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IV.

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Angesichts dieser und anderer, zum Teil unlösbaren Schwierigkeiten und Bedenken, gewinnt um so mehr die Hypothese an Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit, es sei bei der geschilderten Freundschaft mit Basilius nicht an eine bestimmte historische Persönlichkeit zu denken und es sei überhaupt der ganze Vorgang bezüglich der Bischofsberufung der zwei jugendlichen Freunde, wie er nach der Darstellung des Chrysostomus die Unterlage für das Zwiegespräch zwischen beiden bildet, und der Dialog selbst nichts anderes als eine schriftstellerische Fiktion.

Es liegt in der Tat die Annahme nicht allzufern, daß unser Kirchenvater gleich anderen christlichen Schriftstellern, in Nachahmung der antiken, namentlich der platonischen Dialog schriftstellerei, sich dieser literarischen Form bediente, um vermittelst der Einkleidung in ein fingiertes, rhetorisch gehaltenes Zwiegespräch die ihm sehr am Herzen liegende Auseinandersetzung über eine der sowohl von rein theologischen wie praktischen Gesichtspunkten wichtigsten Fragen, über das Priestertum, ungleich lebendiger und eindringlicher zu gestalten, als dies in einer geschlossenen Abhandlung oder in einer zusammenhängenden Rede möglich gewesen wäre. Durch die freie Erdichtung von seiner und seines Freundes Wahl zum Bischofstum und durch die bekannten, daran sich knüpfenden Verwicklungen, wie sie infolge der angeblichen Annahme der Bischofsweihe seitens des Basilius und seiner eigenen Flucht von selbst sich ergaben, durch eine überaus anschauliche und lebenswarme Schilderung der ganzen Szenerie, hatte Chrysostomus sich eine ungemein geschickt gewählte und außerordentlich geeignete Unterlage geschaffen, um in wechselseitiger Rede und Gegenrede sein Thema möglichst erschöpfend zu behandeln, durch die Einwände des Freundes angeregt, gerade jene Punkte in den Vordergrund zu stellen, auf die es ihm vor allem ankam und so auch der ganzen Darlegung über das Priestertum die bei ihm so sehr beliebte persönliche und praktische Note zu geben. Auch hierin, bei der Erfindung des seinen eigentlichen Ausführungen vorausgehenden Proömions, wobei nicht geleugnet sein soll, daß nicht auch wahrheitsgetreue Züge eingeflochten seien, konnte Chrysostomus das Beispiel Platons wie der sokratischen Dialogschriftstellerei überhaupt vor Augen geschwebt haben.

Denn wie R. Hirzel in seinen die einschlägigen Fragen aufs gründlichste bearbeitenden Untersuchungen60feststellt, „sind wir im Einzelnen nicht imstande, innerhalb der sokratischen Dialoge, soweit sie uns erhalten sind genau die Grenzlinie des Historischen und des bloß Erdichteten zu ziehen“. Insbesonders gilt dies von der Arbeitsweise Platons. „Immer mehr ließ er im Laufe der Zeit seinem dichtenden Geiste die Zügel schießen. Während er früher wenigstens die Personen seiner Dialoge der historischen Überlieferung oder eigener Erinnerung entnahm und erst wenn er daran ging, sie im Gespräch zu vereinigen und ihren Verkehr zu schildern, sich mehr oder minder von der wirklichen Geschichte unabhängig machte, hat er in den späteren Werken selbst jenen dünnen Faden fallen lassen, der seine Dialoge noch an die Geschichte knüpfte und nicht bloß die Szene derselben, sondern auch die Personen so, wie er sie brauchte, sich selber geschaffen…. Dieser poetische Charakter seiner Dialoge, je mehr er im Laufe der Zeit in denselben hervortrat, mußte in dem gleichen Maße ihm selber immer klarer werden und aus der gewohnten Praxis eine bewußte Theorie entstehen, die dann wieder auf jene fördernd einwirkte…. Am wenigsten war es nötig, auf diesem Standpunkt historische Treue in der Angabe des Tatsächlichen zu beobachten, da Plato solche niemals unter die Pflichten eines Dichters gerechnet hat…. Nun erscheinen die bekannten Anachronismen der platonischen Dialoge, deren man mit den Jahren immer mehr entdeckt, in einem ganz anderen Lichte als in dem von Verstößen gegen die Zeitrechnung, wie sie Plato beim Niederschreiben seiner Dialoge entschlüpft seien… Die Schranken der Zeit werden absichtlich übersprungen. … Das Historische an sich hat für Plato keinen Wert, sondern nur solange es anderen Absichten dient… Wie über die zeitlichen Schranken, so sind die platonischen Personen auch über diejenigen des Raumes und anderer äußeren Verhältnisse erhaben…. In den Eingängen seiner Dialoge pflegt uns Plato mit den Teilnehmern des Gespräches und überhaupt mit den Anwesenden bekannt zu machen… Er kennt keine andere Rücksicht, als wie er die begonnene Erörterung zu Ende führt; ob in der Wirklichkeit ein so langes Gespräch sich mit den geistigen und körperlichen Kräften der Teilnehmer vertragen würde, das kümmert ihn dabei nicht”61.

Was hindert uns, wie gesagt, anzunehmen, daß auch unserem Kirchenvater diese Prinzipien der platonischen Dialogschriftstellerei bekannt waren und daß er dann die genannte, auch sonst in christlichen Kreisen beliebte Literaturgattung ganz nach der gezeichneten platonischen Art in seiner Schrift „Über das Priestertum“ zur Anwendung brachte? Tatsächlich haben manche Kritiker in letzterer sogar „große Ähnlichkeit" mit und „direkte Beziehungen“ zu ganz bestimmten und speziellen Dialogen des großen Sokratikers finden wollen, so J. Volk62 mit dem Protagoras, S. Colombo63 zu Platons grandiosem Werk über den Staat.

Das kann in der Tat nicht geleugnet werden, daß die ganze äußere Komposition des Chrysostomus-Dialogs „Über das Priestertum“ auffallende Ahnlichkeit aufweist mit der Anlage, wie sie verschiedenen platonischen Dialogen, z. B. Phaidon und dem über den Staat, zugrunde liegt64. In beiden gelangt eigentlich ein doppeltes Thema zur Behandlung, wie Hirzel65 es qualifiziert, „ein nominelles und ein faktisches“; geradeso bei Chrysostomus „Über das Priestertum”. Im Phaidon ist der Ausgangspunkt die Frage, ob dem Philosophen — Sokrates — das Recht zusteht, dem Tode getrost und ohne Furcht ins Auge zu sehen. Das bildet das nominelle Thema, das scheinbar ursprünglich dargelegt werden soll. In Wahrheit ist jedoch der eigentliche Kernpunkt, das faktische Thema des Dialogs die Auseinandersetzung über die Unsterblichkeit der Seele, indem der Unsterblichkeitsbeweis als wesentlich aus der zuerst aufgeworfenen Frage, ob der Weise den Tod zu fürchten habe, geschickt herausgeholt und im einzelnen durchgeführt wird. Ähnlich geht der Verfasser im Dialog über den Staat anfänglich von der Frage aus nach dem Wesen der Gerechtigkeit, nach dem Nutzen, welchen die Gerechtigkeit für den Einzelnen bringt oder nach dem Glück, welches sie gewährt. Er erwartet deren volle Verwirklichung in einem ideal ausgebildeten Staate. Und in dem Maße, als das Wesen des Staates deutlicher wird und zugleich die von der Gerechtigkeit ausgehenden Wirkungen klarer hervortreten, wird auch besser einzusehen sein, daß Einheit und Glück im einzelnen wie im ganzen auf der Gerechtigkeit beruhen. Das führt Plato zur weiteren Frage, in welchem Staate die volle Realisierung der Gerechtigkeit zu suchen ist und zu seinem eigentlichen Thema, zu seiner prinzipiellen Auseinandersetzung und Lehre über den Staat überhaupt. Das Schattenbild der Gerechtigkeit findet sich im Naturstaat, heller tritt sie in die Erscheinung im Kriegerstaat, so daß man hier bereits ihr Wesen zu haben glaubt, in Wahrheit enthüllt sich dieses Wesen aber erst auf der dritten Stufe, im Idealstaat, in welchem die Idee der Gerechtigkeit sich völlig verkörpert. Desgleichen soll im Protagoras und Phaidros der Vorzug der schlichten Art des Sokrates, durch Frage und Antwort die Menschen zu höheren Stufen des Erkennens zu führen und die Überlegenheit der sokratischen Philosophie vor der leeren Wortkünstelei der Rhetorik, namentlich vor den pomphaften, langen Reden der Sophisten, erwiesen werden durch Behandlung der Frage als des Hauptthemas, ob die Tugend lehrbar sei (Protagoras) und über den Begriff des Eros (Phaidros), den Plato aus der Sphäre gewöhnlicher Sinnlichkeit herauszuheben sucht und als das Streben nach dem Urschönen und der Welt der Ideen faßt66.

Erinnert diese ganze Komposition, dieses zweifache, nebeneinanderherlaufende Thema der platonischen Dialoge nicht unwillkürlich an unseren Chrysostomus-Dialog? Geht doch in letzterem in ähnlicher Weise der Verfasser zunächst von der praktischen Frage aus, ob es nicht erlaubt, manchmal sogar geboten ist, der Bischofsweihe durch die Flucht sich zu entziehen. Die Beantwortung dieser Frage gleitet sodann Unversehens zu dem eigentlichen und faktischen Thema über, zu der bekannten, überaus herrlichen und trefflichen Schilderung der Erhabenheit, Würde und Bürde des Priester- bzw. Bischofsamtes. Überhaupt mutet die Art und Weise, wie Chrysostomus seiner eigentlichen Erörterung und Darstellung ein Proömium, eine szenische Einkleidung, vorausschickt, echt platonisch an. Denn auch in den meisten Dialogen Platons findet sich im Gegensatze zu denen des Aristoteles ein derartiges Proömium mit prächtigen Szenerien und fein ausgeprägten Charakterzeichnungen, eine Tatsache, auf die z. B. ein anderer Kirchenvater des vierten Jahrhunderts, der hl. Basilius der Große, ausdrücklich hinweist, wenn er in einem seiner Briefe bemerkt, daß Aristoteles und Theophrast, abweichend von Plato, in ihren Dialogen auf ihr Thema unmittelbar losgegangen seien67. Allerdings erscheint der Grund, um dessentwillen nach der Meinung des Basilius das geschehen sein soll, daß sich nämlich Aristoteles bewußt gewesen wäre, wie sehr ihm die platonische Anmut fehle68, weniger ansprechend, als was sehr scharfsinnig und einleuchtend Hirzel hierfür ins Feld führt: „Wenn Plato im Phaidon, im Phaidros, in der Republik und sonst Prooimien vorausschickte, so hatte dies seinen guten Grund darin, daß zu seiner Zeit oder in der des Sokrates, in die er uns versetzen will, dialektische Erörterungen der Unsterblichkeit, über den Wert der gewöhnlichen Rhetorik, den Idealstaat und anderes keineswegs an der Tagesordnung waren, sondern die betreffenden Probleme noch frisch aus den umgebenden Verhältnissen der redenden Personen und aus vorausgehenden Gesprächen über andere Dinge hervorsprangen. Diesen Vorgang der Wirklichkeit zu schildern, zu schildern, wie man dazu kam, gerade dieses oder jenes Problem zu erörtern, war eine Aufgabe, die sich Plato in der Mehrzahl seiner Dialoge gestellt hat und stellen mußte…. Die Fragen, die jedoch Aristoteles in seinen Dialogen behandelte, gehörten längst zum Inventar der Schule…. Es bedurfte also nicht erst umständlicher Prooimien, wie sie noch Plato für nötig befunden hatte, um ein Gespräch über solche Gemeinplätze zu motivieren“69.

Diese Begründung darf mit vollem Recht auch wieder auf unseren Chrysostomus-Dialog angewandt werden. Wir sehen, die Parallelen brauchen nicht erst gesucht oder künstlich konstruiert zu werden, sie liegen offen da und häufen sich nach jeder Richtung hin. Denn auch bei dem Thema, dem Chrysostomus in seinem Dialoge seine Aufmerksamkeit und eigentliche Erörterung widmet, handelt es sich, um Hirzels Worte zu wiederholen, ebensowenig um eine Frage, die in patristischer Zeit „an der Tagesordnung" gewesen wäre. Über die Aufgaben und Pflichten des Priesteramtes hatte zum ersten Male eingehend und ex professo in einer speziellen Schrift sich verbreitet Gregor von Nazianz in seiner unmittelbar nach 362 verfaßten „Apologie wegen der Flucht nach dem Pontus"70. An ihn hat sich Chrysostomus, wie nicht zu leugnen ist, angeschlossen, hat sogar nicht wenige Einzelzüge direkt dessen Ausführungen entlehnt. Mit Recht werden die beiden Schriften als die ältesten pastoraltheologischen Abhandlungen und zugleich mit der Regula pastoralis Gregors des Großen als die Pastoraltrilogie der altchristlichen Kirche bezeichnet71. Wie in den meisten Dialogen Platons liegt also auch hier ein fast noch unberührtes, sicherlich noch unbebautes Thema vor, das demnach auch mit Rücksicht auf dieses Moment die platonische Art der Behandlung und Einkleidung rechtfertigt.

An und für sich kann solche unserem Chrysostomus von Haus aus nicht fremd gewesen sein. War er doch sicherlich mit derselben in der Schule des Libanius, des gefeiertsten antiochenischen Lehrers und Rhetors, die er mehrere Jahre als dessen begabtester Lieblingsschüler besuchte72, bekannt geworden. Libanius erzählt uns selbst, wie die Klassikerlektüre den Mittelpunkt seines gesamten Unterrichtes bildete und wie seine Schüler sich mit großer Anstrengung durch die Schriften eines Homer, Demosthenes und anderer Dichter, Redner und Philosophen, darunter auch des Plato, hindurcharbeiten mußten73. Von des letzteren Werken waren aber bekanntermaßen alle mit einziger Ausnahme der Apologie in dialogische Form gekleidet74. Desgleichen war unserem Christ gewordenen Libaniusschüler auch während seiner späteren theologischen Ausbildung nach den Prinzipien der antiochenischen Exegetenschule, die gemäß ihrer historisch-grammatischen Methode zur Ergründung und Beleuchtung der biblischen Wahrheiten ihre Argumente mit Vorbedacht auch aus der Geschichte, Religion und Kultur des Hellenismus schöpfte75, dessen Literatur keineswegs entfremdet geworden. Vielmehr zeigen ungezählte Stellen seiner Schriften und Homilien, wie er, sich wiederholt auf das Beispiel des hl. Apostels Paulus wegen dessen Benützung heidnischer Literaturerzeugnisse berufend76, die Blüten griechischen Geisteslebens überall pflückte, wo immer er sie der christlichen Religion dienstbar machen konnte77. Und nicht nur das, er empfiehlt sogar seinen Zuhörern das Studium der poetischen, philosophischen, historischen und rhetorischen Werke des Hellenismus als Fundgrube der Lebensphilosophie und zur Stärkung seiner eigenen biblisch-homiletischen Ausführungen78. Wer nur immer sich etwas eingehender mit den Werken des großen Antiocheners beschäftigt, der wird staunen über die umfassende hellenische Bildung, die Chrysostomus mit gründlicher Beherrschung der christlichen Wissenschaft vereinigte. Mit Recht stellt ihn auch in dieser Beziehung E. Norden79 an die Seite des hell leuchtenden kappadokischen Dreigestirns, Gregors von Nazianz, Basilius von Cäsarea und Gregors von Nyssa, die „alle drei auf der Höhe hellenischer Bildung stehend, ausgerüstet waren mit den seit Jahrhunderten in Kampfgetümmel und Siegesjubel erprobten Waffen hellenischer Rhetorik“. Und A. Naegele, dem wir die obengenannte beste Untersuchung über das Verhältnis des Johannes Chrysostomus zum Hellenismus zu verdanken haben, faßt sein Urteil in die Worte zusammen: „Die Kraft und Vielseitigkeit seines Geistes, ein Geschenk der echt hellenischen harmonischen Entwicklung der reichen Anlagen des vielgepriesenen Jünglings, befähigten ihn, alle Zweige antiker Kultur zu beherrschen und die Anleihe vom Besten und Edelsten des Hellenismus in den Dienst des Christentums zu stellen, zur Belehrung und Bekehrung, zur Christianisierung wie zur Reformierung der divergierenden Teile der damaligen bürgerlichen und kirchlichen Sozietät”80.

So zeigt sich also unser Kirchenvater in idealstem Maße ausgestattet mit all dem formalen und materiellen Rüstzeug antik-klassischer Geisteskultur, wie sie die hervorragende Schule eines Libanius zu bieten hatte81. Allein schon aus der hier in deutscher Übersetzung vorzulegenden Schrift über das Priestertum läßt sich die Bekanntschaft des Verfassers mit einer recht stattlichen Anzahl von hervorstechenden Vertretern des antiken Kultur- und Geisteslebens erkennen, so mit Homer, Sophokles, Euripides, Aristophanes, Isokrates, Demosthenes, Thukydides, Vergil und Plato82. Was speziell seine Vertrautheit mit dem zuletzt genannten Plato anbelangt, so ist schon bei einer flüchtigen Durchsicht der Werke unseres klassisch gebildeten Antiocheners leicht zu ersehen, wie in denselben unter den Namen der Geistesheroen des Griechentums kaum ein zweiter so häufig wiederkehrt als gerade der Platons, der ihm als „der Sohn des Ariston"83 bekannt ist. An zahlreichen Stellen84, an denen Chrysostomus die biblische Lehre wider die Aufstellungen der heidnischen Philosophie verteidigt, ist es in der Regel Plato, den er als Kronzeugen aufruft, offenbar als den nach seiner Auffassung gewichtigsten Vertreter der bekämpften gegnerischen Meinung. Diese seine Einschätzung wird auch wiederholt ausdrücklich ausgesprochen, indem er Plato „ὁ κορυφαὶος τῶν φιλοσόφων“85, „τῶν ἄλλων σεμνότερος“86 nennt oder als „πολλῆς ἀπολαύσας τιμῆς“87 bezeichnet. Nicht selten kommt er auch auf einzelne speziellen Lehren des Philosophen zu sprechen88 oder gibt seine Bekanntschaft mit einer und der anderen der platonischen Schriften kund89. So werden z. B. außer der Apologie90 teils ausdrücklich genannt oder zitiert, teils mit einer bloßen Anlehnung bedacht die Dialoge über den Staat91, der Kriton92, Timäus93, Theaitetos94 u. a.

E. Norden hat uns in seinem bekannten, bereits zitierten Werke über „Die antike Kunstprosa“95 umfassend dargelegt, wie Ausdrucksmittel, Stil, rhetorische Prosagesetze, literarische Formen usw. in der christlichen Literatur dieselben oder ähnliche geblieben sind wie in der antik-heidnischen. Speziell unser Chrysostomus hat namentlich in theoretischen Ausführungen des vierten und fünften Buches seiner Schrift „De sacerdotio” über höheren und niederen Stil, Rhythmus, Redefiguren u. dgl. aufs glänzendste gezeigt, wie sehr er mit den Gesetzen der antiken Kunstprosa vertraut war. Daß er neben anderen literarischen Formen auch die platonische Art und Weise kannte, vermittelst Einführung fingierter Personen die Rede bzw. Auseinandersetzung lebendiger zu gestalten, bekundete er durch häufige Anwendung der Kunstgattung der Diatribe. Diese ist, wie Norden96 sie charakterisiert, „nur eine Nebenform des Dialogs“, was leicht, wie er weiter ausführt, sich „aus einigen Stellen der platonischen Dialoge” nachweisen läßt, und „hat sich in der Weise aus dem Dialog entwickelt, daß der sie Vortragende an die Stelle der beiden im Dialog sprechenden Personen sich selbst und eine fingierte Person setzte“. Sie geht „durch alle Stufen hindurch vom bloßen Selbsteinwurf durch das Selbstgespräch bis zum förmlichen Dialog”97 und findet sich nach Jordans altchristlicher Literaturgeschichte98 „ganz besonders ausgebildet bei den griechischen Schriftstellern des vierten und fünften Jahrhunderts" und vor allem, wie Hirzel99 hervorhebt, als ihrem „glänzendsten Repräsentanten, bei Joh. Chrysostomus, mit der charakteristischen Modifikation, daß an die Stelle eines Bion, Krates und Diogenes die Apostel, namentlich Paulus, auch die Propheten, treten“. In der Tat begegnet uns der Gebrauch der Diatribe bei unserem Vater fast auf Schritt und Tritt und zwar nicht bloß in seinen Homilien, sondern auch in nichtrhetorischen Abhandlungen, so, um nur einzelne Beispiele anzuführen, in der dritten Homilie ad populum Antiochenum100, wo eine förmliche Diatribe mit dem Propheten Jonas veranstaltet wird, oder in seiner Schrift vom jungfräulichen Stande101, in welcher er sich selbst oder andere ungenannte Personen gerne in Zwiegespräche mit dem hl. Paulus einläßt, oder in der dritten und vierten Homilie zum Johannesevangelium102, bezüglich deren Norden103 ausdrücklich „auf die ganz platonische Art des fingierten Zwiegesprächs” aufmerksam macht.

Es steht also fest, es geht aus der angedeuteten häufigen Benützung der mit dem platonischen Dialoge innerlich verwandten, aus ihm entwickelten Diatribe hervor, daß sich Chrysostomus des hervorstechendsten Charakteristikums dieser Literaturgattung als einer rein literarischen Einkleidung ganz wohl bewußt war. Gewinnt da der Gedanke nicht wieder mehr an Wahrscheinlichkeit, Chrysostomus habe dieselbe literarische Form eines „fingierten Zwiegesprächs" unter Beiziehung einer fingierten Person —des Basilius — auch in seinem Dialoge „Über das Priestertum" betreffs kräftigerer und nachhaltigerer Erreichung seines Hauptzweckes, Verherrlichung des Priesteramtes, zur Anwendung bringen wollen?

Doch wollte man bei der Geltendmachung einer derartigen Anlage und Einrichtung seines Dialogs ungerechtfertigterweise etwa von einer direkten Abhängigkeit des früheren Libaniusschülers von Plato, dem eigentlichen literarischen Vater und Meister dieser Dialogform, absehen, so kann schließlich noch darauf hingewiesen werden, wie die fragliche Dialogform als rein literarische Einkleidung, als schriftstellerische Fiktion, ohne die Wiedergabe einer konkreten Situation, eines wirklich gehaltenen Gespräches sein zu wollen, seit Plato und den übrigen Sokratikern zum Gemeingut, man kann sagen, der Gesamtliteratur bis in die neueste Zeit geworden ist, daß speziell auch der christlichen Literatur vor Chrysostomus und zu seiner Zeit diese literarische Art wohl bekannt war, ja in ihr eine hervorragende Rolle spielte. Mehr als hinlängliche Beweise hierfür bieten die schon wiederholt zitierten zwei Bände von R. Hirzel, der eine umfassende Geschichte des Dialogs von seinem Ursprünge bis auf unsere Tage geschrieben und darin auch „den Dialog in der altchristlichen Literatur"104 eingehend behandelt hat. Ausschließlich das entsprechende Material aus altchristlicher Zeit hat in dankenswerter Weise erschöpfend zusammengetragen H. Jordan, der es unternommen, eine Darstellung der altchristlichen Literatur von rein literarischen Gesichtspunkten aus zu bieten und dementsprechend auch dem Dialog ein eigenes Kapitel (VI)105 widmete.

Es erübrigt sich infolgedessen, auf die weit verbreitete Benützung der Dialogform in altchristlicher Zeit hier näher einzugehen. Es sei nur daran erinnert, wie der Dialog in „glänzenden“106 Exemplaren sogar schon im alttestamentlichen Schrifttum Eingang gefunden hatte, wie das Buch Hiob und das Hohe Lied bezeugen, und daß der aus der Dialogform hervorgegangene Diatribenstil bereits den neutestamentlichen Schriftstellern geläufig war und in den Briefen des hl. Apostels Paulus107 und im Jakobusbrief108 zur Anwendung, gelangte109 — Beweis genug, wie diese untereinander verwandten Literaturformen allüberall Gemeingut der literarischen Kreise geworden waren. Bei der weiteren Verfolgung der altchristlichen Literaturentwicklung macht Hirzel110 darauf aufmerksam, wie all das, „was irgend in das Leben des jungen Christentums tiefer eingriff, jedes bedeutende Neue, das besprochen und leidenschaftlich hin und her erörtert wurde, sich eben hierdurch zu dialogischer Behandlung darbot”. Betreffs des U r s p r u n g s des christlichen Dialogs hält es Jordan111 für ausgeschlossen, zu dessen Erklärung etwa direkte Einwirkungen heranzuziehen, die von den obengenannten alttestamentlichen Dialogen oder von jüdischen Schulgesprächen des ersten Jahrhunderts ausgegangen wären. „Der Dialog christlichen Inhalts muß entwicklungsgeschichtlich vielmehr aufgefaßt werden als ein Gewächs auf dem Boden der griechischen und lateinischen Literatur, in seinen Arten, Formen, seinem Stile usw. von dorther völlig bestimmt…. Griechen, die in der Schule der Rhetoren gebildet waren oder doch wenigstens unter einigem Einfluß von dorther standen, haben diese Form dem Christentum zugeführt.“

Das zeigt sich ohne weiteres bei dem ältesten uns völlig erhaltenen Dialog des für Plato begeisterten Apologeten Justin mit dem Juden Tryphon aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts. Es läßt sich leicht nachweisen, wie der Verfasser den Traditionen des griechischen Dialogs in Aufbau und Einkleidung folgt; am Anfange und am Ende lassen sich mancherlei Nachahmungen speziell des platonischen Phaidros kaum verkennen112. Auch im frühesten, lateinisch geschriebenen christlichen Dialog, im Octavius des Minucius Felix, will Hirzel neben Cicero und Seneca den Einfluß Platos wiederfinden113. Augenfälliger begegnet uns die Einwirkung der antiken Tradition, insbesonders der platonischen Dialogschriftstellerei, bei Methodius, Bischof von Olympus in Lykien (gest. um 311), dem, wie Hirzel114 urteilt, „die Form des Dialogs, hierin fast einem zweiten Plato, der treue und notwendige Ausdruck seines Denkens war“115. Wir wissen, daß er eine ganze Reihe von Dialogen verfaßte, die aber teils verloren, teils nur in altslawischer Übersetzung auf uns gekommen sind. Das im griechischen Urtext ganz erhaltene „Gastmahl oder über die Jungfräulichkeit“ soll offensichtlich in Titel und Form eine Nachahmung, dem Inhalte nach ein Gegenstück sein zu Platons Symposion. „An die Stelle des Themas vom Eros ist als christliches Widerspiel der Liebe die keusche Jungfräulichkeit getreten. Stil, Sprache und phantasievolle Ausschmückung suchen das Werk zur klassischen Schönheit zu erheben, aber die Lebendigkeit und Tiefe und wechselvolle Schilderungskraft von Platons Werk ist hier nicht erreicht. Wir haben es mit einem Epigonen zu tun, der eine hohe künstlerische Form nicht mit dem gleichen Formengefühl meistern kann; es klafft ein Widerspruch zwischen dem Versuche klassischer Formengebung und dem asketischen Inhalte”116. Desgleichen kommt bei einem anderen erwähnenswerten Dialoge, den sogenannten „Acta disputationis Archelai“, in der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts verfaßt von einem gewissen Hegemonius, der Dialogform lediglich literarische Einkleidung zu. Diese Acta wollen Disputationen wiedergeben zwischen dem um 277 gestorbenen Sektenstifter Moni und einem Bischof Archelaus von Carcharä. Während z. B. der hl. Hieronymus117 an der Historizität dieser Streitgespräche nicht zweifelte, ist nach Bardenhewer118 „heutzutage allseits anerkannt, daß die Disputationen nur die auf Erfindung beruhende Form sind, in welche der Verfasser seine Kritik der Lehre Manis einkleidet. Bischof Archelaus und die auftretenden Personen insgesamt sind, von Moni und diesem oder jenem Schüler Manis abgesehen, geschichtlich nicht beglaubigt”.

Treten wir der Zeitperiode des Chrysostomus näher, so sagt Jordan119 gerade von ihr, daß damals „auch der Dialog wieder zu Ehren kam“ als „zu einer Zeit, wo christliche Rhetoren, gebildet in den Schulen der antiken Sophisiik, bereiter waren, antike Traditionen fortzusetzen, als die vornicänischen christlichen Schriftsteller, wo seit 362 Apollinaris von Laodicea direkt darauf ausging, eine christliche schöne Literatur zu schaffen, um den Vorwurf zu entkräften, daß das Christentum hierin unproduktiv sei“. Es seien unter den verschiedenen berühmten Namen aus jenem literarischen Blütenzeitalter, die bei ihrer Schriftstellerei auch die Dialogform zur Anwendung brachten, nur einzelne besonders hervorstechende genannt, so der bereits erwähnte Apollinaris von Laodicea, der sogar die Evangelien und die neutestamentlichen Apostelbriefe in Dialoge nach dem Vorbilde der platonischen umgestaltete120, Diodor von Tarsus, der Lehrer unseres Chrysostomus, dessen Dialogschriftstellerei wir einem Briefe Basilius’ des Großen entnehmen können121, und insbesondere Gregor von Nyssa, gestorben um 394. Auf keinen Kirchenschriftsteller des vierten Jahrhunderts haben platonische und neuplatonische Ideen so sehr eingewirkt als auf diesen großen Kappadozier. Wie sehr ihm die platonischen Dialoge durch genaues Studium vertraut waren, bezeugte er dadurch, daß er seinem Gegner Eunomius ein falsches Zitat aus dem Phaidros122 und ein Plagiat aus dem Kratylos Platos123 nachzuweisen vermochte. Und so ist auch Gregors bekanntester124eigener Dialog „Über die Seele und die Auferstehung” Platos Phaidon nicht bloß inhaltlich verwandt, sondern auch in der Form, in seiner ganzen Komposition, nachgebildet. Bardenhewer125 nennt ersteren „einen Pendant" zu letzterem. Wie bei Plato, so haben wir auch hier beim Nyssenischen Gregor ein Prooimion, eine szenische Einkleidung und ein doppeltes, nebeneinander herlaufendes Thema, indem der Verfasser sich selbst und seine Schwester Makrina über den Tod des gemeinsamen Bruders Basilius zu trösten sucht durch die gegenseitige Erörterung über Unsterblichkeit und Auferstehung126. Es mag dahingestellt bleiben, ob dem Dialoge nicht wenigstens teilweise eine historische Grundlage zuzusprechen ist, aber so wie er uns vorliegt, ist er jedenfalls „literarische Einkleidung“, ist er, wie Jordan127 weiter treffend bemerkt, „ein auf Grund der platonischen Dialoge, vor allem des Prototyps der Unsterblichkeitsdialoge, Platons Phaidon, abgefaßtes Literaturerzeugnis, das „einen der Höhepunkte christlicher Dialogschriftstellerei darstellt”.

Angesichts solch erdrückenden Materials, das für die Bedeutung des Dialogs als literarischer Kunstgattung in der altchristlichen Literatur hinreichend Zeugnis ablegt und das noch durch die Anführung weiterer patristischer Persönlichkeiten insbesondere auch aus der Zeit nach Chrysostomus, leicht vermehrt werden könnte128, muß wieder darauf hingewiesen werden, wie sehr es berechtigt erscheint, innerhalb eines solchen Milieus auch unseren Kirchenvater für den rein literarischen Einkleidungscharakter der benutzten Dialogform in seiner Abhandlung „Über das Priestertum" in Anspruch zu nehmen. Jordan129, dem wir in erster Linie eine bewußte Behandlung und Untersuchung der literarischen Werke der Väterzeit von rein literarischen Gesichtspunkten aus zu verdanken haben, sagt: „Wie weit der einzelne Dialog Wiedergabe eines wirklich gehaltenen Gesprächs gewesen ist, das muß im einzelnen festgestellt werden130. Nun aber ist es, wie im vorausgehenden betreffs unseres Chrysostomus-Dialogs aufs unzweideutigste dargelegt wurde, bis heute nicht gelungen, dessen Historizität und die seiner wesentlichen sachlichen Voraussetzungen zu erweisen. Es gilt deshalb auch hier der weitere Satz Jordans, „daß im allgemeinen die vorhandenen Dialoge in der uns vorliegenden, meist irgendwie künstlerischen Form als reine Erzeugnisse der Literatur aufzufassen seien131. Hirzel132 geht in seinem Schlußurteil noch einen Schritt weiter, wenn er bemerkt, daß, wenn auch manchmal der Schein des Historischen wenigstens gewahrt wurde, sich nichtsdestoweniger darunter die Dichtung verbarg, was schon um der Theorie willen anzunehmen sei, die man sich über die platonischen Dialoge gebildet hatte.

Ja, liegt nicht der Gedanke nahe, daß die drei Kirchenhistoriker, die unserem Vater zeitlich am nächsten standen, Sokrates, Sozomenus und Theodoret, wenn sie ausdrücklich die Freundschaft des Chrysostomus mit Theodor, Euagrius und Maximus erwähnen133, den Basilius jedoch übergehen, obwohl, wie wir sicher wissen, wenigstens Sokrates ausdrücklich von der Schrift „De sacerdotio“ Kenntnis hatte134 und durch ihn indirekt auch die beiden anderen, die auf ihm fußen, dies aus dem Grunde tun, weil sie sich des rein literarischen Charakters des einzig und allein von Basilius erzählenden Chrysostomus-Dialogs wohl bewußt gewesen sind, ebensogut wie dies betreffs der szenischen Einkleidung anderer patristischer Dialoge bekannt war?

Wenn ich demnach der Hypothese, in dem Chrysostomus-Dialoge bloß literarische Einkleidung zu erblicken, das Wort rede, so bin ich mir wohl bewußt, hierfür keine stringenten Evidenzbeweise vorgebracht zu haben. Aber die Rücksicht auf die Unmöglichkeit, die Historizität zu erweisen, auf die zum Teil unlösbaren Schwierigkeiten, welche der Annahme einer solchen im Wege stehen — negatives Moment —, die richtige Wertung der Tatsache, daß anderseits unserem hochgebildeten und hochgefeierten Libaniusschüler wie überhaupt seiner Zeit die Dialog-Diatribe-Form als literarische Kunstgattung, als schriftstellerische Fiktion gar wohl bekannt war — positives Moment —, läßt immerhin unsere Hypothese als viel ansprechender und wahrscheinlicher in den Vordergrund treten in dem Sinne, daß Chrysostomus mehr seine frei schaffende, dichtende Phantasie zu Worte kommen ließ. Jedenfalls muß es als gewagt bezeichnet werden, die Einleitung, der Schrift „Über das Priestertum" ihrem ganzen Inhalte nach als authentische historische Quelle für die Biographie des Chrysostomus heranzuziehen135, wie dies bis zum heutigen Tage fast durchwegs zu geschehen pflegt. Doch soll damit nicht gesagt sein, daß einzelnen in dem fraglichen Proömium nebenbei eingeflochtenen Umständenmnd Lebenszügen, wie z. B. dem Verhältnis des Heiligen zu seiner Mutter, die ganz oder teilweise anderswo historisch beglaubigt erscheinen, nicht tatsächlich geschichtlicher Charakter zuzusprechen sei.

A. Neander136 und ihm folgend A. Cognet137 sind schon um dessentwillen dem Gedanken an eine literarische Fiktion abgeneigt, weil sie glauben, es müßte als eine „Prahlerei" aufgefaßt werden, wenn Chrysostomus fingierend von sich verkündet haben würde, er sei in ganz jungen Jahren zur Bischofswürde auserkoren worden, ohne daß dies also den Tatsachen entsprochen hätte. Er hätte dadurch in unwahrer und unberechtigter Weise die allgemeine Bewunderung auf sich gelenkt, was sich mit seinen anderen Charaktereigenschaften nicht vereinbaren ließe, überhaupt „ihm nicht zuzutrauen" wäre. Doch bei näherem Hinsehen wird im weiteren Verlaufe des Dialogs dieses scheinbare, fiktive Ruhmesblatt mehr als genügend paralysiert, um einen solchen Vorwurf nicht aufkommen zu lassen, durch das Selbstporträt, das Chrysostomus von sich entwirft, indem er, sich selber aufs tiefste verdemütigend, in den grellsten Farben seine eigenen geistigen Schwächen, Gebrechen und Armseligkeiten schildert, die ihn zu dem erhabenen Amte eines Bischofs ganz und gar unfähig, direkt unwürdig machen würden.

Einmal zugegeben, daß Chrysostomus in der Einleitung der Schrift überhaupt eine bloß szenische Einkleidung, eine literarische Fiktion, beabsichtigte und bezweckte, dann konnte entsprechend des erfahrungsgemäßen und traditionellen Charakters einer solchen Fiktion deren Ausdehnung auch auf persönliche Verhältnisse keinerlei Bedenken, auch nicht moralischen, begegnen. Gesteht doch unser Autor, was insbesondere letzteres Moment anbelangt, gerade im ersten Buche seines Dialogs ausdrücklich selbst zu, daß er unter Anwendung von List sogar seinen vertrautesten Freund Basilius in Bezug auf seine eigenen höchst persönlichen Verhältnisse, nämlich in Bezug auf seine eigentliche Absicht, der Bischofswürde sich zu entziehen, getäuscht habe, und er scheut nicht davor zurück, solche Fiktionen direkt zu rechtfertigen, ja List und Täuschung unter gewissen Voraussetzungen als erlaubt hinzustellen und zwar in einer Weise, die mit den Prinzipien strenger Wahrhaftigkeit kaum zu vereinbaren ist.

Übrigens sei nicht unterlassen, hier ausdrücklich zu konstatieren und zu betonen, daß durch die Frage nach der Historizität der Veranlassung und Einleitung unserer Schrift, bzw. durch die negative Beantwortung derselben, der Hauptinhalt der Ausführungen unseres Vaters, seine treffliche prinzipielle Auseinandersetzung über die erhabene Würde und schwere Bürde des Priester- und Bischoftums, keineswegs tangiert wird.

Wenig Sympathie und Wahrscheinlichkeit kann der von Hasselbach vertretenen Form unserer Hypothese zugesprochen werden, der zwar als erster sich für den Gedanken einer literarischen Fiktion eingesetzt hat, aber eine Scheidung zwischen Wahrem und Erdichtetem in unserem Prooimium nur insofern vornehmen will, als er die wirkliche Existenz des Basilius voraussetzt, beide Freunde jedoch nicht zur Bischofswürde, sondern bloß zum Priestertum berufen werden läßt138. Damit werden aber die früher hervorgehobenen Schwierigkeiten und Widersprüche keineswegs beseitigt. Hasselbach beruft sich139 für seine Interpretation hauptsächlich auf die von ihm in Buch I, Kap. 6 akzeptierte Lesart, es sollten beide „zur priesterlichen Würde erhoben werden“. Er liest also mit den Ausgaben von Benget, Seltmann, Nairn „εὶς τὸ τῆς ἱερωσύνης ἀξίωρα“, obwohl diese Lesart nach Sovile und Montfaucon bloß von vier Manuskripten140 bezeugt ist und obwohl demnach die „maxima pars mss.” das auch mehr dem ganzen Zusammenhang entsprechende und von Savile, Montfaucon, Migne und anderen in ihre Editionen aufgenommene ,„εἰς τὸ τῆς ἐπισκοπῆς ἀξίωρα“ bietet. Auch Nairn141 muß mit Seltmann142 und Jakoby143 ausdrücklich zugeben, daß letzteres „the vulgate reading" ist. Was sodann den inneren Zusammenhang anbelangt, so kann selbst Hasselbach144 nicht umhin, mit einer Deutlichkeit, die nicht mehr übertroffen werden kann, zuzugestehen, daß des Chrysostomus „Schrift im ganzen hauptsächlich auf die Darstellung der gerade mit der bischöflichen Würde verknüpften Schwierigkeiten abzwecke und das einem geistlichen Amte überhaupt Eigene nur insoweit zur Sprache bringe, als auch das bischöfliche unter solchem begriffen sei“. Desgleichen sagt auch Nairn, daß die gewöhnliche Lesart „ὲπισκοπῆς“ für welche allerdings, wie er meint — ob mit Recht? — kein Manuskript von Gewicht spricht, ohne Zweifel den richtigen Sinn gebe, zumal aus anderen Stellen der Schrift klar hervorgehe, daß Chrysostomus und Basilius nicht bloß zu Presbytern und Diakonen, sondern zu Bischöfen geweiht werden sollten145. Abgesehen von all dem, selbst das wirkliche Vorkommen des Ausdruckes „ἱερωσὑνη“ an obiger Stelle (Buch I, 6) würde an sich gar nichts im Sinne der Interpretation Hasselbachs beweisen können, da dieser Terminus, wie fast in der ganzen Patristik, so auch bei unserem Kirchenvater für Bischof und Priester gleichmäßig, ja in demselben Zusammenhang promiscue mit „ἐπισκοπή“ gebraucht wurde, von dem Gesichtspunkte ausgehend, daß der Episkopat als der Höhepunkt des Priestertums zu betrachten ist146 und da speziell in unserem Chrysostomus-Dialoge zur Bezeichnung des in Frage stehenden geistlichen Amtes neben „ἱερωσύνη, ἱερατικἠ ὰξία, ἱερεύς ἱερώμενος“ ebensogut „ἐπισκοπός, ἐπισκοπή“ oder andere unbedingt einzig und allein auf die Bischofswürde passende, synonyme Ausdrücke147 vorkommen.

Noch weniger Berechtigung und Anklang dürfte die Hypothese von J. Volk148 verdienen, der in dem Chrysostomus-Dialoge eine literarische Fiktion in dem Sinne erblicken will, daß er das in demselben auftretende Freundespaar Chrysostomus und Basilius identifiziert mit einem anderen älteren, historisch feststehenden und allbekannten Freundschaftsverhältnis zwischen Gregor von Nazianz und Basilius dem Großen von Cäsarea. Chrysostomus habe „aus der Geschichte des Gregor“, der bekanntlich, wider Willen zum Priester geweiht, sich aus Furcht vor der Verantwortlichkeit dieses Amtes demselben durch die Flucht zu seinem Freunde Basilius in die Einsamkeit des Pontus entzogen und seinen Schritt in seiner apologetischen Rede über die Flucht149 gerechtfertigt hatte, „den Roman gemacht, der die Einleitung seines Dialogs bilde”. Es sei demnach unter dem in unserem Dialog in der ersten Person Redenden nicht Johannes Chrysostomus zu verstehen, sondern Gregor von Nazianz, der an des ersteren Statt und unter dessen Namen eingeführt worden sei.

An Volks Hypothese ist nur soviel wahr, daß Chrysostomus sich durch Gregors Verteidigungsrede, die bekanntlich die erste prinzipielle Darlegung der Würde und Bürde des Priestertums und eine herrliche Zeichnung des Ideals eines Priesters und Bischofs enthält, vielleicht zur Abfassung seines von den gleichen Gedankengängen beherrschten eigenen Dialogs veranlaßt fühlte, wenigstens sicherlich sich an Gregors Schrift anlehnte und nicht wenige Einzelzüge direkt deren Ausführungen entnahm. Aber die neue literarische Arbeit des Antiocheners auch hinsichtlich der beteiligten Personen als nichts anderes zu betrachten denn als eine förmliche und völlige, fin¬gierte Reproduzierung des einstmals zwischen Gregor von Nazianz und Basilius von Cäsarea Vorgefallenen, das geht ohne Zweifel zu weit, ist ganz und gar unberechtigt. Wenn auch manche Momente, durch welche Chrysostomus seine vertrauten Beziehungen zu Basilius charakterisiert, geradesogut auf das andere Freundschaftsverhältnis passen, man lese hingegen, mit welch charakteristischen Zügen der Verfasser des Chrysostomus-Dialogs sich selbst individualisiert, wie er seine eigenen geistigen Schwächen, starken Leidenschaften, menschlichen Armseligkeiten sozusagen schonungslos seziert. Und unter der hiermit vor aller Welt enthüllten Individualität sollte nicht er selbst gemeint gewesen sein, sondern eine ganz andere Persönlichkeit, der zur Zeit der Abfassung der Schrift wohl noch lebende Gregor von Nazianz?150 Desgleichen passen verschiedene Züge, die Chrysostomus seinem Freunde Basilius zuteilt, keineswegs auf Basilius von Cäsarea. Auch die äußeren, allgemein bekannten Verhältnisse, unter denen die IchPerson des Chrysostomus-Dialogs auftritt, stimmen durchaus nicht mit dem überein, was wir notorisch über Gregor von Nazianz wissen. Es sei nur daran erinnert, was Chrysostomus dort über seine Abstammung, über seinen schon längst verstorbenen Vater und über seine überaus innigen Beziehungen zu seiner früh zur Witwe gewordenen Mutter berichtet; dagegen starb Gregors Vater im Alter von beinahe hundert Jahren, ganz kurz vor dem Tode der Mutter151. In der szenischen Einkleidung seines Dialogs erzählt Chrysostomus mit besonderer Emphase, Freude und Genugtuung, was zugleich die tiefste Bestürzung und Trauer des Basilius hervorgerufen habe, daß es ihm tatsächlich mit Erfolg gelungen sei, der Bischofsweihe zu entfliehen, während betreffs des Nazianzenischen Gregor feststeht, daß er erst, nachdem er zum Priester geweiht, vor der faktischen Übernahme des übertragenen Amtes die Flucht ergriffen hatte, aber bald darauf zurückkehrte, um seinen Vater in der Verwaltung der Diözese Nazianz zu unterstützen und dann die fragliche Verteidigungsrede hielt152. Welch wesentlicher Unterschied in der ganzen äußeren Situation!153 Und da will uns J. Volk glauben machen, Chrysostomus hätte „seinen Lesern nicht erst zu sagen brauchen, wer der unbekannte Ich des Dialogs sei! Die hätten ja, wie er voraussetzen durfte, die Rede Gregors gekannt"154.

Über das Priestertum

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