Читать книгу Und dann schreit sie Ortstarif! - Johanna Krapf - Страница 9
Das Tourette-Syndrom als Fulltime-Job
ОглавлениеAnne-Lise Meier lebt zusammen mit ihren fünf Katzen, dem 14-jährigen Merlin, der Findelkatze Jonny, mit Shiva, die aus dem Tierheim zu ihr gekommen ist, und Schmusekater Marley sowie Yam-Yam, dem jüngsten Mitglied der Katzenfamilie, am Rand einer friedlichen Einfamilienhaussiedlung in Wolfhausen im Zürcher Oberland. Das Dorf liegt etwas abseits des Durchgangsverkehrs, gebettet in eine sanfte Hügellandschaft. Dort ist seit fünfzehn Jahren Anne-Lises Lebensmittelpunkt, dort fühlt sie sich wohl und geborgen.
Ihr helles, geräumiges Haus teilt sie nicht nur mit ihren geliebten Katzen und zahlreichen grossen Kakteen der Gattung Wolfsmilch, sondern auch mit ihren Tics (41). Hier – und nur hier – kann sie ihnen jederzeit freien Lauf lassen, kann tun und lassen, was sie will, ohne beobachtet und am Massstab der Normalität gemessen zu werden und ohne sich selbst kontrollieren zu müssen. Dieser geschützte Raum ist aber auch wichtig, da sie, zusätzlich zum Tourette, am Asperger-Syndrom (3) leidet.
Haus und Garten sind Anne-Lises Refugium, das ihr Vater mit einem Erbvorbezug möglich gemacht hat. Dafür ist sie ihm dankbar. Fast immer ist sie hier anzutreffen, denn vor zweieinhalb Jahren wurde sie durch ihre Krankheit gezwungen, die Stelle als Akkordeon- und Schwyzerörgelilehrerin – das Schwyzerörgeli ist eine Schweizer Variante des Akkordeons – an der Musikschule Rapperswil-Jona, wo sie zwei Jahrzehnte lang gewirkt hatte, aufzugeben. Das Ende ihrer Unterrichtstätigkeit kam als Erlösung, da sie für die Unterdrückung respektive das Aufschieben ihrer Tics immer mehr Kraft hatte aufbringen müssen. Zwar hatte sie schlecht und recht damit leben gelernt, denn sie war bei den Schülerinnen und Schülern, die sie mit grossem Einfühlungsvermögen und tiefer Freude an der Musik unterrichtete, sehr beliebt. Doch an die Auftritte anlässlich der Schülerkonzerte hatte sie sich nie gewöhnt, hatte sich von jeher davor gefürchtet, vor die Leute treten und diese begrüssen zu müssen, und hatte deswegen heftige Bauchkrämpfe über sich ergehen lassen. Nur schon die Vorstellung, dass ihr in der Öffentlichkeit ein Fluch, zum Beispiel »fick di« (23), oder ein Ausruf wie etwa »huhu« oder »du-du-du« herausrutschen könnte, hatte ihr Höllenqualen bereitet. Und bis sie nach diesen Anlässen endlich den sicheren Hafen ihres Hauses erreichte, war der Druck jeweils kaum mehr auszuhalten. Oft hatte ihr nichts geholfen, ihn abzubauen, ausser sich flach auf das Bett oder den Boden zu werfen, zu schreien, mit dem ganzen Körper zu rotieren und wild mit den Armen und Beinen zu zappeln wie ein Käfer auf dem Rücken, bis sie nach zwei bis drei Stunden erschöpft war, zur Ruhe kam und einschlief. In den letzten Jahren stressten sie nun aber zunehmend auch die eigenen Konzerte, die Begegnungen mit anderen Lehrkräften sowie mit Eltern und, ja, selbst die Unterrichtsstunden. Trotzdem, der Gedanke, die sichere Stelle aufzugeben und in Zukunft von der Invalidenversicherung abhängig zu sein, flösste ihr lange Zeit grosse Furcht ein, die sie davon abhielt, eine Rente zu beantragen.
So lange, bis es einfach nicht mehr anders ging, bis sie keine Kraft mehr hatte, ihre Tics Tag für Tag sozusagen wörtlich herunterzuschlucken, nur um sie am Abend doppelt und dreifach ausleben zu müssen. Bis sie sie nicht mehr mit immer höher dosierten Medikamenten in Schach zu halten vermochte. Bis sie die Angst nicht mehr ertrug, die Tics könnten sich plötzlich einen Weg aus ihrem Inneren bahnen. Anne-Lise liess sich schweren Herzens krankschreiben und lebte eineinhalb Jahre vom Krankentaggeld der Musikschule, bevor ihr eine volle Invalidenrente zugesprochen wurde. Welch eine Erleichterung! Endlich musste sie kein Doppelleben mehr führen. Langweilig wurde und wird es ihr trotzdem nie. Ihr Alltag ist ausgefüllt mit Tics, denn, wie sie selbst sagt, das Tourette ist – in dieser extremen Ausprägung – ein Fulltime-Job. Einzig ein Schwyzerörgeli, das immer griffbereit in der Stube steht, erinnert noch an ihre Musikkarriere. Es ist das Instrument, dem eigentlich seit ihrer Jugend ihre grosse Liebe gegolten hat. Darauf spielt sie denn auch weiterhin zu ihrem eigenen Vergnügen altbekannte und neue Melodien.
Nicht nur ihre Freude am Schwyzerörgeli, sondern auch ihr kunsthandwerkliches Geschick, ihre Liebe zum Material Glas und vor allem ihre Kreativität spannen einen Bogen über ihr ganzes Leben. Anne-Lise kann die Welt vergessen, wenn sie sich einer ihrer zahlreichen künstlerischen Tätigkeiten hingibt: dem Bemalen von Steinen, dem Schaffen von Glasperlen – dem Perlenwickeln und -drehen –, dem Brennen von Konservendosen zu Windlichtern sowie Laternen und Tiffany, einer speziellen Technik der Glasverarbeitung.
Das Kunsthandwerk bzw. das Basteln, wie es genannt wird, wenn Kinder sich damit beschäftigen, und das Musizieren gehören zu den wenigen positiven Erfahrungen, die Anne-Lise in ihrer Kindheit machen durfte. Ansonsten war diese von Ängsten, Zwängen, Verletzungen und Ausgrenzungen bestimmt.
Nie gab ihr ihre Familie den nötigen Schutz, die Liebe und Unterstützung, die sie – wie jedes Kind – gebraucht hätte.
Anne-Lises heutige Familie sind ihre fünf Katzen: Merlin, Jonny, Shiva, Marley und Yam-Yam.
Anne-Lise Meier über den Kater Merlin, geboren im Herbst 2004:
Mit 1 ½ Jahren wurde Merlin ins Tierheim gebracht, worauf ein Herr T. ihn aufnahm. Herr T. verstarb unerwartet im Februar 2010.
Glücklicherweise wurde ich gefragt, ob ich Merlin ein Zuhause geben könne! Er ist solch ein toller Kater!
Anne-Lise kam im Juli 1968 als jüngstes von vier Kindern zur Welt. Nun hatten ihre Eltern – der Vater war Sekundarlehrer, die Mutter Gitarrenlehrerin – zwei Pärchen: den fünf Jahre älteren Bruder Peter und die ein Jahr nach ihm geborene Schwester Silvia, den nur gerade elf Monate vor Anne-Lise zur Welt gekommenen Bernhard respektive Berni und sie. Eigentlich hätten acht weitere Kinder folgen sollen, denn zwölf war die Wunschzahl der Mutter. Aber da das vierte Kind, Anne-Lise eben, seine Eltern übermässig beanspruchte, wie sie oft genug betonten, kamen sie davon ab. Das Wissen um diese »Schuld« und um ihre Andersartigkeit hat Anne-Lises ganze Kindheit überschattet. Sie sei sehr schwierig, sie sei nicht wie ihre Geschwister, musste sie sich immer und immer wieder anhören. So sagte die Mutter einmal zu ihr: »Vater macht sich allmählich Sorgen, du seist nicht normal!« Anne-Lise selbst kann sich vor allem an ihre übermächtige Schüchternheit erinnern und empfand sich deshalb schon als Dreijährige als »anders«. Das kleine Mädchen versteckte sich oft hinter der Tür, wollte nicht mit den Kindern im Quartier herumtollen, wehrte sich gegen die musikalische Früherziehung, hing an Mutters Rockzipfel. Das »Schäfchenspiel« aber, das liebte es über alles. Dabei schlüpfte die Mutter in die Rolle eines Mutterschafes, das unter starken Presswehen ihr Junges – Anne-Lise – zur Welt brachte und inniglich säugte. Sehnte sich das Mädchen vielleicht danach, nochmals geboren zu werden, diesmal jedoch als normales Kind? Wünschte es sich einen besseren Start ins Leben? Und wie kam die Mutter dazu, sich dieses Spiel auszudenken?
Den Vater hingegen liess Anne-Lise nicht an sich heran. Auch das wurde ihr bis ins Erwachsenenalter unzählige Male vorgeworfen: Sie habe immer geweint, wenn er sie in die Arme genommen habe, ja, sie habe ihn überhaupt nicht gern gehabt.
Die Sprachentwicklung des Mädchens verlief ebenfalls nicht so, wie es sich die Eltern – beide Pädagogen – vorgestellt und gewünscht haben mochten, aber nicht etwa wegen seiner Lippenspalte. Diese war schon vor der Geburt verheilt und hatte nur eine kaum sichtbare Narbe hinterlassen, auf die Anne-Lise sogar stolz war. »Ich habe eine Narbe, die älter ist, als ich es bin«, sagte sie gern. Nein, ihre auffällige Redeweise hatte damit nichts zu tun, sondern war vielmehr von der Sprache der Eltern geprägt. Anne-Lise übernahm nämlich sowohl Wörter vom Vater, der Schweizerdeutsch sprach, als auch von der Mutter, die sich in Französisch ausdrückte, und mischte beide Sprachen munter durcheinander. Das tönte dann etwa so: »Maman, gisch mir le Pain?« (Mutter, gibst du mir das Brot?) Darüber konnte sich nun die ganze Familie, allen voran der Vater, krummlachen. Anne-Lise aber war völlig irritiert. Was war denn auf einmal so lustig? Sie protestierte, sie weinte, es kam zum Streit und sogar zu Handgreiflichkeiten, doch niemand nahm wahr, wie hilflos sie sich fühlte. Immer wieder wurde sie ausgelacht, bis sie schliesslich im Alter von drei Jahren einfach aufhörte zu reden. Ein Jahr, zwei Jahre, drei Jahre war sie nahezu stumm. Erst beim Eintritt in den Kindergarten schickten die Eltern das Mädchen zu einer Sprachlehrerin, die es schliesslich überzeugen konnte, seine Verweigerungshaltung aufzugeben. Anfänglich drückte es sich allerdings nur mit Wortbrocken aus, wie das Kleinkinder tun. Deshalb unterscheidet sich sein Stummsein vom Selektiven Mutismus (37), bei dem betroffene Kinder und Jugendliche nur in bestimmten Situationen sprechen, dann aber völlig normal.
Anne-Lise Meier über Jonny, vermutlich geboren im Jahre 2007:
Jonny ist eine Findelkatze. Er strich im Quartier herum und schien sein Zuhause nicht mehr zu finden. Jedenfalls hat ihn der Tierschutz eingefangen und zu meinem Tierarzt gebracht. Da sich die Besitzer von Jonny nie gemeldet haben, konnte ich ihn schlussendlich in meine Katzenfamilie aufnehmen. Wie alle anderen ist auch er ein Riesenschatz! Und er versteht sich mit Merlin, Shiva, Marley und Yam-Yam wunderbar!
In Anne-Lises fünfter Woche als Kindergartenkind, an einem Freitagnachmittag, erkrankte sie schwer. Sie weiss noch ganz genau, wie sie aus heiterem Himmel von einem Gefühl des Unwohlseins ergriffen wurde, das von Augenblick zu Augenblick schlimmer wurde, und wie sie dachte: Gleich halte ich es nicht mehr aus. Wenn ich bloss nach Hause dürfte. Drei Tage dauerte der mysteriöse Infekt: sehr hohes Fieber, aber keinerlei andere Symptome – zumindest kann sich Anne-Lise an keine erinnern. Doch schon am Montag hatte sie nur noch leicht erhöhte Temperatur, und die Mutter entschied: »Morgen musst du wieder in den Kindergarten gehen.« Da spürte Anne-Lise, wie sich ein Druck in ihrer linken Körperseite vom Kopf bis zu den Zehen ausbreitete und den Körper auszudehnen versuchte. Es fühlte sich an, als ob irgendetwas tief in ihr drin kaputtgegangen sei. Nur was wohl? Sie hatte Angst, riesige Angst, sodass sie ihre Scheu zu reden überwand und die Mutter fragte: »Mami, wird das wieder gut?« Genervt herrschte die Mutter das Kind an: »Sicher wird das wieder gut.«
Rückblickend ist es Anne-Lise klar: Der heftige Infekt stand in einem kausalen Zusammenhang mit ihrem Tourette-Syndrom, dessen erste Manifestation genau einen Tag später erfolgte. Er muss es ausgelöst haben. Da dieses Phänomen, das sogenannte PANDAS (33), bei dem nach einer Streptokokkeninfektion abrupt neuropsychiatrische Symptome einsetzen, jedoch erst seit 1998 systematisch erforscht wird, kann man heute nicht sicher sagen, ob Anne-Lises Tourette darunterfällt, zumal sie damals nicht von einem Arzt untersucht wurde. Ausserdem wurde der Zusammenhang von Infekt und Tourette bisher (noch) nicht wissenschaftlich untermauert. Eine andere Ursache von Anne-Lises Tourette ist hingegen wahrscheinlich, und zwar das Vorliegen einer genetischen Komponente, denn ein entfernter Verwandter ihrer Mutter litt gleichfalls unter einer Tic-Störung.
Zurück zum Infekt: Den Tag nach seinem Abklingen wird Anne-Lise nie vergessen. Ohne Begeisterung geht sie wieder in den Kindergarten, denn unter den vielen Buben und Mädchen, beim Schwatzen, Spielen und Streiten, fühlt sie sich nun mal nicht wohl. Sie wartet ungeduldig, bis die Lehrerin den Kindern erlaubt, das zu tun, worauf sie Lust haben. Wie immer will Anne-Lise zeichnen, da sie sich dabei in ihre eigene Welt zurückziehen kann. Sie schaut sich um, wer sich ausser ihr noch dafür entschieden hat, damit sie nicht selbst fragen müsse, ob sie zeichnen gehen dürfe. Doch ausgerechnet an diesem Dienstagmorgen ist sie die Einzige. Was tun? Wie schaffen es die anderen bloss, einfach so zu sagen: »Darf ich zeichnen?«, denkt Anne-Lise, und sie hämmert sich ein: Ich kann das auch, ich will das auch, ich gehe jetzt zur Lehrerin, ich rede einfach los. Zwanzig Minuten lang versucht sie sich innerlich zu stärken, zwanzig Minuten lang lässt sie die Lehrerin nicht aus den Augen. Und dann nimmt sie all ihren Mut zusammen und baut sich vor ihr auf, doch noch bevor sie ein Wort herausbringt, schiesst ein kurzer, scharfer Schmerz durch ihren Bauch. Dieser verkrampft, verknotet sich. Anne-Lise zuckt zusammen, ihr Gesicht schneidet eine Grimasse. Doch schreien, nein, schreien tut sie nicht.
Es war ein Schlüsselerlebnis, denn von diesem ersten Auftreten an bis zum heutigen Tag begleiten sie solche Bauchkrämpfe. Mehrmals täglich, im Extremfall weit über hundert Mal, zerreisst sie der Schmerz, bevor er nach ein paar Sekunden so abrupt, wie er aufgetreten ist, wieder abklingt. Ein Schmerz, den sie auf einer Schmerzskala von eins bis zehn mit zehn bewerten würde. Er ist bis heute das extremste Symptom ihres Tourette-Syndroms geblieben. Und für das Kindergartenkind damals war er eine traumatische Erfahrung, die es überhaupt nicht verarbeiten konnte. Jahrzehnte später erst würde Anne-Lise realisieren, was dahintersteckt: Der Schmerz tritt immer dann auf, wenn sie Tics unterdrückt, das heisst, in einem Umfeld, in dem sie unter keinen Umständen auffallen will, oder in einer Situation, in der das Ticcen2 stört, zum Beispiel, wenn eine der Katzen auf Anne-Lises Bauch kuschelt. Aber der Schmerz kann sie auch in Situationen, die mit Aufregung, ja sogar mit Freude verbunden sind, überfallen. Ausgelöst wird er durch das »Verschlucken« der Tics, das zu einer qualvollen Verkrampfung des Bauches führt. Und je nachdem, wie plötzlich diese auftritt, drückt sich der Schmerz auch in Anne-Lises Mimik und Gestik aus. Erst als sie diesen Zusammenhang durchschaut hatte, entdeckte sie, dass sie diesen Krampf bewusst lösen oder gar verhindern kann, und zwar, indem sie die Tics zulässt, ohne sich darum zu kümmern, ob sie dabei beobachtet wird.
Das sechsjährige Mädchen war natürlich völlig überfordert mit dieser Situation. Immerhin erzählte es zu Hause von den Krämpfen, als sie immer häufiger auftraten. Also liessen es die Eltern vom Kinderarzt wie auch von einem Spezialisten, einem Kinderneurologen, untersuchen. Es folgten verschiedene Abklärungen, doch erst als Anne-Lise in der fünften Primarklasse war, ergaben sie ein konkretes Bild: Sie litt unter einer leichten Epilepsie (14). Denn unterdessen wurde sie nicht nur von Bauchkrämpfen, sondern immer wieder auch von Absenzen sowie Anfällen heimgesucht. Im Grunde genommen hatte allerdings das eine mit dem anderen gar nichts zu tun, mit anderen Worten, die Ursache der Krämpfe blieb weiterhin im Dunkeln. Anne-Lise aber machte sich die Diagnose Epilepsie zunutze, indem sie ihre motorischen Tics, die ihr mehr und mehr zusetzten, als epileptische Anfälle tarnte. Sie hatte ja selbst auch keine Erklärung für ihren rätselhaften Bewegungsdrang. Nun schlüpfte sie also manchmal in die Rolle der zappelnden Epilepsiekranken, um so ihre Tics zu entladen. Aber natürlich alles immer nur im Geheimen.
Wer sich vor Augen führt, mit welchen Schwierigkeiten Anne-Lise während ihrer ganzen Kindheit und Jugend zu kämpfen hatte, erkennt unschwer: Ihr Leben war ein einziger Kraftakt. Da waren die Tics selbst, die sie mit verschiedenen Strategien (38) geheim zu halten, zu unterdrücken oder umzuleiten versuchte, und da waren die Bauchkrämpfe, mit denen sie das Verschlucken der Tics teuer bezahlte und die sie sich möglichst nicht anmerken lassen wollte. Da war die Angst, sie könne wegen der Tics auffallen – eine Angst, die ihrerseits unzählige weitere Phobien auslöste: im Lift mit anderen Leuten eingepfercht zu sein oder in der Öffentlichkeit, zum Beispiel beim Einkaufen, sprechen zu müssen, das Telefon abzunehmen oder die Haustür aufzumachen. Diese Ängste liessen ihr Leben zu einem einzigen Hürdenlauf werden. Ausserdem machte ihr ihre Schüchternheit zu schaffen und rief ebenfalls Bauchkrämpfe hervor. Und da waren die Epilepsie und die Medikamente, die sie ihretwegen einnehmen musste.
Wenn Anne-Lise wenigstens mit Verständnis seitens der Eltern und der Lehrpersonen hätte rechnen dürfen, dann wären die drastischen Einschränkungen ihres Bewegungsspielraums vielleicht gerade noch zu ertragen gewesen, doch dem war leider nicht so. Sanktionen der Eltern – einsperren, kalt abduschen, Beschimpfungen, ja, auch Schläge sowohl des Vaters als auch der Mutter – waren an der Tagesordnung, denn beide waren überfordert mit ihrer Jüngsten und sahen die Schuld allein bei ihr. Aggressiv sei sie, ein Problemkind, ihr Verhalten sei nicht normal, und dieses Bild übernahm Anne-Lise ganz selbstverständlich, so sah sie sich selbst, damit wuchs sie auf. Auch in der Schule war sie immer unter Strom, denn ihr fehlendes Selbstvertrauen und die Angst, vor der ganzen Klasse sprechen zu müssen, hinderten sie daran, entspannt am Unterricht teilzunehmen. Vielleicht streckte sie manchmal, wenn sie die Antwort auf die Frage der Lehrperson wusste, spontan auf, doch dann realisierte sie jeweils: Gleich werde ich aufgerufen – Scheisse, was mach’ ich denn jetzt? Rasch liess sie den Arm wieder sinken und spielte die Unschlüssige, die die Antwort nochmals überdenken muss. Denn sonst hätte sich – vermutlich – ein Tic gemeldet und sie blossgestellt. Diese Angst trübte ihre ganze Primarschulzeit, und sie führte auch dazu, dass sie bei den Mitschülerinnen und Mitschülern nicht sonderlich beliebt war.
Erst in der Oberstufe konnte sich Anne-Lise entfalten, nachdem sie sich damit abgefunden hatte, wegen ihrer Epilepsie »nur« die Realschule, damals die unterste von drei Anforderungsstufen im Kanton Zürich, besuchen zu dürfen. Diese Einteilung hatte sie nämlich schwer getroffen, so schwer, dass sie, als man sie davon in Kenntnis setzte, einen epileptischen Anfall erlitt. Denn sie als Tochter des Sekundarlehrers Meier hätte doch das Untergymnasium oder zumindest die Sekundarschule, die mittlere Stufe, schaffen müssen. Wie ihre Geschwister vor ihr. Anne-Lise in der Realschule – welch eine Schmach. Schliesslich aber machte sie dort den Knopf auf, wurde Klassenbeste und konnte sich sogar darüber freuen.
Anne-Lise Meier über Shiva, geboren am 21. Juni 2008:
Meine Katzenfamilie wurde am 31. Oktober 2011 grösser: Die süsse Miezekatze Shiva kam dazu.
Shiva war ins Katzenheim gebracht worden, weil sie anscheinend den Bezug zur Besitzerin verloren habe (ist wohl eher umgekehrt!). So oder so, Shiva ist eine süsse Bohne und ich freue mich, sie in meine Katzenfamilie aufgenommen zu haben.
Not macht erfinderisch. Und die Not der heranwachsenden Anne-Lise war sehr gross, aber ebenso gross war zum Glück auch ihr Erfindergeist. Sie entwickelte unbewusst immer neue Strategien, um mit ihren gesundheitlichen und psychischen Einschränkungen zurechtzukommen. Oberstes Gebot: nur ja nicht auffallen und sich in der Öffentlichkeit nie anmerken lassen, dass sie wegen des Umleitens ihrer Tics unter Druck stand oder dass sie von Bauchkrämpfen gequält wurde.
Um den Druck abzubauen, kaute sie sehr oft an den Fingernägeln. Zuweilen schaffte sie es, alle zehn innerhalb von fünf Minuten zurückzubeissen, und zweimal knabberte sie den rechten Daumennagel sogar bis auf den weissen Nagelmond (Lunula) hinunter. Auch an der Mundschleimhaut kaute sie häufig herum. Und sie zupfte an den Barthaaren – mit den abgefressenen Fingernägeln nicht ganz leicht –, die als Nebenwirkung der Epilepsiemedikamente in ihrem Gesicht sprossen. Speziell effizient, da nicht zu sehen, war – und ist immer noch – das Zappeln mit den Zehen. Nicht zu vergessen das Epileptikerspiel, dem sie sich zu Hause weiterhin hinzugeben pflegte. Vor dem Einschlafen wiederum konnte ihr die Flucht in Tagträume etwas Linderung verschaffen. So entwickelte sie eine sogenannte »Rettungsgeschichte«, in der sie sich ausmalte, wie sie mit der Ambulanz ins Spital gefahren wurde, wo sich alle liebevoll um sie kümmerten und sie umsorgten.
Und sie dachte sich sogar eine andere Person aus – sie nannte sie im Nachhinein »Lise« –, in die sie, indem sie ihre gesamte mentale Kraft bündelte, hineinschlüpfen konnte, wenn sie gar keine andere Möglichkeit mehr sah, die Tics zu unterdrücken oder sie, ohne beobachtet zu werden, auszuleben: Das war zum Beispiel in Schullagern oder während der Familienferien der Fall, wo sie sich nicht einmal am Abend, wenn die Tics nicht mehr aufzuhalten waren, in ihr eigenes Zimmer zurückziehen konnte. Deshalb legte sie sich jeweils in ihrer Not auf das Bett und zwang ihr Bewusstsein, die Vorstellung heraufzubeschwören, sie sei von Kopf bis Fuss gelähmt und könne nur gerade die Augen und vielleicht noch die Zehen bewegen – mit anderen Worten, sie leide am sogenannten Locked-in-Syndrom (24). So konnte sie die aufgestaute Energie innerlich zum Fliessen bringen, ohne dass dies äusserlich sichtbar wurde, was aber zur Folge hatte, dass sie ein schlechtes Gewissen entwickelte: Man darf sich doch nicht in diese schreckliche Situation hineinwünschen. Und das wiederum löste eine neue Angst aus, nämlich, die Geschichte könnte zur Strafe plötzlich Realität werden.
Die Liste dieser Strategien zur Unterdrückung ihrer Tics ist lang, und über einige hat sie nie oder kaum je gesprochen, auch nicht mit Ärzten, mit ihrer Familie oder mit ihren Freundinnen, obwohl sie sich dafür bestimmt nicht schämen müsste. Warum auch? Eigentlich sind sie doch ein Beweis für ihre aussergewöhnliche Kreativität.
Diese Gabe zeigt sich zum Glück nicht nur bei der Unterdrückung der Tics, sondern sie kommt auch in Anne-Lises Hobbys zum Vorschein: Schon als Kind bastelte sie mit Feuereifer, strickte und häkelte, klebte und zeichnete, und sie gestaltete Kärtchen, zum Beispiel für Weihnachten. In dieser Hinsicht, anders als etwa beim Kauf von Kleidern, waren die Eltern sehr grosszügig und sorgten dafür, dass das notwendige Material reichlich vorhanden war. Auch was die musikalische Erziehung anging, sparten sie nie und ermöglichten es allen ihren Kindern, ein Instrument zu lernen. Anne-Lise fiel es nicht leicht, sich zu entscheiden: Klavier, Geige und Flöte waren schon durch die älteren Geschwister besetzt. Schliesslich wünschte sie sich eine Gitarre, wohl nicht zuletzt, weil ihre Mutter Gitarrenlehrerin war. Also kaufte diese dem Kindergartenkind eine Ukulele und unterrichtete es gleich selbst. Nach einem Monat aber war seine Begeisterung bereits wieder abgeflaut. Es folgten ein Jahr Klavierunterricht und zwei Jahre Blockflötenstunden. Und dann, nach einer einjährigen Pause, erklärte Anne-Lise eines Tages, jetzt wisse sie, was sie sich wirklich wünsche: Sie wolle Schwyzerörgeli spielen lernen. Sie hatte immer mehr Gefallen an der Ländlermusik gefunden, nachdem ihr eine Tante viele Schallplatten mit Schweizer Volksmusik geschenkt hatte. Da sich jedoch in der Region weit und breit kein Schwyzerörgeli-Lehrer auftreiben liess, begann Anne-Lise mit Akkordeonunterricht. Und dabei blieb sie denn auch, und zwar nicht, weil die Mutter sie gewarnt hatte, vor Ende der Schulzeit – in fünf Jahren also – dürfe sie damit nicht aufhören, sondern weil ihr dieses Instrument mittlerweile grosse Freude bereitete. Das wiederum freute die Mutter, und so kaufte sie sich eines Tages sogar ein eigenes Akkordeon, damit sie zusammenspielen konnten.
Anne-Lise Meier über Marley, geboren am 21. April 2009:
Marleys Familie ist in eine neue Wohnung gezogen, welche aber im 4. Stock lag. Solch einen Schmusekater nahm ich natürlich sehr gern in meine Katzenfamilie auf!
Als die Berufswahl anstand, studierte Anne-Lise ein Büchlein, in dem viele Berufe vorgestellt wurden. Darin fand sie drei, durch deren Beschreibung sie sich angesprochen fühlte. Bei allen waren Präzisionsarbeit und feinmotorisches Geschick gefragt, während der Kundenkontakt wenig oder gar keine Rolle spielte: Goldschmiedin, Zahntechnikerin und Opto-Laboristin. Den Ausschlag für die Ausbildung in einem Optik-Labor gab schliesslich das Material, mit dem Anne-Lise arbeiten wollte: das Glas. (Glas fasziniert sie, die Glasperlenkünstlerin, bis zum heutigen Tag.) Und sie hatte gut gewählt: Sie mochte es, Brillengläser einzufassen, Gestelle zu flicken, zu löten oder zu kitten, und alles immer im stillen Kämmerlein respektive in der Werkstatt. Nach zwei Jahren schloss sie die Lehre, die übrigens nur für kurze Zeit existierte, bevor sie wieder mit derjenigen des Optikers zusammengelegt wurde, erfolgreich ab.
Nach der Ausbildung arbeitete Anne-Lise neun Monate in diesem Beruf, besuchte aber gleichzeitig den Vorkurs am Konservatorium Zürich, denn unterdessen war ihr Entschluss gereift, ganz auf die Musik zu setzen und Akkordeonistin zu werden. Da dieses Studium in der Schweiz damals jedoch noch nicht angeboten wurde, sah sie sich – erst siebzehnjährig – gezwungen, nach Trossingen in Süddeutschland zu ziehen. Dort blieb sie fast zwei Jahre. Zuerst studierte sie zwei Semester am Konservatorium. Danach entschied sie sich, an die Musikhochschule, wo der bekannte Akkordeonist Hugo Noth (geboren 1943 in Fribourg) unterrichtete, zu wechseln. Also begann sie sich auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten, indem sie Stunden bei einem seiner Studenten nahm. Doch noch bevor sie sich anmelden konnte, liess Noth verlauten, er nehme keine neuen Studierenden mehr an. Zum Glück erfuhr Anne-Lise etwa zur selben Zeit, dass die Berner Hochschule für Musik und Theater (HMT) das Akkordeonstudium mittlerweile auch anbot, und zwar in Biel, sodass sich ihre Enttäuschung in Grenzen hielt. Kurzerhand packte sie ihre Siebensachen und zog zurück in die Schweiz.
In Biel studierte sie nun neun Semester bei Professor Teodoro Anzellotti (geboren 1959 in Candela im süditalienischen Apulien). Es war eine gute Zeit, die sie sehr genoss, was natürlich nicht heisst, dass ihr die Tics eine Verschnaufpause gegönnt hätten. O nein, um sie in Schach zu halten, musste sie sich sogar hin und wieder in den Zwischenstunden in den Locked-in-Zustand versetzen, und praktisch jeden Abend gab sie sich ihrem Epileptikerspiel hin, zappelte und zuckte. Auch ihre Rettungsgeschichte spann sie vor dem Einschlafen weiter, bevor sie jeweils nach rund einer Dreiviertelstunde wegdöste. Höchst konzentriert – und trotzdem ticcend – malte sie sich jedes Detail der Geschichte aus. Der rote Faden war derselbe wie früher: Sie wird auf der Strasse in Zürich, in aller Öffentlichkeit, misshandelt, dann zusammengelesen von lieben Leuten, mit der Ambulanz ins Spital gebracht, dort wieder zusammengeflickt. Doch gegen die Tics ist kein Kraut gewachsen. Die Ärzte sind machtlos. Nach und nach erweiterte sie die Geschichte: Sie liegt auf einem Schragen im Spital, an ihrem Kopf, der fixiert ist, wird eine Operation vorgenommen. Doch auch in dieser Variante können ihr die Ärzte nicht helfen.
Später erfuhr sie übrigens einmal von einer Psychologin, dass das Ausdenken solcher Rettungsgeschichten typisch sei für Menschen, die in ihrer Kindheit geschlagen wurden.
Trotz ihrer Krankheit absolvierte Anne-Lise ihr Akkordeonstudium mit Erfolg, sie arbeitete an ihrer Technik und befasste sich intensiv mit der klassischen Musik. Gerade Johann Sebastian Bach (1685–1750) oder auch Domenico Scarlatti (1685–1757), überhaupt die barocke Musik, lassen sich wunderbar auf dem Akkordeon interpretieren. Aber gleichzeitig war sie immer auch auf der Suche nach einer schlüssigen Erklärung für ihre Tics, die Bauchkrämpfe und für ihre seltsamen »Mödeli« bzw. Gewohnheiten, ohne die sie ihren Alltag nicht bewältigen konnte. Nur die Epilepsie, die einzige Krankheit, deren Diagnose auch wirklich stimmte, galt mittlerweile als überwunden, sodass Anne-Lise die Medikamente absetzen konnte. Alle anderen Symptome, unter denen sie litt, wurden von den konsultierten Fachpersonen falsch beurteilt und als psychische Phänomene abgetan, und diese Ansicht übernahm selbst Anne-Lise. Die Bauchkrämpfe zum Beispiel sah sie lange Zeit als eine Art Panikattacken – bis sie eines Tages las, dass Letztere in der Regel langsam und konstant abklingen. Das aber bedeutete, dass ihre Krämpfe etwas anderes sein mussten, denn sie endeten von einer Sekunde zur anderen. Also war sich Anne-Lise sicher: Diese Diagnose konnte nicht zutreffen. Ebenso hatte sie den Beweis, dass die motorischen Tics nicht wie angenommen auf die Epilepsie zurückzuführen waren, da ja das Zappeln diese überdauert hatte. Zudem konnte Anne-Lise die Bewegungen willentlich unterdrücken. Das Rätselraten ging folglich weiter: Ob die Ursache der Tics vielleicht bei den Amalgam-Füllungen in den Zähnen lag? Oder hatte ein psychisches Trauma sie ausgelöst?
Bevor Anne-Lise eine Festanstellung als Akkordeon- und Schwyzerörgelilehrerin in Rapperswil-Jona antrat, nahm sie eine Stellvertretung in Aarburg an. Doch ausgerechnet in dieser Zeit entwickelte sich an jedem dritten Tag ein neuer Tic, angefangen mit einem Zucken des linken Beins, gefolgt vom linken Arm und vom linken Fuss. Ständig vergrösserte sich ihr motorisches Tic-Repertoire, bis nach sieben Monaten die ersten vokalen Tics dazukamen: »hu«, »he«, »henne« bzw. nach zehn Monaten das Artikulieren ganzer Sätze. Und dann wurde es immer bunter: Anne-Lise wiederholte eigene Laute (32) und die anderer Menschen (13) – so tauchte in ihrem Tic-Wortschatz auf einmal »Ortstarif« auf, das sie einem befreundeten Touretter nachgeplappert hatte und in der Folge ständig sagen musste –, sie ahmte Bewegungen nach und fühlte sich schliesslich sogar gezwungen, Gegenstände und Personen anzutippen. Auch die Koprolalie würde sich noch dazugesellen, aber erst etwa zwölf Jahre später.
Warum bloss wurde Anne-Lise genau zu dem Zeitpunkt, als sich ihre Lebensumstände so positiv entwickelten, von dieser Tic-Welle erfasst? Erst im Nachhinein sieht sie die Zusammenhänge, die dazu geführt haben mussten.
Zu Beginn ihres Berufslebens hatte sie sich beim Schopf gepackt und sich gesagt: Jetzt muss sich alles ändern, du bist erwachsen, du musst deine schlechten Angewohnheiten loswerden. Du kannst nicht mit angeknabberten Fingernägeln vor die Kinder treten – ist doch peinlich. Du darfst nicht mehr an den Barthaaren zupfen – geht gar nicht. Also liess sie sich als Erstes von einer Therapeutin jedes lästige Barthaar einzeln mittels Elektroepilation, bei der die Haarwurzel durch einen genau dosierten Stromimpuls zerstört wird, entfernen. Damit hatte sich Anne-Lise jedoch gleichzeitig auch eine ihrer Hauptstrategien im Umgang mit ihren Tics genommen. Und als sie als Nächstes künstliche Fingernägel, sogenannte Tips, auf die Nagelenden aufklebte, damit sie nicht mehr daran kauen könne, fiel eine weitere wichtige Strategie weg.
Einen Tag später nahm sie plötzlich einen Druck in ihrem Inneren wahr, der ständig anstieg, und zwar seltsamerweise nur in ihrer linken Körperhälfte. Seither fühlt sie sich wie ein Dampfkochtopf auf einer heissen Herdplatte, dessen Ventil ständig loszuzischen droht. Bis zum heutigen Tag – mit Ausnahme einer kurzen, ticfreien Phase, als wie durch ein Wunder der Dampfkochtopf von einer Stunde auf die andere abkühlte. Das Ventil senkte sich, und die Tics blieben aus. Zweieinhalb Monate lang war Anne-Lise ruhig. Erlöst. Wie eine Gesunde. Aber eben nur wie, denn dann meldeten sich die Beschwerden langsam und schleichend zurück, eine um die andere: der Druck in der linken Körperhälfte, ein erster schwacher Tic, ein zweiter, etwas stärkerer Tic, bis nach etwa einem halben Jahr alles wieder beim Alten war und das Tourette-Syndrom Anne-Lise fest im Griff hatte. Warum sich der Druck nur links bemerkbar macht und warum er plötzlich für eine Weile abfiel, kann sie sich bis heute nicht erklären.
Es seien hier noch einige der unzähligen Tics aufgelistet, die sie seither plagen:
Zu den motorischen gehören unter anderen Kniebeugen, Bein-, Zehen-, Arm-, Hand- und Fingerbewegungen, ein Zucken des Kopfes, mit dem Bein stampfen, klatschen, sich auf den Bauch oder an den Kopf schlagen, Augen reiben und zukneifen sowie verdrehen, den Mund aufsperren, die Zunge herausstrecken und grimassieren.
Auch die vokalen Tics zeugen von der Kreativität ihres Tourettes: Sie reichen von »u-u« und »du-du-du« (auf einem Ton, auf zwei Tönen, bis zur Terz und bis zur Quinte) über »hei-hei« und das Singen der ganzen Tonleiter auf der Silbe »wau« bis hin zu Tierlauten, Zungen- sowie Lippengeräuschen und dem Schreien. Auch die »F-Worte« (»fick di«, »fuck«) – eine der wohl bekanntesten, jedoch eher seltenen Manifestationen des Tourette-Syndroms – fehlen nicht.
Anne-Lises originellster Tic aber ist das Spritzen von Speichel mit den unter der Zunge liegenden Speicheldrüsen.
Nur während des Essens, zumindest wenn es ihr schmeckt, und während des Schlafens ist sie absolut ticfrei, mit anderen Worten, ihr Körper steht im Wachzustand ständig unter Strom.
Der plötzliche, fulminante Ausbruch der Tics Mitte zwanzig war natürlich höchst unangenehm, stressig und kräftezehrend und forderte Anne-Lises Kreativität bis zum Äussersten, da sie unter keinen Umständen auffallen wollte. Aber gleichzeitig spürte sie auch eine grosse Erleichterung, denn je mehr Tics, desto weniger Bauchkrämpfe plagten sie.
Während der Unterrichtsstunden konnte Anne-Lise die Tics einigermassen kontrollieren, indem sie die Zehen wie wild bewegte oder im Notfall auch einmal kurz hinter dem Rücken des Kindes oder hinter einer Schranktür ticcte. Aber in den Pausen liessen sie sich nicht mehr unterdrücken, sodass Anne-Lise kaum Zeit hatte, sich im Lehrerzimmer mit anderen Lehrkräften auszutauschen, obwohl sie dort, wie sie annahm, erwartet wurde. Stattdessen zuckte und strampelte sie in ihrem Kämmerchen, während sie ihre Kollegen im Gang plaudernd vorbeigehen hörte. Was würden die bloss von mir halten, wenn sie mich hier sähen, dachte sie verzweifelt – und wusste eigentlich selbst nicht, was sie von sich halten sollte, denn sie hatte ja auch keine stimmige Erklärung für ihr seltsames Gebaren.
Doch nun sollte die Diagnose nicht mehr lange auf sich warten lassen: Nach dem ersten Auftreten der motorischen Tics wurde Anne-Lise einmal mehr von ihrem Hausarzt in die Epilepsieklinik eingewiesen, um abklären zu lassen, ob es sich bei den Bauchkrämpfen nicht doch um eine Sonderform der Epilepsie handle. Das tue es nicht, bescheinigte ihr die Oberärztin schliesslich, sondern es seien psychogene Anfälle – was natürlich völliger Unsinn war. Die Untersuchung hatte sich aber trotzdem gelohnt, denn bei der Schlussvisite fiel zum ersten Mal das Wort Tourette, das Anne-Lise allerdings nicht richtig verstehen konnte. Sie hörte nämlich den Chefarzt beim Durchsehen des Berichts mit der verantwortlichen Ärztin flüstern. – Er: »Das ist doch ein Tu---.« – Sie: »Aber die Tics sind ja erst aufgetreten, als die Patientin 26 war.« – Er: »Ist doch wurst.« Die schriftliche Diagnose wurde aber leider nicht mehr geändert. Vermutlich wollte der Chefarzt die Oberärztin nicht blossstellen.
Bald darauf besuchte Anne-Lises Schwester Silvia dieselbe Epilier-Therapeutin, die schon Anne-Lise behandelt hatte. Sie plauderten miteinander, und die Therapeutin fragte: »Wie geht es eigentlich Ihrer Schwester?«
»Ja eben, nicht so gut, sie zuckt ständig so komisch.«
Da antwortete sie: »Könnte das nicht diese Krankheit, ›Tauer‹ oder so ähnlich heisst sie, sein?« Eineinhalb Jahre zuvor habe sie einen Bericht darüber im Magazin GEO (des Verlagshauses Gruner+Jahr) gelesen. Ganz aufgeregt rief Silvia nach der Behandlung Anne-Lise an und erzählte ihr von dieser mysteriösen Krankheit. Jetzt müssten sie nur noch den richtigen Namen finden. Zum Glück sammelte Bruder Bernis Freundin schon seit Längerem Geo-Hefte, weshalb sich Freundin, Schwester und Bruder hinter Anne-Lises Rücken trafen und stundenlang eins ums andere durchblätterten. Kurz vor Mitternacht klingelte ihr Telefon: »Wir haben den Artikel gefunden. Die Krankheit heisst Tourette-Syndrom.«
Nie zuvor hatte Anne-Lise einen Bericht so rasch verschlungen wie »Der zuckende Chirurg«. Und dann ging sie damit schnurstracks zu ihrem Hausarzt. Dieser schickte sie zum Neurologen, und jener wiederum meinte: »Das Tourette-Syndrom? Ja, doch, das könnte tatsächlich zutreffen.«
Als die Diagnose feststand – rund ein Jahr zuvor hatte Anne-Lise ihre Stelle an der Musikschule Rapperswil-Jona angetreten –, wurde sie für fünf Monate krankgeschrieben. Einerseits vermochte sie die Tics mittlerweile während des Unterrichts nicht mehr zu unterdrücken, andererseits konnte jetzt, als klar war, unter welcher Krankheit sie litt, endlich die Suche nach einer hilfreichen medikamentösen Behandlung (26) angegangen werden. Nun musste Anne-Lise immer wieder neue Psychopharmaka ausprobieren, und eines machte sogar einen Klinikaufenthalt notwendig, damit seine Dosierung und allfällige Nebenwirkungen überwacht werden konnten. Diese bekam sie denn auch eindrücklich zu spüren, indem sie einen Milchfluss entwickelte, der für mehrere Babys gereicht hätte. Offenbar war sie mit dem Medikament regelrecht vollgestopft worden. Die Tics aber stoppte es trotzdem nicht, es blockierte sie lediglich, sodass sie sich nicht mehr entladen konnten, was den Druck in der linken Körperhälfte nur noch erhöhte. Anne-Lise fühlte sich, wie wenn sie nächstens zerplatzen müsste.
Nach dem Spitalaufenthalt ging sie erneut zum Neurologen, doch dieser wimmelte ihre Klage über die bisher eingesetzten Präparate ab: »Wenn Sie solche Nebenwirkungen produzieren, dann fallen viele Medikamente weg. Eigentlich bleibt jetzt nur noch ein einziges übrig.« In seinem Blick las Anne-Lise: Nun geben Sie sich halt ein bisschen Mühe. Dann nannte er den Namen eines hochpotenten Antipsychotikums, das eigentlich gegen schwere Wahnvorstellungen eingesetzt wird. Anne-Lise erschrak, denn sie hatte gehört, welch gravierende Nebenwirkungen es manchmal hervorruft. Glücklicherweise fiel ihm jedoch noch ein weiteres Medikament ein, das zwar ebenfalls massiv in den Stoffwechsel eingreift und Kreislaufbeschwerden bis hin zum Kollaps zur Folge haben kann, das Anne-Lise aber weniger Furcht einflösste, warum auch immer. Also entschied sie sich dafür – und sie hatte Glück: Es dämmte ihre Tics recht gut ein. Das nimmt sie denn auch bis zum heutigen Tag.
Ticfrei aber war Anne-Lise trotz der relativ wirksamen medikamentösen Therapie nicht, ausser, wie erwähnt, beim Essen, beim Schlafen sowie während der kurzen Auszeit.
Immerhin blieb ihr Gesundheitszustand jahrelang recht stabil, sodass sie sich auf ihre Tics einstellen und ganz gut mit ihnen umgehen konnte. Die Musikschülerinnen und -schüler jedenfalls merkten nichts davon. Anne-Lise unterrichtete unterdessen bis zu 59 Lektionen pro Woche, gab regelmässig Konzerte mit mehreren Ensembles, mit denen sie hauptsächlich osteuropäische Musik und französische Walzer (Musette) spielte – und wie sie spielte! –, und sie beschäftigte sich in ihrer Freizeit immer intensiver mit ihren kunsthandwerklichen Tätigkeiten: Erst fertigte sie aus Draht und kleinen Perlen hübsche Tierchen an und begann sich mit der Tiffany-Glaskunst zu beschäftigen. Dann lernte sie das Glasperlendrehen und kreiert seither Schmuck, der wegen seines kunstvollen Farbenspiels und der aussergewöhnlichen Präzision weit über ihren Freundeskreis hinaus bekannt und beliebt ist. Und ausserdem verwandelt sie mithilfe eines Schneidbrenners alte Konservendosen in romantische Teelichter und Laternen.
Anne-Lise Meier über Yam-Yam, geboren ums Jahr 2009:
Meine Katzenfamilie wuchs am 8. März 2012. Yam-Yam ist eine Findelkatze. Warum die Besitzer ihre Katze nicht vermissten, ist mir ein Rätsel. Solch ein wunderbarer Kater! Nach zehn Tagen fühlte er sich bei mir bereits wie zu Hause und verstand sich auch schon prima mit allen anderen Katzen.
Im Grossen und Ganzen ging es Anne-Lise also recht gut, obwohl sie täglich viel Kraft aufwenden musste, um die Tics zu kontrollieren, sie umzuleiten, im Versteckten herauszulassen und auf den Abend zu verschieben. Doch dann, vor etwa sechs Jahren, war ihre Kraft endgültig aufgebraucht. Die Tics verstärkten sich immer mehr, bis sie eine Höchststufe erreichten und sich nicht mehr geheim halten liessen. Seither pfeift das Ventil des Dampfkochtopfs fast ununterbrochen, und manchmal droht er gar zu explodieren. Deshalb musste Anne-Lise schliesslich ihre Stelle aufgeben.
Heute geht sie kaum mehr unter die Leute: Sie verzichtet auf Konzert- und Kinobesuche, bringt das Einkaufen so rasch als möglich hinter sich, meidet öffentliche Veranstaltungen und reist nur mit Bus und Bahn, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Denn die Vorstellung, sie könnte in der Öffentlichkeit ticcen, verstärkt den Tic-Druck, der wiederum, indem sie die Tics möglichst unterdrückt, die schmerzhaften Bauchkrämpfe auslöst. Zudem tut es Anne-Lise weh, wenn auch in anderer Weise, dass sie manchmal erleben muss, wie ihr Menschen aus dem Weg gehen, weil sie sich durch die Tics irritieren lassen.
Einsam fühlt sie sich trotzdem nicht, denn sie hat einen kleinen, aber treuen Freundeskreis – und ihre Katzenfamilie. Dafür ist sie dankbar.
Aus dem Tourette-Alltag
Auf dem Motorrad geht’s voran,
ist doch viel bequemer als mit der Bahn.
Ich merke, eine Zuckung steht bevor,
auf dem Bike zu ticcen, das gibt doch sicher
keinen Terror.
Plötzlich, es geht so schnell,
fuchtelt mein Arm in der Luft, wie ein Rebell.
Schon oft erlebt, ist nicht so schlimm,
doch diesmal komm ich auf die Hupe, die tönt so
schrill.
Der Autofahrer schaut mich fragend an:
Was hab ich ihr denn angetan?
Ich sag mir, lass es lieber raus mit einem Schrei,
sonst kriegst du es noch mit der Polizei!
Unbekümmert fahre ich an einem Haus vorbei,
realisiere zu spät, dort gärtnert eine Frau.
Doch da hilft nichts, der Schrei ist raus,
die Frau steht auf, vor Schreck ganz weiss.
Sie verfolgt mich nun mit scharfem Blick.
Sie kennt mich jetzt, ich wink zurück!
Anne-Lise Meier
Strategien
Viele vom Tourette-Syndrom betroffene Menschen geraten wegen ihrer motorischen bzw. vokalen Tics – unwillkürlichen Bewegungen respektive Äusserungen von Lauten oder Geräuschen – immer wieder in unangenehme oder peinliche Situationen und müssen damit rechnen, mindestens angestarrt, womöglich sogar angepöbelt zu werden. Kein Wunder, dass sie dies vermeiden möchten. Doch sie können oder wollen ja nicht rund um die Uhr zu Hause bleiben. Deshalb entwickeln sie Bewältigungsstrategien im Umgang mit ihrer Krankheit.
Das können Strategien sein, die darauf abzielen, die Tics zu unterdrücken oder aufzuschieben, indem innere Spannung in eine andere Richtung kanalisiert und so in Schach gehalten wird: durch das Kreuzen der Beine, das Zappeln mit den Zehen, das Kaugummi- oder Nägelkauen, das Kneten einer Knetmasse. Oder die Tics werden versteckt: Ein künstliches Niesen kann das Hochziehen der Nase vertuschen, eine Kniebeuge täuscht über zuckende Beine hinweg, eine Hand vor dem Gesicht verdeckt die Grimasse, undeutliches Artikulieren kaschiert Fluchwörter.
Und es können Aktivitäten sein, deren Ausübung höchste Konzentration erfordert, sodass die Tics für eine Weile in den Hintergrund treten oder ganz wegbleiben: beim Musizieren etwa, beim Malen oder beim Sport. Dann bieten sich Entspannungs- bzw. Atem-Techniken an, um den krankheitsbedingten Druck abzubauen. Und auch die – tabuisierte – Selbstbefriedigung.
Eine ganz andere Strategie im Umgang mit der Tourette-Erkrankung ist das offensive Informieren darüber: etwa, wenn jemand beim Einkaufen dem Verkaufspersonal erklärt, er habe das Tourette-Syndrom, weshalb er manchmal unwillentlich zucke oder gar fluche. Beleidigende Äusserungen möge man bitte nicht persönlich nehmen. Oder wenn eine Tourette-Betroffene, die einen Vortrag halten muss, die Anwesenden gleich zu Beginn über ihre Krankheit informiert. So können stressige Situationen entschärft werden, anstatt dass die Tics durch den Stress noch zusätzlich verstärkt werden.
Auch der individuelle und anspruchsvolle Prozess des sich und seine Krankheit Akzeptierens ist eine Art Bewältigungsstrategie. Wer es schafft, zu sich zu stehen und sich nicht auf seine Tics zu reduzieren, reduzieren zu lassen, dem geht es – hoffentlich – besser. Doch wie macht man das?
2Anmerkung der Autorin: Es besteht keine Einigkeit, wie das zu »Tic« gehörende Verb geschrieben werden soll. Ist es ticken, ticen oder ticcen? Ich habe mich für »ticcen« entschieden, obwohl die Verdoppelung des c im Deutschen nicht vorgesehen ist, denn ebenso, wie sich der Tick, eine lächerlich oder befremdend wirkende Eigenheit, vom Tourette-Tic unterscheidet, darf auch das Ticken (»der tickt wohl nicht ganz richtig«) nicht mit dem Ticcen eines Tourette-Betroffenen verwechselt werden. Letztere Schreibweise lehnt sich zudem ans englische »ticcing« an.