Читать книгу Das Auge der Medusa - Johanna T. Hellmich - Страница 7

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Mit einem Schrei schlug Medusa die Augen auf und fand sich in ihrem Bett wieder, während die Schatten des Albtraumes sich langsam zurückzogen. Die Sonne war eben aufgegangen, doch die dicken Vorhänge ließen nur einen dünnen Spalt frei, durch den das Morgenlicht drang. Medusa fuhr sich über die Stirn und bekam gerade noch mit, wie sich ihr drittes Auge schloss, erschöpft von der ereignisvollen Nacht. Sie spürte auch den Schweiß, der es vom Traum herüber in die Realität geschafft hatte. Fluchend stieß sie ihre viel zu warme Decke weg. Sie sah gerade noch die Reste eines schlanken, schwarzen Tattoos unter ihrem Nachthemd verschwinden. Ihre Kennzeichnung hatte sich bis zu ihrer Brust ausgebreitet, sie hatte ihre Kräfte beinahe zu lange verwendet. In Zukunft müsste sie besser aufpassen. Sie wollte lieber nicht wissen, was passieren würde, sollte ihre mysteriöse Tätowierung sich über ihren gesamten Körper ziehen.

Medusa tastete nach ihrer Halskette, die lange Schnur lag dünn zwischen ihren Fingern. An ihrem Ende befand sich ein hölzerner Ring aus Weide, in dem ein Gewebe aus Schnur ruhte. Drei braune Federn von unterschiedlicher Länge waren auf der Unterseite des Traumfängers befestigt. Gedankenverloren strich sie über diese und dachte zurück an ihren Traum. Wichtiger noch, sie dachte zurück an den gestrigen Tag.

Das war nicht die erste Nacht, in der Medusa diesen Traum gehabt hatte, es war nicht das erste Mal, dass sie Charly begegnete. Zum ersten Mal war sie vor vier Nächten in seinen Traum gezogen worden. Zuerst hatte sie es nicht ernst genommen. Es war nur ein Traum, Charly einfach ein verstörter junger Mann. Doch dann hatte der Traum sich wiederholt, und trotz ihres Amulettes war sie auch in der zweiten Nacht schreiend aufgewacht. Der Traumfänger sollte ihren Geist vor bösen Träumen bewahren, doch sein Traum war stärker, verlangte ihre Aufmerksamkeit. Es schien, als ob Charlys Unterbewusstsein seinen Traum und seine Angst in die Welt hinausschrie, in der Hoffnung, dass jemand wie Medusa ihn hören würde. Sie hasste es, dass sie ihn nicht einfach abblocken konnte.

Seufzend stand sie auf und machte sich auf den Weg in ihr kleines Badezimmer. Dort fand sie eine Tasse und die Überreste der afrikanischen Traumwurzel, die sie einige Stunden vor dem Einschlafen genommen hatte. Sie hatte gehofft, dass dies ihr dabei helfen würden, ein besseres Bild von der Situation zu bekommen, vielleicht sogar Kontrolle über den Traum und seinen Träumer. Es hatte fast funktioniert, Charly hatte sie immerhin wahrgenommen und ihr geantwortet, sie hatte sogar in seine Erinnerungen schauen können.

Er ist zurück. So sehr sie auch wünschte, das Gegenteil wäre der Fall, so wusste sie doch genau, von wem er geredet hatte. Der Anführer dieser verrückten Sekte, der Mann, der so klar zu erkennen war. Wahrscheinlich hatte der Anblick ebendieses Gesichtes den Albtraum in Charlys Unterbewusstsein ausgelöst. Sie konnte allerdings nur spekulieren, was die genaue Ursache war.

Er war also zurück. Medusa war sich sicher, dass er erneut versuchen würde, Heka heraufzubeschwören. Heka schien eine Gottheit zu sein, doch war Medusa sich nicht sicher, was sie sich darunter vorstellen sollte. Dieser Mann hatte Heka Dämon, Herr und Mutter genannt. Medusa schüttelte ihren Kopf, ihre zerzausten Haare flogen durch die Luft. Was auch immer Heka war, es konnte nichts Gutes sein.

Endlich hob sie ihren Blick und sah sich selbst in ihrem alten und bereits etwas trüben Spiegel an. Auf ihrer Stirn prangte eine auffällige Narbe, doch ihre Kennzeichnung, das schwarze Tattoo, das unter ihrem Auge erschien, sobald sie ihre Magie verwendete, war nicht zu sehen. Ihre schwarzen Augen waren noch etwas geschwollen. Sie sah die Müdigkeit, die sie empfand, auf ihrem schmalen Gesicht widergespiegelt. Geistesabwesend hob sie ihre Haarbürste hoch und fuhr sich ein paar Mal durch ihr nun wieder glattes, seidiges Haar. Ihre Tante hatte gesagt, dass sie das Haar von ihrem Vater hatte und die Augen ihrer Mutter. Medusa hasste diesen Vergleich, das einzig Gute, was sie an diesen Merkmalen fand, war, dass beide schwarz waren.

Mit einem Knall landete die Bürste auf ihrem Waschbecken. Medusa biss sich schuldbewusst auf die Lippe. Sie hasste jede Erinnerung an diese beiden Menschen, die sie zur Welt gebracht hatten. Ihre Eltern hatten einen Blick auf diese seltsame Kreatur mit ihrem unheimlichen dritten Auge geworfen und hatten nichts mehr von ihr wissen wollen. Maya, die Schwester ihrer Mutter, hatte ihr nie erzählt, wie alt Medusa war, als ihre Eltern sie allein in ihrer Wiege liegen gelassen hatten und aus dem Haus, vielleicht sogar gleich aus dem Land geflohen waren. Medusa wusste nur, dass Maya sie zu sich genommen hatte. Keiner von ihnen hatte je die Narbe auf ihrer Stirn angesprochen. Medusa hatte sich davor gehütet, ihr Auge vor ihrer Tante zu öffnen. Ryo E?don und Helen Aetós hatten ihre eigene Tochter verloren und allein zurückgelassen, weil sie den Anblick dieses Monsters, das sie geboren hatten, nicht länger ertragen konnten.

Medusa spritzte sich eine Handvoll eiskaltes Wasser ins Gesicht. Es gab keinen Grund, plötzlich alte Wunden wieder aufzureißen. Der Albtraum musste sie mehr mitgenommen haben, als sie gedacht hatte. Genervt und entschlossen, keinen zweiten Gedanken an ihre leiblichen Eltern zu verschwenden, putzte sie sich energisch die Zähne. Als sie ausspuckte, sah sie rote Flecken inmitten der weißen Zahnpasta. Sie trocknete sich das Gesicht ab, bevor sie ihr Nachthemd auszog und in die Dusche stieg. Das kalte Wasser weckte sie endgültig auf. Sie stieg erst wieder ins Trockene, als sie von oben bis unten zitterte. Manchmal tat es ganz gut, seine Gedanken einzufrieren.

Sie trocknete sich ab und stellte resigniert fest, dass auch dieses Handtuch schon mehr Löcher hatte, als sie tolerieren wollte. Sie hatte sich ihre eigene Wohnung anders vorgestellt, doch sie würde sich nicht beschweren. Sie hatte ein Dach über dem Kopf und genug zu essen im Haus. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass es Zeit fürs Frühstück war.

Sobald sie aus dem Bad trat, das löchrige Handtuch um sich geschlungen, machten sich die Erinnerungen an die letzte Nacht erneut breit in ihrem Kopf. Jemand musste etwas unternehmen. Sie musste jemanden finden, der sich um diesen Sektenanführer kümmerte und ihn daran hinderte, eine alte Gottheit zu beschwören. Plötzlich wusste sie mit Gewissheit, dass sonst das Böse gewinnen würde. Während sie in Gedanken versunken ihren knarrenden Kleiderschrank nach etwas Tragbarem durchsuchte, schlich eine Katze unter Medusas Bett hervor. Ihr Fell war fast komplett schwarz, nur ihre Schwanzspitze war weiß. Diese war hoch erhoben, als die Katze schnurrend um Medusas Beine strich.

„Dir auch einen guten Morgen, Medea.“

Medusa zog ein nur wenig zerknittertes T-Shirt aus einem Wäschehaufen und hielt es vor sich, bevor sie sich hinunter beugte, um Medea hinter den Ohren zu kraulen. Die Katze schnurrte laut als Antwort.

„Du wirst nicht glauben, was für eine verrückte Nacht ich hatte.“ Medusa zog sich das Queen-Wappen-T-Shirt an und warf das Handtuch achtlos auf den Boden, wo Medea sich sofort darauf stürzte. „Anscheinend hat unser Freund Charly diesen Sektenführer in der wachen Welt gesehen, deshalb hat er jetzt jede Nacht diese Albträume. Dieser Typ … Ach, ich kann ihn ja nicht die ganze Zeit Sektenführer nennen, oder? Ich sage, wir geben ihm einen Namen, was meinst du, Medea?“

Medea schien sich für das Problem nicht zu interessieren. Medusa zog an dem Bein einer schwarzen Hose, um sie unter einem Stapel herauszuziehen, und zog sie an, bevor sie genervt feststellte, dass sie vergessen hatte, Socken anzuziehen. Mit einem verärgerten Stirnrunzeln hob sie zwei ungleiche Exemplare vom Boden auf und zog sie ohne weiteren Kommentar an. Mit einem energischen Sprung drehte sie sich zu ihrer Katze um, die erschrocken von ihrem Handtuch-Bett aufsprang.

„Ich hab’s! Ich werde ihn ab jetzt einfach Alfred nennen. Dieser Name wirkt so ungefährlich.“

Ohne auf eine Reaktion zu warten, machte Medusa sich auf den Weg in die Küche, Medea folgte ihr. Das Erste, was sie tat, war die Futterschüssel ihrer Katze zu füllen und das Wasser zu wechseln. Danach ignorierte Medea sie. Medusa musste schmunzeln, sie konnte die Katze verstehen. Sie würde auch lieber einfach alles um sich ignorieren und den ganzen Tag nur schlafen, trinken und fressen.

Sie nahm sich eine Schüssel aus dem Regal und füllte sie mit Müsli und Milch. Mit der Schale in der Hand setzte sie sich auf die Anrichte und griff nach einem Löffel aus der Schublade, in der Besteck für höchstens vier Personen lag. Medusa ließ ihre Beine baumeln und betrachtete die weiße Schwanzspitze ihrer Katze, die sich hypnotisierend hin und her bewegte. Mit einem tiefen Seufzer begann sie ihr eigenes Frühstück zu löffeln. Sie hatte Zeit, um zu trödeln. Sie war früh aufgewacht und hatte erst um neun Uhr eine Verabredung mit Clara und ihren Uni-Freunden. Bis dahin musste sie sich überlegen, was sie Clara erzählen wollte. Schließlich ist es ihre Freundin gewesen, die vorgeschlagen hatte, afrikanische Traumwurzeln zu verwenden, um ein besseres Bild von dem Träumer zu bekommen und mehr Kontrolle über diesen wiederkehrenden Albtraum, dem Medusa nicht zu entkommen schien.

Clara war die Einzige, die über Medusas Fähigkeiten Bescheid wusste. Genau genommen, war sie die einzig Normale, der Medusa ihr Geheimnis anvertraut hatte. Medusa hatte schon bald herausgefunden, dass sie nicht allein war mit ihren Kräften. In ihrem dritten Jahr in der Schule hatte ein Junge den Wasserhahn in ihrem Klassenraum zum Explodieren gebracht. Er war von einem Mann mit Glatze und grauem Anzug abgeholt worden, angeblich ein Transport in ein Krankenhaus für begabte Kinder. Medusa hatte schnell gelernt, ihre Kräfte nicht in der Öffentlichkeit zu verwenden.

Ein junger Professor an ihrer zweiten Schule, Herr Klein, hatte ihre Fähigkeiten dennoch erkannt und sie zu seiner eigenen kleinen Lerngruppe für Begabte eingeladen. Dort hatte er ihnen beigebracht, mit ihren Talenten, wie er sie nannte, verantwortlich umzugehen. Er selbst konnte Begabte und ihre Auren sehen und hatte deshalb die Aufgabe übernommen, so vielen von ihnen zu helfen, wie er nur konnte. Erst später erfuhr Medusa, dass Klein für ein Unternehmen arbeitete, das sich darauf spezialisierte, Begabte ausfindig zu machen, zu trainieren und für sich arbeiten zu lassen. Die Gem Corporation. Das erklärte zumindest, woher dieser einfache Unterstufenlehrer so viel wusste. Er erzählte ihnen von Magie, dass jeder Mensch sie besaß, sie jedoch nur alle paar Jahrhunderte und bloß unter den richtigen Bedingungen aktiviert wurde. Er hatte sie „Glückskinder“ genannt. Er hatte ihnen von der offiziellen Klassifizierung erzählt, von Rubinen, Saphiren, Smaragden und Diamanten. Doch Klein konnte ihnen nicht sagen, wer diese Kategorien entworfen hatte, wer bestimmte, in welche man fiel. Er hatte Medusa einen Smaragd genannt, ihre Magie würde sich auf den Geist, den Verstand und auf Emotionen konzentrieren. Er hatte ihr Einzelunterricht gegeben und wollte ihr beibringen, andere Begabte mit ihrem dritten Auge aufzuspüren, doch sie hatte es nie geschafft. Als ein Mädchen während einer Sportstunde plötzlich tot umfiel, führten alle Wege bald zu Klein. Als die Elternvertretung und das Direktorat von seinem kleinen Club und den Privatstunden erfuhren, konnte er nur noch verschwinden und untertauchen. Medusa und die anderen Kinder wurden befragt und zu Psychologen geschickt, doch keiner verlor ein Wort über das, was in diesem Club vor sich ging, sie hatten alle zu viel Angst. Keiner von ihnen sah Professor Klein jemals wieder.

„Miiaaaaoooo!“

„Du hattest genug, Medea.“

Medusa sah auf ihr eigenes Frühstück. Ihr war der Appetit vergangen. Sie hatte noch eine gute halbe Stunde Zeit, bevor sie sich auf den Weg machen musste. Sie überwand sich, das Müsli hinunterzuschlingen, in ihrem Haus wurde kein Essen weggeworfen! Dann stapelte sie das Geschirr geübt in die Abwaschwanne, darum würde sie sich später kümmern. Ihre Wohnung war relativ klein, ein schmaler Gang führte vom Eingang in das Wohnzimmer, an dessen Nordseite sich die Küchenzeile befand. Eine Tür führte in eine kleine Abstellkammer, in der Medeas Katzenklo stand. Eine zweite Tür führte in das Schlafzimmer, das gerade groß genug für eine Person war, und in das Medusa nun trat. Von dort gab es eine weitere Tür, die in das kleine Badezimmer führte.

Medea strich um Medusas Beine, als diese sich an ihren Schreibtisch setzte, den sie gelegentlich zu einem Schminktisch umfunktionierte. Sie öffnete eine Lade und betrachtete sich in dem aufgeklappten Spiegel.

Sie war geübt darin, mit Concealer und Puder die Narbe zumindest ansatzweise zu verdecken. Sie war noch immer sichtbar, aber sie zog nicht mehr so viel Aufmerksamkeit auf sich. Ihr war bewusst, dass sie jeglichen Gedanken an den Albtraum und an ihr Treffen mit Clara vermied. Sie entschied, dass sie sich darüber unterwegs immer noch Gedanken machen könnte.

Etwas schwarzen Eyeliner und schwarzen Lippenstift später trat Medusa aus ihrer Wohnung und sperrte die Tür hinter sich zu. Sie mochte die Art, wie Leute sie ansahen, sobald sie den schwarzen Lippenstift trug. Denn sie wusste, dass die Menschen in diesem Moment eine selbstbewusste, interessante Frau sahen und nicht einen Freak mit einem dritten Auge und Schlafstörungen. Sie hasste ihre Fähigkeiten und sah keinen Nutzen darin, es war eher eine Belastung für sie. Sie schloss die schwarze Lederjacke über ihrem Queen-Shirt. Sie trug Springerstiefel in derselben Farbe. Ihr Traumfänger-Amulett lag sicher um ihren Hals, um eine ihrer Schultern hatte sie eine kleine Tasche geworfen. Es wurde wärmer, der Frühling zeigte sich.

Medusa wusste nicht, was die Zukunft für sie bereithielt oder wie genau sie mit Alfred umgehen sollte, wen sie um Hilfe fragen könnte. Doch die bereits kräftigen Sonnenstrahlen zauberten ein schmales Lächeln auf ihr blasses Gesicht. Zum ersten Mal, seit sie aufgewacht war, wurde das Gewicht, das dieser Traum auf ihre Schultern gelegt hatte, etwas leichter. Sie atmete die frische Luft tief ein. Der Geruch von Backwaren der Bäckerei nebenan kitzelte in ihrer Nase.

Ja, Medusa wusste nicht, was die Zukunft, was dieser Tag für sie bereithielt, doch sie war einen Schritt näher an ihrem Ziel, diese ganze Geschichte hinter sich zu lassen. Wie schwer konnte das schon sein? Und dieser Gedanke verwandelte ihr Lächeln in ein breites Grinsen. Wie sehr sie sich doch irren sollte …

Das Auge der Medusa

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