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Einleitung

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An den Anfang von »Und dann schreit sie Ortstarif!« möchte ich meinen Dank stellen:

Ich bin dankbar dafür, dass ich den neun in diesem Buch vorgestellten Menschen und einigen ihrer Angehörigen begegnen durfte. Ich habe sehr viel von ihnen gelernt, und jedes der Gespräche hat mich zutiefst berührt und bereichert.

Ich bin dankbar für das Vertrauen, das ich als Aussenstehende habe erfahren dürfen. Es war alles andere als selbstverständlich, dass mir nahezu unbekannte Menschen – einige sah ich beim Interview zum ersten Mal – Einblick in schwierige, peinliche, verletzende Situationen sowie in ihre Ängste und Nöte gewährt haben.

Und ich bin dankbar, dass man mir zugetraut hat, die persönliche Befindlichkeit von Tourette-Betroffenen in Worte fassen zu können, denn im Grunde genommen war es doch eine Anmassung. Wer nicht selbst an der Krankheit leidet, abgesehen natürlich von nahen Angehörigen, kann nicht wirklich nachvollziehen, wie es sich anfühlt, mit einem »Tic-Kobold« – so nennt Corinna Schmitz ihre Tics – zusammenleben zu müssen. Trotzdem ist mir von Anfang an grosses Wohlwollen entgegengebracht worden.

Zu guter Letzt bin ich auch dankbar für mein eigenes Schicksal. Ich fragte mich jedes Mal, wenn ich wieder in die Lebensgeschichte einer Person mit Tourette eintauchte: Warum ausgerechnet ich nicht? Warum bin ich gesund, und sie muss diese heimtückische, anstrengende und oft stigmatisierende Krankheit ertragen? Das Leben ist nicht fair.

Wenn wenigstens die Gesellschaft fair wäre. Dies ist wohl der grösste Wunsch der meisten im Buch porträtierten Menschen: Die Gesellschaft möge ihnen gegenüber unvoreingenommen sein und sie so akzeptieren, wie sie sind. Es kann doch nicht sein, dass sie wegen ihrer unwillkürlichen Tics, an denen sie wahrlich schon genug leiden, auch noch diskriminiert werden, dass sie als »Geisteskranke« oder »Spinner« abgestempelt oder als Menschen mit geistiger Behinderung angesehen werden! »Und dann schreit sie Ortstarif!« möge dazu beitragen, dass sich das Wissen um das Tourette-Syndrom als neuropsychiatrische Erkrankung durchsetzt.

Die Idee, ein Buch zum Thema Tourette-Syndrom zu schaffen, brütete meine Freundin und Akkordeonlehrerin Anne-Lise Meier, deren Lebensgeschichte den Reigen der Porträts eröffnet, zusammen mit mir aus. Sie erzählte mir manchmal – vor oder nach der Musikstunde – von der Krankheit, an der sie seit dem Ende ihres fünften Lebensjahres leidet, einer Krankheit, die sich aber während des Musizierens überhaupt nicht bemerkbar machte. Rückblickend bin ich erschüttert, denn heute weiss ich, wie viel Kraft sie aufgebracht haben muss, um ihre Tics so vollständig unterdrücken, vertuschen, umleiten und aufschieben zu können. Über die Jahre nahm dann unsere Idee immer konkretere Gestalt an: Es sollte nicht ihre Biografie werden, sondern ihr Porträt würde eines von mehreren sein, damit sich die individuellen Geschichten der Tourette-Betroffenen wie Mosaiksteine in ein Gesamtbild der Krankheit einfügen konnten.

Doch wie würde ich Menschen finden, die sich für ein Gespräch mit mir und für die Veröffentlichung ihrer Geschichte zur Verfügung stellen?

Es war einmal mehr Anne-Lise Meier, die mich dabei unterstützte. Sie ermöglichte es mir, mein Projekt in einer fünfminütigen Präsentation den Teilnehmenden eines deutschen Tourette-Camps vorzustellen. Und kaum hatte ich diese beendet, bildete sich schon eine Schlange vor meinem Tisch, sodass ich mehr Anwärter und Anwärterinnen hatte, als mir lieb war, denn ich wollte im Buch ja auch einige Personen aus der Schweiz zu Worte kommen lassen.

Deshalb musste ich schweren Herzens eine Auswahl treffen. Ich hielt mich dabei an vier Kriterien: Es sollten erstens verschiedene Altersgruppen, zweitens beide Geschlechter, drittens von der Krankheit unterschiedlich stark betroffene und viertens an möglichst unterschiedlichen Tics leidende Menschen sein.

Auch war mir wichtig, dass in den Porträts einige der Faktoren vorkommen, die bei der Entwicklung eines Tourette-Syndroms beteiligt sein bzw. dieses beeinflussen können. Und da männliche Personen drei- bis viermal häufiger vom Tourette-Syndrom betroffen sind als weibliche – aus ungeklärter Ursache –, habe ich das Verhältnis 6:3 gewählt. Drei leben in der Schweiz, sechs in Deutschland.

Ein kurzer Kommentar zur Auswahl der neun Porträtierten:

Simon Piringer hat eine schwach ausgeprägte Form der Krankheit, während Corinna Schmitz, Hermann Krämer und Anne-Lise Meier an einem hohen Tic-Level leiden. Bei den beiden Jugendlichen Jerome Mock und Jannik Sämann, die ebenfalls von heftigen Symptomen betroffen sind, ist der weitere Verlauf noch offen, da die Tics häufig nach der Pubertät zurückgehen oder sich sogar »auswachsen« können. Isabelle Imdorf, Michael Pöllen und Julien Schulz liegen irgendwo dazwischen.

Hinsichtlich der ursächlichen Faktoren seien die genetische Veranlagung (im Fall von Anne-Lise Meier, Corinna Schmitz und Julien Schulz), die Frühgeburt (ebenfalls Julien Schulz), eine psychosoziale Belastungssituation in der Kindheit (Isabelle Imdorf, Anne-Lise Meier und Corinna Schmitz), eine Infektion (Anne-Lise Meier) und eine medikamentöse Behandlung respektive Chemotherapie (Michael Pöllen) genannt.

Michael Pöllen ist zudem der erste deutsche Tourette-Patient mit einem Hirnschrittmacher. Auch das letzte Porträt hat seine Besonderheit: Es stellt gleich zwei Personen, Corinna Schmitz und Julien Schulz, vor. Bei ihnen handelt es sich um Mutter und Sohn.

Zusätzlich zu den Porträts bietet »Und dann schreit sie Ortstarif!« in den – hellgrau unterlegten – Sachtexten (je einer pro Porträt), im Glossar1 und in Wolfram Kawohls Vorwort ein breites Spektrum an Sachinformationen zum Thema Tourette-Syndrom.

Ich möchte meiner Hoffnung Ausdruck geben, dass viele Menschen sich durch die Schicksale der in »Und dann schreit sie Ortstarif!« porträtierten Tourette-Betroffenen berühren lassen und dass sie in Zukunft, wenn sie im Zug oder Tram, auf der Strasse oder in einem Einkaufsladen, im Kino oder in der Kirche einem Menschen mit Tics begegnen, dessen Verhalten einordnen können.

Dazu mein ganz persönliches Schlüsselerlebnis, dem ich allerdings noch eine Bemerkung vorausschicken muss: Ich weiss natürlich, dass ich mich, indem ich es preisgebe, der Kritik aussetze, auch ich hätte Vorurteile gegenüber Menschen mit Tourette. Aber genau dieses Thema – Vorurteile – möchte ich mit meiner Geschichte beleuchten: Sie sitzen tief in uns allen drin, so eben auch in mir, und sie sind uns oft überhaupt nicht bewusst. Um sie auszurotten, müssen wir jedem Menschen offen begegnen, müssen uns informieren, und wir müssen vor allem ehrlich zu uns selbst sein.

Im Herbst 2018, als ich noch ganz am Anfang der Arbeit an »Und dann schreit sie Ortstarif!« stand, stiegen mein Mann und ich in einem Dorf auf dem Land aus dem Bus aus. Mein Mann begab sich zum Wanderwegweiser, während ich zum WC-Häuschen eilte. Auf dem Weg dorthin kreuzte ich eine mir unbekannte Frau. Ich warf einen kurzen Blick in ihr Gesicht und erschrak über den verhärmten Ausdruck darin. Als ich zu meinem Mann zurückkehrte, sagte er: »Siehst du diese Frau dort? Beim Vorübergehen hat sie geflucht, als ob ich ihr etwas angetan hätte.« Er meinte die verbitterte Frau von vorhin. Da durchzuckte mich unwillkürlich der Gedanke: die arme Spinnerin. In diesem Moment machte sie rechtsumkehrt und rannte über die Strasse. Auf der gegenüberliegenden Seite blieb sie kurz stehen, von uns abgewandt, bevor sie die Strasse abermals überquerte und rasch in den soeben eingefahrenen Bus einstieg.

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Was, wenn die Frau an einem Fluch-Tic litte und diesen vor dem Betreten des Busses nochmals hatte entladen wollen? Was, wenn sie Tourette-Patientin wäre? Was, wenn ich, indem mir automatisch das Wort »Spinnerin« durch den Kopf ging, einen Menschen mit Tics verkannt hatte, wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick? Dieses Erlebnis hat mich seither immer begleitet.

Worte des Dankes stehen am Anfang der Einleitung, und mit Worten des Dankes möchte ich sie abschliessen:

Mein besonderer Dank gilt Isabelle Imdorf, Hermann Krämer, Jerome Mock, Simon Piringer, Micha Pöllen, Jannik Sämann, Corinna Schmitz, Julien Schulz. Und insbesondere Anne-Lise Meier, die mir nicht nur ihre Lebensgeschichte anvertraut, sondern mich während der gesamten Arbeit am Projekt mit Rat und Tat unterstützt hat.

Ebenso Olaf Blumberg für sein kritisches Mitdenken und meinem Mann Bernhard Krapf für das Gegenlesen der Texte sowie für seine – nicht ganz widerwillige – Begleitung auf meinen Reisen nach Deutschland.

Sehr froh war ich über Wolfram Kawohls Beistand. Er hat alle meine Fragen beantwortet, hat die Sachtexte studiert und kommentiert und ein informatives Vorwort verfasst.

Eine Liste der Sponsorinnen und Sponsoren findet sich auf Seite 2. Sie haben an das Projekt geglaubt und es mit ihren finanziellen Beiträgen tatkräftig unterstützt. Vielen Dank auch ihnen. Und das letzte Dankeschön richtet sich an den Orell Füssli Verlag, der eine Herausgabe erst möglich machte.

Johanna Krapf, Oktober 2019

1Die Fachbegriffe im Glossar sind alphabetisch angeordnet. In den Porträts wird mit den Zahlen in Klammern darauf verwiesen, z.B. (1).

Und dann schreit sie Ortstarif!

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