meinen Hals legt.

Ich weiß mir nicht mehr zu helfen.

Schließlich entschied ich mich, zurück in den Kanton Bern zu ziehen. Nichts hielt mich mehr in dieser Wohnung, in dieser Umgebung zurück. Ich hatte meine Beziehung, meine Stelle, meinen Halt und meine Gesundheit verloren. Was ich brauchte, war ein Neuanfang. In der Abgeschiedenheit eines Berner Dörfchens am Eingang des Emmentals, in Linden, wollte ich ihn wagen. Dort hatte ich eine schöne Wohnung gefunden, und dort kämpfte ich mich nach meinem Umzug im Februar 2016 Schritt für Schritt zurück in den Alltag. Natürlich hätte mich meine Mutter, hätten mich meine Eltern sehr gern bei sich aufgenommen, aber ich spürte, wie wichtig es für mich war, meine Selbstständigkeit zu behalten. Für eine psychologische Unterstützung wandte ich mich an den Notfalldienst der psychiatrischen Klinik Münsingen, wo ich erst einmal ganz gut aufgefangen wurde.

Nun musste ich aber auch finanziell wieder auf die Beine kommen. Deshalb begann ich Teilzeit als Pferdepflegerin zu arbeiten, doch damit hatte ich meine körperliche Leistungsfähigkeit völlig überschätzt. Schon nach zwei Wochen gab ich die Stelle wieder auf und begann mich nach einem kleinen Pensum Musikstunden an einer Primarschule umzuschauen. In Burgdorf wurde ich endlich fündig, und dort blieb ich auch, solange es mir möglich war, einer Arbeit nachzugehen. Doch da ich mit diesem 34-Prozent-Pensum meinen Lebensunterhalt nicht oder nur ganz knapp bestreiten konnte, beantragte ich zum zweiten Mal eine Invalidenrente, obwohl mir vor dem Termin beim Gutachter graute. Schließlich wurde ich nach Basel aufgeboten, was natürlich mit einem großen Kraftaufwand verbunden war. Dort aber – „oje, tut uns leid“ – hatte man meinen Termin falsch eingetragen und schickte mich unverrichteter Dinge wieder nach Hause! Zweiter Termin: wieder in Basel, wieder mit letzter Kraft, wieder voller Angst, ich könnte mit meiner finanziellen Not alleingelassen werden, wieder in einer miserablen psychischen Verfassung, sodass ich immer wieder zu heulen begann. Ob dies den Ausschlag gab, dass mir die Psychiaterin eine Viertelsrente zusprach – ich weiß es nicht (das Gutachten mochte ich nicht lesen, da ich die Lektüre des ersten noch immer nicht verdaut hatte). Jedenfalls kam ich nun mit meinem kleinen Lohn und den zusätzlichen 450 Franken Rente schlecht und recht über die Runden. Jetzt brauchte ich, damit ich mich auch psychisch wieder erholen konnte, nur noch eines: ein Pferd.

Eine Beziehung zu einem Pferd pflegen zu können ist für mich von fundamentaler Bedeutung, und Sämis Rolle, der damals in mein Leben getreten ist, kann nicht überschätzt werden. Er hat mich aus der tiefen emotionalen Krise herausgeholt und meinem Leben wieder einen Sinn gegeben, denn da es ihm körperlich wie psychisch genauso schlecht ging wie mir, verpflichtete ich mich mit der Reitbeteiligung, Verantwortung für ihn zu übernehmen. Sämi brauchte mich, und deshalb überwand ich mich Tag für Tag und schleppte mich in den Stall, um nach ihm zu schauen und ihn auszureiten – dazu war ich nämlich gerade noch in der Lage. Dem Umgang mit seinen sehr komplizierten Besitzern hingegen war ich auf die Dauer nicht gewachsen, sodass ich die Reitbeteiligung eines Tages schweren Herzens wieder aufgeben musste. Aber ich versprach Sämi, als ich mich von ihm verabschiedete, ich würde ihn, sobald es mir finanziell möglich wäre, aus seiner misslichen Lage befreien. Und dieses Versprechen habe ich ja tatsächlich später eingelöst und ihn mithilfe meiner Eltern losgekauft. Sämi und ich gehören nun zueinander.

Natürlich war ich immer auch auf menschliche Unterstützung angewiesen, das heißt, ich ging, nachdem ich mich dank der Klinik Münsingen wieder gefangen hatte, zuerst zu einer Psycho- und später zu einer sogenannten Energietherapeutin, die mir von meiner Hausärztin empfohlen worden war. Die Energietherapeutin ist zu einer Schlüsselperson in meiner ganzen Geschichte geworden: Sie führte mich in die Meditation ein. Und, ganz wichtig, sie wusch mir den Kopf, indem sie mich mit der Tatsache konfrontierte, dass ich es mir in einer Art Opferrolle bequem gemacht hatte. Deshalb stellte sie mich vor die Wahl: für ein Leben als hilflose Leidende oder für die bewusste Annahme eines Lebens mit meiner Krankheit. Dank ihr habe ich mich auf den anspruchsvollen Weg gemacht zu lernen, meine Situation und meinen angeschlagenen Körper zu akzeptieren und gleichzeitig zu unterscheiden zwischen mir als intakter Person und den körperlichen Einschränkungen und Schmerzen, die mir meine Krankheit aufzwingt. Körper und Seele gehören zusammen, aber ich darf mich und mein innerstes Wesen nicht über den Körper – und schon gar nicht über die Schmerzen – definieren. In diesem Lernprozess stecke ich noch immer, und wohin er mich führen wird, weiß ich nicht. Auch diese Ungewissheit muss ich zu akzeptieren versuchen.

Mit der Tatsache hingegen, dass die organische Ursache meiner Beschwerden weiterhin ignoriert wurde, wollte ich mich nicht abfinden. Auch der Case Manager, der mich zu der Zeit meiner Anstellung in Burgdorf begleitete, fand, es müsse sich etwas ändern, und schickte mich wegen der wiederholten Arbeitsausfälle in eine Klinik zur psychosomatischen Rehabilitation. Doch leider stellte sich dieser Weg als völlig falsch heraus. Nicht die Psyche war der Grund meiner gesundheitlichen Probleme, sondern es war genau umgekehrt: Meine Krankheit führte zu den psychischen Problemen. Das alte Lied einmal mehr …

Vielleicht hätte mir dieser Aufenthalt in der Rehaklinik Hasliberg im Frühling 2018 ja trotzdem gutgetan, wenn man meinen gesundheitlichen Einschränkungen Rechnung getragen hätte, indem zum Beispiel der haushälterische Umgang mit meinen verbleibenden Energieressourcen thematisiert worden wäre. Dem war aber nicht so, und als ich dem strikten Programm nicht folgen konnte, da sich meine Symptome nach jeder Anstrengung verschlimmern (das nennt sich PEM, Post-Exertional Malaise – siehe Seite 190), wurde ich ganz einfach mir selbst überlassen, wurde im wörtlichen Sinn vergessen. Nach sechs Wochen, in denen es mir immer schlechter ging, hatte ich genug und erzwang eine Entlassung. Doch leider erhielt ich einen wunderbar geschönten Abschlussbericht, in dem zu lesen ist, wie gut ich auf die Therapie reagiert habe. Und genau dieser Bericht, welcher der Invalidenversicherung heute vorliegt, macht mir nun einen Strich durch die Rechnung, wenn ich auf die Anerkennung meiner organischen Krankheit poche. Doch davon später mehr. Da diese Reha nichts gebracht hatte, ich aber meiner beruflichen Belastung kaum mehr gewachsen war, beantragte ich schweren Herzens eine Umschulung. Dann wartete ich. Und ich wartete. Denn die IV benötigte eineinhalb Jahre, um zum Schluss zu kommen, ich sei zu krank für eine Umschulung! Für eine Erhöhung meiner Rente war ich aber offenbar noch immer nicht krank genug …

Im Frühling 2019, also noch vor der Antwort der IV, wurde ich zuerst 100 Prozent krankgeschrieben und erhielt ein halbes Jahr später die Kündigung (immerhin hatte ich aus meinem früheren Fehler gelernt und reichte sie nicht selbst ein). Seither arbeite ich nicht mehr. Das macht mich traurig, aber es ist auch eine Erleichterung.

Finanziell hat sich erst einmal nicht viel geändert, da ich bis zum Sommer 2020 Krankentaggeld bekam. Zwar beantragte ich, noch bevor dieses auslief, Ergänzungsleistungen, doch erneut muss ich mich seither in Geduld üben, denn eine Antwort habe ich vorläufig keine erhalten. Das heißt, im Moment lebe ich von den 450 Franken der IV und von meinem Ersparten, bis es praktisch aufgebraucht ist. Dann werde ich wohl zum Sozialamt gehen müssen.

Das Eingeständnis mir selbst gegenüber, dass ich nicht mehr arbeiten konnte, dass ich damit die Schwelle von einer leicht bis moderat zu einer moderat betroffenen ME/CFS-Patientin überschritten hatte, machte mir zu schaffen. Zudem fühlte ich mich einsam in meiner Wohnung im stillen Linden und igelte mich immer mehr ein. Natürlich hätte mich meine Mutter noch so gern unterstützt, im Haushalt etwa, aber dafür wohnte sie nun mal viel zu weit weg.

Mein Vater allerdings hatte der ganzen Entwicklung nicht untätig zugesehen, sondern war im Hintergrund unablässig auf der Suche nach den Auslösern meiner Symptome und nach möglichen Heilungschancen, und so stieß er beim Durchkämmen der Literatur auf die Lyme-Borreliose. Sie gehört ja zu den Infekten, die als Trigger von ME/CFS fungieren können. Also unterzog ich mich, vor und nach dem Reha-Aufenthalt, verschiedenen Untersuchungen, um einen eindeutigen Befund zu erhalten, ob ich an Borreliose leide oder nicht, denn ein Nachweis sowohl der Antikörper als auch des Erregers selbst ist nicht ganz einfach. Schließlich gelang es einem Spezialisten im Kanton Baselland, die Borrelien nachzuweisen. Da es sich jedoch bei mir um eine chronische Form der Krankheit handelte, war es zu spät für eine Antibiotikakur, weshalb der Arzt eine IHHT-Sauerstofftherapie vorschlug, die sich auf der Ebene des Zellstoffwechsels abspielt, indem mithilfe von Sauerstoff die in Gelenken, Nerven oder Gehirn verborgenen Borrelien „herausgelockt“ und angreifbar gemacht werden. Für die Beendigung der Therapie konnte ich zum Glück von Liestal in eine Praxis in Thun wechseln. Und ich sprach gut darauf an, sodass die Borrelien im Blut nicht mehr nachgewiesen werden konnten – was leider nicht hieß, dass es mir nun sehr viel besser gegangen wäre. Also folgten eine Überweisung zum Physiotherapeuten – der mich immer noch einmal wöchentlich massiert – und weitere Therapieversuche in derselben Praxis in Thun, die allerdings alle erfolglos blieben, sodass man mich dort nicht mehr länger behandeln wollte.

Mein Vater aber dachte nicht ans Aufgeben und fädelte schon bald die nächsten Abklärungen ein, von denen ich hier nur auf die wichtigsten zu sprechen kommen möchte: Im Herbst 2019 fuhr ich zum zweiten Mal zu Doktor Kersten nach Bamberg – an die strapaziöse Reise mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, von der ich mich nie vollständig erholte, will ich mich lieber nicht erinnern. Kersten machte alle möglichen Tests, unter anderem auch Hirnscans, und präsentierte mir nach deren Auswertung einmal mehr eine lange Liste von Störungen.


Ausblick aus Mélina Imdorfs Wohnküche in die Berge – ganz links Eiger, Mönch und Jungfrau

Foto: © privat

Genetischer Polymorphismus, Dehydrogenase, Autonome Neuropathie, Oxidativer Stress5, diverse Mangelzustände und Chronisches Stress- und Erschöpfungssyndrom.

Mit diesem Untersuchungsergebnis voller unverständlicher Fremdwörter schickte mich meine Hausärztin zur Anlaufstelle für Patienten ohne Diagnose am Universitätsspital Zürich, wo – man glaubt es kaum – am 19. Dezember 2019, gut sieben Jahre nach Doktor Kerstens erstem Befund, ein Chronisches Fatigue Syndrom festgestellt wurde – allerdings mit dem Vermerk versehen, eine spezifische somatische Ursache sei nicht auszumachen. Die psychische Störung werde ich wohl mein Leben lang nicht mehr los!

Da die Diagnose CFS jetzt am Universitätsspital Zürich bestätigt worden war (wie gesagt, noch lieber wäre mir ME/CFS gewesen, aber ich will den Bogen nicht überspannen), schien der richtige Zeitpunkt gekommen zu sein, die Viertelsrente der IV anzufechten. Also musste ich im Sommer 2020 vier weitere Gutachtertermine wahrnehmen. Man stelle sich das so vor: Mein Vater fuhr mich im Camper nach Basel, damit ich während der Fahrt liegen und mich nach den Gesprächen sofort wieder entspannen konnte. Am schlimmsten war der letzte Termin – bei einem total lustlosen Psychologen, dessen Aufgabe es war, meine kognitive Beeinträchtigung festzustellen. Ich musste stundenlange Tests, die meine volle Konzentration erfordert hätten, über mich ergehen lassen. Ich war trotz der kurzen Pausen, und obwohl wir den Termin von Anfang an auf zwei Tage verteilt hatten, völlig am Anschlag. Wenn sich diese Überforderung allerdings in einer vollen Rente niederschlägt, will ich mich nicht beklagen, wenn nicht, wäre der Preis, den ich dafür bezahlen musste, jedoch viel zu hoch, denn diese Überanstrengung macht mir bis heute zu schaffen. Das Verfahren läuft noch …

Übrigens hatte ich im Februar 2020 meine Selbstständigkeit in Linden aufgegeben und war hierher nach Mühlethurnen gezogen, wo ich ganz in der Nähe meiner Eltern auf eine wunderschöne Wohnung gestoßen war – zur riesigen Erleichterung vor allem meiner Mutter. Sie hatte sich ständig Sorgen gemacht, wenn sie mich zum Beispiel nicht auf dem Mobiltelefon erreichen konnte. Jetzt entlastet sie mich im Haushalt, damit ich meine Energie, oder was mir davon noch geblieben ist, für schönere Dinge einsetzen kann. Dafür möchte ich ihr an dieser Stelle danken!

Was ich mir für die Zukunft wünschen würde? Eine höhere IV-Rente würde mich von den finanziellen Ängsten erlösen und mir sogar von Zeit zu Zeit eine Verschnaufpause wie jene in der Herberge Häutligen6 ermöglichen, die ich im September genießen durfte. In Häutligen wurde ich angeleitet, meine Grenzen zu akzeptieren, und ich wurde liebevoll unterstützt auf dem Weg zu mir selbst, denn die Menschen dort sahen und nahmen mich so, wie ich bin. Und dort konnte ich bei der täglichen Meditation am Morgen und Abend zur Ruhe kommen.

Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der ME/CFS als neurologische Krankheit bekannt und anerkannt ist, sodass ich mich nicht dauernd erklären und rechtfertigen muss. Und natürlich wünsche ich mir auch mein Leben zurück, in dem ich meinen Beruf als Rhythmiklehrerin zumindest stundenweise ausüben und am sozialen Geschehen in meinem Umfeld teilhaben kann.

Ja, ich wünsche mir, dass ich den Wartesaal verlassen kann, in dem ich seit Jahren lebe, durch dessen Fenster ich zuschaue, wie die Züge vorbeischnauben, in dem ich vergeblich darauf warte, dass einer anhält und mich zurück ins Leben bringt.

Meinen Rucksack mit den Schmerzen, der Erschöpfung und der Hoffnungslosigkeit würde ich auf dem Bänklein im Wartesaal zurücklassen.

Ursachen von ME/CFS

Die meisten ME/CFS-Betroffenen sind, bevor die Krankheit ihr Dasein umkrempelt, völlig gesund und führen ein aktives Leben. Warum es dazu kommt, ist noch weitgehend ungeklärt. Bei den Ursachen scheint es sich um äußerst komplexe Vorgänge zu handeln, für deren besseres Verständnis in der Fachliteratur oft ein dreistufiges Modell herangezogen wird:

Stufe 1 – prädisponierende Faktoren (predisposing factors),

Stufe 2 – beschleunigende Faktoren (precipitating factors),

Stufe 3 – verfestigende Faktoren (perpetuating factors).

Leben mit

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