Читать книгу Das Auge der Medusa - Johanna T. Hellmich - Страница 5
ОглавлениеAn der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit schwebte eine junge Frau, nicht sicher, in welche der beiden Welten sie gehörte. Sie wartete auf ein Zeichen, auf einen Ruf, der ihr die Richtung weisen würde. Vielleicht träumte sie bereits, vielleicht war diese Grenze bloß eine Erfindung ihres schlafenden Geistes. Sie betrachtete ihre Füße, zwischen ihnen befand sich ein silbern glänzender Faden. Sie hob zuerst den rechten Fuß und spürte, wie alles um sie verschwamm. Sie setzte ihren bloßen Fuß wieder ab, ihr helles Nachthemd wehte um ihre Knöchel. Sie hob den anderen Fuß. Eine Böe ergriff sie und hob sie mühelos in die Luft. Ihr Haar und ihr Kleid flatterten wild in dem plötzlich aufziehenden Sturm, doch spürte sie keine Furcht vor dem Gewitter. Sie wusste nun, dass sie nicht länger in der Wirklichkeit war. Der Wind trug sie höher und höher in das verborgene Land der Träume.
Der Traum, in dem sie landete, war nicht ihr eigener. Sie wusste nicht einmal, wie ihre eigenen Träume aussahen, es hatte sie noch nie dorthin verschlagen. Sie sah sich um, die Umgebung kam ihr seltsam bekannt vor, doch sie konnte nicht sagen, woher. Es war dunkler als in den meisten Träumen, als ob ein körniger Filter über allem liegen würde. Sie stand mitten auf einer Straße, in der Mitte eines kleinen Dorfes, alte Holzhäuser drängten sich dicht aneinander. Im Hintergrund stachen Berge hoch in den Himmel, ganze Ketten prägten den Ausblick. Und vor ihr auf der Straße, das Gesicht eben diesen Bergen zugewandt, stand die Figur eines kleinen Kindes, nicht älter als fünf Jahre.
Sie erkannte die Zeichen, doch sollte das eigentlich nicht möglich sein. Ihr Traumfänger sollte sie vor Albträumen beschützen, darum trug sie das Ding ja auch Tag und Nacht um ihren Hals. Sie stieß einen Fluch aus und drehte sich langsam im Kreis. Das Erste, was ihr auffiel, war, dass keines der Häuser eine Tür besaß. Türen waren normalerweise ihr Ausweg, doch diesmal wurde sie im Stich gelassen. Der Himmel war dunkel, doch es war nicht Nacht, weder Mond noch Sterne waren zu erkennen. Es war, als ob der Träumer vergessen hätte, den Himmel zu träumen. In den Häusern brannte kein Licht, und doch waren Schatten hinter den Vorhängen und Fensterscheiben zu erkennen. Wer auch immer der Träumer war, er hatte wohl kein gutes Verhältnis zu den Leuten an diesem Ort. Mit jeder Sekunde, die verging, schien die Bergkette näher zu rücken. Sie wusste, dass der Träumer dorthin musste.
Und so seufzte sie tief und ging auf das kleine Kind zu, das schon geduldig auf sie wartete. Als sie neben ihm stand, blickte es endlich zu ihr auf. Sein Blick war starr und fremd, nicht der Blick eines fünfjährigen Buben. Sie nahm seine Hand in ihre und lächelte frustriert auf ihn hinab.
„Zeig mir den Weg, Kleiner.“
Der Bub wandte sich wieder den Bergen zu und begann, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er zog sie einfach mit sich. Sie wusste, dass sie nicht selbst vorangehen konnte und sich der Geschwindigkeit des Träumers anpassen musste. Es würde eine lange Nacht werden.
„Ich heiße Charly. Wo ist meine Mama?“ Seine Stimme war genauso starr und fremd wie sein Blick, ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Sie hatte beinahe vergessen, wie unheimlich Albträume waren. Sie antwortete ihm nicht, denn ihre Erfahrung sagte ihr, dass es sinnlos war, ein Gespräch mit dem Träumer anzufangen. Sie wünschte nur, Charly würde sich etwas beeilen.
Trotz ihres langsamen Tempos wurden die Berge schnell größer. Sie hatte vor langem aufgehört sich zu wundern, wie das Überbrücken von Entfernungen in Träumen funktionierte. Sie fuhr sich gedankenverloren mit ihrem Zeigefinger über die Stirn und ertastete ihr drittes Auge, als Charly erneut sprach.
„Wir sind gleich da. Wo ist meine Mama?“
Sie riss sich zusammen und ignorierte ihn. Sie könnte ihm noch so lange erklären, dass er träumte, es würde nichts bringen. Sein Unterbewusstsein würde ihn nie wahrhaben lassen, dass die Dinge, die er sah, nicht real waren, sondern bloß eine Illusion seines Geistes. Irgendetwas wollte er Charly mitteilen, vielleicht eine Warnung, vielleicht verarbeitete sein Kopf aber auch einfach nur den vergangenen Tag.
Sie wusste nicht einmal, wie alt Charly wirklich war, doch sie nahm stark an, dass seine derzeitige Erscheinung eher seinem Aussehen entsprach, das er während dieser Erinnerung hatte. Irgendetwas musste passiert sein, als er fünf Jahre alt war. Und etwas in seinem Alltag hatte ihn nun wieder daran erinnert, sodass sein Unterbewusstsein versuchte, diese unterdrückte Erinnerung zu verarbeiten. Sie wunderte sich, warum sie das alles wusste, warum sie sich so sicher war, was vor sich ging. Sie war schon lange nicht mehr in einem Albtraum gewesen und hatte sich auch nie freiwillig mit ihnen beschäftigt. Vielleicht zahlten sich die vielen Abende, die sie mit irgendwelchen Fachzeitschriften zum Thema Psychologie und Bewusstsein verbracht hatte, endlich aus.
So sehr in ihren eigenen Gedanken verloren, bemerkte sie zuerst nicht, dass sie bereits den Fuß des Berges erreicht hatten. Sie blickte hinauf, doch der Gipfel war nicht zu erkennen. Der Berg schien sich förmlich über die beiden zu lehnen wie eine furchteinflößende Kreatur. Sie bekam das Gefühl, dass der wahre Albtraum noch gar nicht begonnen hatte. Was auch immer sie auf diesem Berg erwartete, war nicht gut.
Doch bevor sie Charly fragen konnte, wohin sie als nächstes gehen mussten, waren sie nicht länger am Fuß des Berges, umgeben von Gebüsch. Stattdessen standen sie in einer Höhle, deren Decke so weit oben war, dass sie sie nicht erkennen konnte. Die Wände schienen zu leuchten, eine rote, zähe Flüssigkeit rann an ihnen herab. Sie fluchte erneut. War das Blut? Es schien ernst zu werden.
Langsam wuchs der Rest der Erinnerung aus dem Boden. Zuerst konnte sie nur Schemen erkennen, Lichter und Schatten, die sich gegenseitig durch die blutende Höhle jagten, bis sie sich endlich zu wabernden Formen zusammenschlossen.
Die junge Frau spürte Hitze in sich aufsteigen. Der Traum wurde eben um sie herum erbaut, und während Charly ein Teil des Traumes war, war sie ein Fremdkörper. Die sich ständig verändernde Materie um sie herum bereitete ihr Kopfschmerzen, und sie musste sich konzentrieren, um auf den Beinen stehen zu bleiben. Sie kniff die Augen zusammen und richtete ihren Blick auf den Höhlenboden, der einer der wenigen statischen Bestandteile des Traumes war. Da griff der Träumer nach ihrer Hand. Sie sah halb lächelnd auf Charly hinab. Auch er veränderte sich nicht, er war noch immer klein und hatte unheimlich kalte Augen. Seine Miene verriet nicht, ob er sie erkannte, geschweige denn überhaupt sah, doch seine Hand in ihrer gab ihr den nötigen Fokus, um nicht im Chaos seines Traumes zu versinken.
Langsam beruhigte sich der Traum, die Formen und Schatten verfestigten sich. Der Bub zog sie hinter einen kleinen Felsen, der gerade eben aus dem Boden gewachsen war. Charly kauerte sich dahinter zusammen, zitternd, die starren Augen an die Wand gerichtet. Die Frau hatte seine Hand losgelassen, doch auch sie zitterte. Eine eiskalte Brise traf sie. Verdrossen sah sie auf ihr dünnes Nachthemd hinab. Warum hatte sie nichts Wärmeres zum Schlafen angezogen?
Doch ihre Aufmerksamkeit wurde schon bald auf etwas anderes gelenkt. Vor ihr, in der Mitte der riesigen Höhle, stand eine Gruppe Menschen in einem geordneten Kreis. Sie trugen lange Roben und hielten sich an den Händen, während sie im Chor eine Formel in einer lang vergessenen Sprache sangen. Sie bewegten sich rhythmisch zu einer Melodie, die nur sie hören konnten, in ihrer Mitte leuchtete etwas. Es war kein Feuer, doch es flackerte wie eines. Sie konnte nicht erkennen, was die Lichtquelle war, doch diese befand sich am Boden in der Mitte des Kreises und ließ die Schatten der musizierenden Mönche tanzen.
Die junge Frau wollte näher an das Geschehen, doch Charly saß wie festgefroren am Boden. Es sah nicht so aus, als ob er sich jemals von dort weg bewegen würde. Also ließ sie ihren Blick wandern, was sie schon im selben Moment bereute. An einer Wand der Höhle standen Käfige. Der Großteil war mit verschiedenen wilden Tieren besetzt, doch sie konnte in einem die Gestalt eines Kindes ausmachen. Sie wusste sofort, dass das Charly war. Etwas Furchtbares war ihm widerfahren, als er fünf Jahre alt gewesen ist. Sie war nicht sicher, wie viel von dem, was sie sah, nur seiner Fantasie entsprang, doch die Botschaft war klar. In ihrer Verzweiflung und dem Drang, näher an das Geschehen heranzukommen, beugte sie sich zu dem Charly, der zu ihren Füßen saß, und sah ihm direkt in seine leblosen Augen.
„Charly. Charly! Schau mich an. Ich weiß, du hast Angst, aber das ist alles nicht echt, okay? Aber ich muss … Ich will sehen, was da passiert, was dir passiert ist. Du musst mir dabei helfen, Charly, okay?“ Sie packte ihn bei seinen schmalen Schultern und schüttelte ihn sanft. Sie wusste nicht, was sie sich erhoffte, sie hatte noch nie Erfolg dabei gehabt, zu einem Träumer durchzudringen, aber Charly erwiderte ihren Blick plötzlich. Dieses Mal war sie sich sicher, dass er sie sah und erkannte.
„Wo ist meine Mama?“
„Ich weiß nicht, wo deine Mama ist. Aber wenn du mir hilfst, näher dort ranzukommen, helfe ich dir, sie zu finden, abgemacht?“
Sie hoffte, dass er sie verstand. Sie wusste zwar nicht genau, warum sie unbedingt sehen wollte, was dort vor sich ging, aber sie vertraute ihrem Bauchgefühl. Vielleicht würde die Sache klarer werden, sobald sie erwachte. Auch ihr Bewusstsein war trüb und eingeschränkt, wenn sie in Träumen wandelte, das hatte sie auf die harte Tour lernen müssen. Zu ihrer Überraschung stand Charly langsam auf und hob benommen einen Arm. Mit seinem Finger strich er über ihre Stirn und zeigte auf ihr drittes Auge, das auf ihrer Stirn saß, eingebettet zwischen ihren Augenbrauen. Sie war froh, dass er sich, sobald er aufwachte, nicht mehr an sie und ihr drittes Auge erinnern würde. Dann wanderten seine kleinen Finger weiter und strichen über ihr seidig schwarzes Haar, das bis auf ihre Schultern fiel. Die ganze Zeit lächelte sie ihm aufmunternd zu und hoffte, dass er sie verstanden hatte.
Als seine Finger das Ende ihres Haares erreicht hatten, wandte er sein Gesicht dem Kreis zu. Fast schon instinktiv griff er nach ihrer Hand und begann, sich langsam der Szene zu nähern. Sie wusste, dass in dieser Phase des Traumes niemand den Träumer und seine ungewöhnliche Begleiterin sehen würde, und doch beschlich sie ein seltsames Gefühl, als sie begann, langsam die Gesichter der Menschen zu erkennen. Eines stach aus der Menge heraus. Vielleicht, weil der Mann nicht mitsang, vielleicht, weil seine Kleidung nicht braun, sondern blutrot war. Sein Gesicht schien auch am stärksten in der Erinnerung des Träumers zu sein, die Züge waren klar und weniger verschwommen als die anderen Gesichter. Er hatte kurzes, dunkelbraunes Haar, einen leichten Dreitagebart und einen selbstgefällig hochgezogenen Mundwinkel. Er hielt seine Nachbarn nicht bei der Hand, sondern hatte seine Hände gebieterisch gehoben und schien das mysteriöse Licht in sich aufzunehmen. Wahnsinn stand in seinen Augen.
Das rhythmische Schwanken und Singen des Kreises schien seinen Höhepunkt zu erreichen, als die Stimmen immer lauter und deutlicher wurden. Plötzlich ließen alle voneinander ab und hoben gleichzeitig die Hände gen Himmel, während ein ohrenbetäubendes Tosen den Raum erfüllte. Licht und Schatten schienen auf den Lärm zu reagieren und tanzten noch wilder. Die Schatten an den Höhlenwänden wurden zu Monstern. Sie musste zweimal hinsehen, um glühende Augenpaare in der Dunkelheit zu erkennen. Das war nicht gut, gar nicht gut. Wenn es so weiterging, würde Charly bald von seinen Albtraumfiguren und Monstern durch den Traum gejagt werden.
Einige der Sektenmitglieder brachen aus dem Kreis aus und gingen auf die Käfige zu. Die Tiere in ihnen waren durch den Lärm und die Lichter unruhig geworden. Die fünf in braunen Roben bekleideten Menschen blieben unsicher stehen. Die junge Frau konnte einen Tiger erkennen, ebenso wie ein kleines Krokodil und einen Wolf. Ob die fünf wussten, worauf sie sich da eingelassen hatten?
Als die Menschen im Kreis bemerkten, was los war, brachen noch einmal fünf auf, um ihren Kameraden zu helfen. Nur vier Leute blieben, was den Kreis in ein ungleichmäßiges Trapez verwandelte. Zurückgeblieben war auch der Anführer, doch auch er hatte seine volle Aufmerksamkeit den Käfigen zugewandt. Zu zehnt schafften sie es irgendwie, die Tiere zu beruhigen und unter ihre Kontrolle zu bekommen, doch die Frau stellte mit Unbehagen fest, dass nun Tiere und Menschen glühende Augen besaßen. Sie hatten nicht mehr viel Zeit.
Da tönte plötzlich eine einzelne Stimme laut durch die Höhle. Es war der Mann im roten Gewand. Er streckte seine Hände erneut dem Licht entgegen und hatte sein Gesicht der Höhlendecke zugewandt.
„Oh, Heka, Gottheit der Magie, Dämon der ersten Stunde, Herr und Mutter von uns allen, ich rufe Euch und biete Euch diese niederen Leben, dass Ihr auferstehen und Euren Platz als Gottheit erneut einnehmen möget! Ein Platz, mit mir an Eurer Seite, als Berater und Schüler. Ich rufe Euch, Heka!“
Was für ein fanatischer Idiot, dachte sie. Doch obwohl ihr erster Gedanke war, die ganze Sache beiseite zu schieben, hielt sie etwas davon ab. Sie konzentrierte sich auf das Gesicht des Anführers und versuchte, es sich einzuprägen. Und dieser Name. Heka. Was, wenn doch mehr dahintersteckte? Was, wenn Charly tatsächlich das Opfer einer seltsamen Sekte geworden ist? Eine Sekte, die mehr als verrückt schien. Allerdings wusste sie nur zu gut, dass Magie tatsächlich existierte, und die seltsamen Lichter konnten wohl oder übel nur durch Magie erklärt werden.
Sie wurde durch eine Bewegung aus ihren Gedanken gerissen und sah, wie eine Frau mit langem blondem Haar den Käfig des Jungen aufsperrte. Sie spürte, wie Charlys Hand ihre drückte. Aus der Kraft, die dieser kleine Junge besaß, schloss sie, dass er mittlerweile erwachsen sein musste. Sein Griff war der eines Mannes, nicht der eines Kindes.
Sie konzentrierte sich auf die blonde Frau und auf die Version von Charly, die gerade aus seinem Käfig gezogen wurde, blass und verschreckt. Sie sah, wie seine Blicke verängstigt herumirrten und nach einem Ausweg suchten, dabei musste sein Blick schließlich auf den Anführer der Sekte gefallen sein. Das Nächste, was sie hörte, war Charly, der neben ihr anfing zu schreien. Plötzlich brach die Hölle los.
Die Tiere drehten durch, der Tiger schlug mit einer seiner mächtigen Pfoten nach den Menschen um ihn herum, und auch das Krokodil schnappte um sich. Der Charly aus dem Käfig war verschwunden, die Aufmerksamkeit aller lag plötzlich auf ihr und dem kleinen Kind neben ihr. Wie konnte das sein? Wieso konnten sie sie sehen?
„Verdammt. Lauf, Charly, lauf!“, rief sie und versuchte, ihn mit sich zu ziehen, doch seine Füße wollten sich nicht bewegen. Verdammte Albträume, verdammte Träumer, die immer genau im falschen Moment die Nerven verloren. Sie schüttelte ihn und versuchte es noch einmal, diesmal machte er sogar ein paar Schritte, bevor er erschrocken stehenblieb und den rasenden Schatten und schreienden Sektenmitgliedern mit aufgerissenen Augen entgegen sah. Die Tiere hatten mittlerweile auch ihr Interesse an jeder anderen Beute als Charly verloren. Alle hatten ihre glühenden Augen auf ihn gerichtet.
„Lauf, verdammt!“ Sie stieß einen verzweifelten Schrei aus. Ihre Jäger würden sie bald erreichen. Ein Albtraum konnte die Verfolgung hinauszögern, um die Angst des Träumers zu erhöhen. Doch lange würde es nicht mehr dauern, bis sie da waren. Die junge Frau hockte sich auf den Boden, um Charly auf derselben Augenhöhe zu begegnen.
Sobald sie sicher war, dass Charly sie ansah, konzentrierte sie sich. Sie konnte in das Bewusstsein der Menschen sehen. Was hielt sie davon ab, das nicht auch bei einem Träumer zu versuchen? Sie schloss ihre zwei menschlichen Augen und fokussierte ihre gesamte Energie auf ihr magisches Auge, das stolz auf ihrer Stirn leuchtete. Den einzigen Gedanken, den sie in Charlys Bewusstsein pflanzen wollte, war: Lauf, wir müssen weg von hier. Sie füllte ihre Gedanken mit diesem einen Satz und schickte ihn zu Charly.
Der Lärm um sie herum verstummte plötzlich und wurde ersetzt durch ein Erdbeben, das loses Felsgestein von der Decke fallen ließ. Sie öffnete ihre Augen. Zum ersten Mal sah sie so etwas wie Leben in Charlys Augen. Sie sah auch, dass er nicht länger ein fünfjähriges Kind war, sondern ein erwachsener Mann. Seine Kleidung war dreckig und seine Figur mager, aber als er anfing zu rennen und sie mit sich zog, dankte sie seinen langen dünnen Beinen, die sie schneller von ihren Verfolgern wegtrugen als die kurzen Schritte eines Kindes.
Sie wusste nicht, wohin sie rannten, alles, was sie sah, war eine endlose, blutende Wand, doch Charly schien sich nicht darum zu kümmern, sondern lief einfach weiter. Und trotzdem, wie in jedem Albtraum, waren die Monster nur knapp hinter ihnen. Sie spürte ihren Atem im Nacken, hörte, wie sie nach ihrem Kleid schnappten. Sie hatte nicht vergessen, weshalb sie Albträume hasste. Schweiß rann ihre Stirn und ihren Rücken hinunter. Sie ahnte, dass ihr Körper sich in der realen Welt gerade unruhig von einer Seite zur anderen wälzte. Ihr Atem ging stoßweise, und obwohl sie wusste, dass nicht sie rannte, sondern Charly, spürte sie seine Anstrengung, als wäre es ihre eigene. Sie spürte den harten Stein unter ihren bloßen Füßen und verkniff sich einen Schrei, als etwas eine ihrer Sohlen aufschnitt.
Das Schnauben hinter ihr wurde unterbrochen von höllischem Kreischen und drohenden Rufen. Sie alle schienen die Stimme des rotbekleideten Anführers zu haben. Sie spürte, wie ihre Muskeln aufgaben, wie ihr Körper ermüdete, bereit, sich den Bestien zu überlassen. Doch ihr Geist war noch nicht so weit, sie durfte jetzt noch nicht aufwachen. Sie hatte noch etwas zu erledigen.
„Charly, warum träumst du ausgerechnet von diesem Moment? Was ist passiert, weshalb zeigt dir dein Unterbewusstsein das?“, rief sie ihm fragend zu.
Er hatte sie nicht gehört, er rannte einfach weiter. Weiter und weiter, die endlose Wand entlang.
„Charly!“
Sie sah keine andere Möglichkeit, zog an seiner Hand und riss ihn zu sich zurück. Er stockte, stolperte und blieb stehen. Mit ihm schien auch die Zeit stehen zu bleiben. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, doch das Schnaufen und Schnappen ihrer Verfolger war verstummt. Sie drehte Charly zu sich herum. Sie bemerkte erneut, wie schrecklich mager er war.
„Charly, bitte! Sag mir, warum du das hier träumst.“
Er sah sie nur kurz an, doch er hatte verstanden. Er sah zuerst auf den Boden, dann hob er fast ängstlich seinen Kopf und begegnete ihrem Blick.
„Ich … Ich habe ihn gesehen. Er … Er ist zurück. Er ist wirklich zurück!“
Panik lag in seiner Stimme. Sie beeilte sich, ihre Hände beruhigend auf seine Schultern zu legen, die nun deutlich höher lagen als die ihren.
„Wo? Wo ist der Junge? Wo bist du, Charly?“
Und in einem von Intuition geleiteten Moment griff sie weiter nach oben und hielt Charlys Kopf zwischen ihren Händen. Sie spürte, wie ihr drittes Auge brannte, doch sie hinderte es nicht daran, sein Bewusstsein zu betreten.
Schließlich senkte sie ihren Blick und entfernte ihre Hände wieder. „Danke, Charly.“ Heißer Atem schlug erneut gegen ihren Nacken. Rasch liefen sie weiter.