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Anfang August, 2015 Lordtom99\2\Wien:Neumann.docx

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Es war kurz vor acht Uhr, als die U-Bahn-Linie 2 in der Station »Donauspital« einfuhr. Ich drängte mich an zwei Botox-Omas vorbei und nahm die Rolltreppe im Vollsprint. Oben umrundete ich das Krankenhaus und lief zum Eingang C.4, der direkt ins Untergeschoss führte. In der Garderobe schlüpfte ich aus meinen Jeans und dem Sakko. Nur mit einer Unterhose bekleidet passierte ich die Schleuse und holte mir aus einem Kästchen mit meiner Dienstnummer die keimfreien OP-Sachen. Im Saal 5 bereitete der Anästhesist die Narkose für das zweijährige Mädchen vor, das auf dem Operationstisch lag. Mit einer Tastatur regelte er die Fließgeschwindigkeit des Betäubungsgases und stülpte der kleinen Patientin die Saugöffnung über den Kopf. Sie fragte ständig nach ihrer Mutter. Ich trat näher an den Operationstisch heran und streichelte ihre Hand. »Deine Mama wartet draußen«, sagte ich. »Du wirst ein bisschen schlafen. Du bist doch müde?«

Die Kleine nickte. Nach drei tiefen Atemzügen hatte das Narkosegas ihr Zentralnervensystem erreicht und ihre Augen wurden schwer. Während die OP-Schwester den Brustkorb der Kleinen desinfizierte, warf ich einen Blick auf die Rönt genbilder und blätterte durch die Krankenakte. Nichts Auffälliges. Alter: zwei. Gewicht: neun Kilo. Keine Krankheiten, aber ein Herzscheidewanddefekt. Bei der Geburt festgestellt. Standardprogramm. Ich überließ das Abhaken der Checkliste dem Anästhesisten und ging in den Waschraum. Dort reinigte ich meine Finger und Hände in mehreren Waschgängen mit Seife und Octenisept. Am Ende kam eine Schwester in steriler Kleidung und half mir in die keimfreien Handschuhe.

»Wo ist Garstner?«, fragte ich, als ich in den Operationssaal zurückkehrte. »Er wollte mir doch assistieren.«

»Notfallhubschrauber«, antwortete der Anästhesist. »Professor Haliovic hat ihn mitgenommen. Er wird kommen, sobald er fertig ist.«

»Ein Notfall. Meinetwegen«, antwortete ich und warf einen Blick auf den reglosen Körper auf dem Operationstisch. Alles war vorbereitet. Die Röntgenbilder hingen wie Poster an den Wänden. Der Brustkorb war desinfiziert, die Schnittstelle war eingezeichnet. Der Anästhesist und der OP-Gehilfe nickten mir zu. Die Schwester reichte mir das Skalpell, und ich setzte einen sauberen Hautschnitt. Anschließend öffnete ich mit der oszillierenden Säge, einer Art Stichsäge, den Brustkorb des Mädchens. Der Spalt war schmal, kaum größer als drei Zentimeter. Ich schob zwei Klammern in die Öffnung und presste den Brustkorb auseinander. Vor mir lag der Herzbeutel. Ein rötlich-weißer Sack, der das Herz umschloss und so seine Funktionsfähigkeit gewährleistete. Mit einem Skalpell setzte ich einen zehn Zentimeter langen Schnitt in den Beutel und öffnete die rechte Herzkammer, um so an die defekte Herzscheidewand zu gelangen.

Während der Arbeit musste ich mehrmals absetzen. Meine Konzentration war schlecht. Ich sah auf die Uhr. Garstner ließ auf sich warten. Morgen flog er zu einem mehrmonatigen Forschungsaufenthalt nach Massachusetts. Ich hatte extra veranlasst, dass wir noch einmal zusammenarbeiteten, und jetzt funkte mir Haliovic dazwischen. Aber gut, so war es eben. Ich bat die Schwester, mir den Schweiß von der Stirn zu tupfen und lokalisierte mit einer Schlauchkamera die Löcher in der Herzscheidewand. Mit dem Skalpell schnitt ich aus dem Beutelgewebe ein Perikard-Patch, ein körpereigenes Pflaster zur Behandlung von verletzten Organen. Bevor ich das Patch anbrachte, musste ich es zur Stabilisierung in eine Glutaraldehydlösung legen. Während das Stück Gewebe in der Petrischale an Festigkeit gewann, ging die Schiebetür auf und Garstner betrat den OP. Seine OP-Haube war verrutscht, und er wirkte ziemlich angespannt.

»Haliovic hat einen Fahrradunfall drüben in Saal acht«, sagte er. »Zusammenstoß mit einem Lastwagen in der Speisinger Straße. Er will mich.«

Ich deutete mit einer Kopfbewegung mein Einverständnis an. Dann suchte ich Augenkontakt zu Garstner. Als sich unsere Blicke trafen, zog er ein Kuvert aus seinem Hosenbund und legte es in eine Lade unter der Lichtwand. Ich nickte ihm zu. Die anderen taten so, als hätten sie unsere Transaktion nicht bemerkt.

Nachdem Garstner den Saal verlassen hatte, holte ich das Patch mit einer Pinzette aus der Lösung und zerschnitt es in drei gleich große Teile. Die Schwester bereitete währenddessen die polyfilen Fäden und eine Nadel vor. Jetzt kam der heikle Teil: Ich musste die körpereigenen Pflaster an der Herzscheidewand anbringen. Da ich wenig Platz hatte, um mit dem Operationsbesteck zu hantieren, arbeitete ich sehr gewissenhaft. Ich benötigte fast zwei Stunden für diese eigentlich einfache Tätigkeit.

Kurz vor elf Uhr war es dann soweit. Die Löcher in der Herzscheidewand waren verschlossen. Nachdem der erste Assistent meine Arbeit kontrolliert hatte, bat ich den OP-Gehilfen, die Kaliumlösung abzulassen. Das Herz übernahm wieder seine Funktion im Körper, die während der OP die ECMO-Maschine ausgeführt hatte.

Mit zehn Stichen schloss ich den Herzbeutel. Den Rest überließ ich dem ersten Assistenten. Während ich am Notebook das Operationsformular ausfüllte, holte ich beiläufig Frieds Kuvert aus der Lade. Ich kontrollierte die Vitalfunktionen des Mädchens und strich ihm sanft über die Wange. Dann kehrte ich zurück in die Garderobe und warf meine OP-Kleidung in den Müll. Im Aufenthaltsraum der Chirurgie I holte ich mir einen Kaffee und aß ein Stück einer verwaisten Geburtstagstorte. Auf der Terrasse setzte ich mich in die Mittagshitze und öffnete das Kuvert. Auf einem schmuddeligen Notizzettel stand in Garstners nicht gerade erwachsen wirkender Schrift: Heute 17 Uhr, Südeingang, Axel (Militärjacke), bringe 500 Euro.

Garstner hatte erwähnt, dass der Sozialarbeiter im Kinderdorf nur gegen Bezahlung kooperierte. Von 500 Euro hatte er nichts gesagt. Aber egal, ich bekam Zugang zum geschlossenen Bereich, und darum ging es mir.

Den Nachmittag verbrachte ich mit Bereitschaftsdienst im Aufwachraum. Dort konnte ich mich in ein stilles Zimmer zurückziehen und die Operationsprotokolle der vergangenen Tage fertigschreiben. Nach eineinhalb Stunden hatte ich den gröbsten Rückstand aufgearbeitet.

Aus dem Schwesternzimmer holte ich mir einen Milchkaffee und ein mürbes Croissant. Ich setzte mich in meinem Zimmer an den Glastisch, auf dem ich eine Mappe mit Zeitungsartikeln, Blogbeiträgen und Diskussionsverläufen aus dem Netz abgelegt hatte. Seit sich die Staatsanwaltschaft mit Hanna Mahlers und Manuel Sommers Geschichte befasste, hatte ich mich bemüht, alles über die beiden Ärzte zu lesen und aufzubewahren. Inzwischen umfassten meine Recherchen zwei dicke Ringordner. Ich hatte niemandem von meiner Sammelwut erzählt. Ein wenig schämte ich mich für mein Verhalten, da solche Projekte eher zu Typen, die in der neurologischen Ambulanz ein- und ausgingen, passten.

Zum ersten Mal hörte ich von der Festnahme der beiden Ärzte beim Rückflug von der jährlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, die vor zwei Wochen in Göttingen stattgefunden hatte. Kurz vor dem Abflug in Hannover scrollte ich durch die App einer Tageszeitung. In der Rubrik »Panorama« fand ich einen Artikel, der meine Aufmerksamkeit erregte. »Polizeieinsatz am Bahnhof Wien Meidling: Wiener Spitzenärztin festgenommen«, lautete der Titel. Darunter ein Foto von Mahler. Weißer Kittel, kurze blondierte Haare, einen Spachtel in der Brusttasche.

In den folgenden Tagen las ich alles über Mahlers und Sommers Festnahme. Die Ungeheuerlichkeit der Vorwürfe gegen die beiden fesselte mich, wie ich es noch nie erlebt hatte. Manuel hatte mich nach seiner Rückkehr von der türkisch-syrischen Grenze im Morgengrauen angerufen, als er Hanna nicht in der Wohnung vorgefunden hatte. Wenig später war er bei mir im Donauspital mit einem Mädchen aufgekreuzt. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht, aber jetzt, nachdem der Fall der beiden öffentlich geworden war, hatte ich große Schuldgefühle. Warum war mir damals nicht aufgefallen, welches Mädchen Manuel mitgebracht hatte? Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich sehr viel Unheil verhindern können. Es würde der Kleinen besser gehen und wahrscheinlich auch meiner Mutter, die sich die ganze Zeit über große Sorgen gemacht hatte. Gerade meiner Mutter wollte ich jetzt eine Freude machen. Die Nachricht, dass die Polizei das Mädchen gefunden hatte, konnte sie wegen ihrer Demenz-Erkrankung nicht mehr richtig verarbeiten. Ich hatte mich daher entschlossen, ein Foto von der Kleinen zu machen, damit meine Mutter sie immer bei sich hatte.

Es war schwierig gewesen, persönlichen Kontakt zu der Kleinen herzustellen. Nachdem ich abgelehnt hatte, die Sorgepflicht zu übernehmen, verwehrte mir die Polizei das Besuchsrecht. Ich musste also anderweitig aktiv werden. Als ich mich im Ärztemilieu umhörte, gab mir Garstner einen Tipp. Einen, der weit mehr als 500 Euro wert war, wenn er stimmte.

Um halb vier Uhr packte ich den Ordner mit meinen Recherchen ein und machte eine letzte Kontrollrunde im Aufwachraum. Mit der U-Bahn und der Straßenbahn brauchte ich fast eine Stunde bis zum SOS-Kinderheim in Strebersdorf. Ich ging zwischen Buschenschanken und Weinkellern zum Südeingang des Heims, vor dem ein Typ mit Camouflage-Jacke eine Zigarette rauchte und dabei nervös über sein Smartphone wischte. Das musste Axel sein. Als er mich bemerkte, zog er einen Schlüsselbund aus seiner Jacke und öffnete die Stahltür. »Georg Neumann?«, fragte er und musterte mich wie ein Grenzwachebeamter einen Kleinwagen mit rumänischen Gastarbeitern. »Garstner hat gut über Sie gesprochen.«

»Garstner ist mein Assistent. Wir kennen uns seit fast sechs Jahren«, sagte ich.

Axel zuckte mit den Schultern, dann schnippte er die Zigarette auf den Gehsteig und öffnete das Tor.

Das Pflegeheim bestand aus einem großen, beigefarbenen Hauptgebäude und einer Reihe von Bungalows, in denen die zehnjährigen und älteren Kinder lebten. In der Mitte des Geländes lag ein Spielplatz mit einer Baumhütte, von der Strickleitern und Seile hingen. »Haben Sie das Geld?«, fragte Axel und strich mit der Zunge über seine rissigen Lippen.

Ich zog die fünf grünen Scheine aus der Brusttasche und gab sie dem Pfleger.

»Für mich ist Ihre Anwesenheit ein Risiko«, sagte Axel. »Ich könnte den Job verlieren.« Er lächelte angestrengt.

Für meine Begriffe reagierte Axel überzogen, auch wenn der Fall für das Heim zweifellos unangenehm war. Seit Hannas und Manuels Namen in der Öffentlichkeit zirkulierten, berichteten die Zeitungen regelmäßig über das Mädchen. Anfang des Monats prangte ein Bild von der Kleinen auf dem Cover eines Boulevard-Blattes, acht Monate alt mit schwarzen Haaren, aber es war ein Fake gewesen, wie sich nach einigen Tagen herausgestellt hatte. Die Zeitung hatte ein falsches Foto gehabt.

Ich folgte Axel ins Hauptgebäude. In der Babystation verteilten die Betreuer gerade die Milchfläschchen. Es roch nach Desinfektionsmittel und säuerlichem Babyschweiß. Mich wunderte, dass niemand die Fenster öffnete. Vor den einzelnen Zimmern lagen Berge von Schmutzwäsche. Kinder lagen in ihren Gitterbetten und quengelten.

Axel winkte ins Schwesternzimmer, schlüpfte aus seiner Jacke und begleitete mich in den hinteren Teil der Station. Dort waren die drei- bis sechsjährigen Kinder untergebracht. Vier von ihnen saßen in abgetragenen Sportsachen in einem Aufenthaltsraum und tranken heiße Milch. Sie musterten mich wie einen Außerirdischen. Axel bedeutete mir, mich zu beeilen.

Er führte mich in ein Zimmer mit einem Gitterbett, einem Schrank und einem Waschbecken mit einer Ablage zum Windelwechseln. In dem Bett lag ein kleines Mädchen. Neben dem Bett saß eine junge Frau mit starker Akne und blätterte in einer Illustrierten. Sie verließ unaufgefordert das Zimmer, als Axel einen Stuhl für mich heranzog.

Ohne Platz zu nehmen, beugte ich mich über die Kleine. Kein Zweifel, ich hatte sie schon einmal gesehen. Ich kannte ihre breite, nach oben gekrümmte Nase, die wulstigen, an den Winkeln leicht eingerissenen Lippen und das runde Kinn. Ein Kloß bildete sich in meinem Magen, und ich atmete zweimal tief durch.

»Zufrieden?«, fragte Axel und ließ sich selbst auf den Stuhl fallen.

»Nein«, antwortete ich.

»Nein?« Axel lachte verlegen und kratzte sich mit seinen Wurstfingern am Kinn.

»Ich brauche Fotos von der Kleinen.«

Axel machte große Augen. »Fotos? Kommt nicht infrage. Ich habe es Garstner erklärt. Wenn die irgendwo auftauchen, ist es klar, woher sie stammen.«

»Ich brauche die Fotos trotzdem.«

Axel strich über seine rasierte Glatze. Seine Augen wurden groß, und etwas Unbestimmtes flackerte darin, als ich mein Handy nahm und die Kamera anklickte.

Axel baute sich vor mir auf. »So geht das nicht«, sagte er.

»Warum gehen Sie nicht für drei Minuten auf die Toilette? Wenn Sie zurückkommen, werde ich auf dem Stuhl sitzen und nichts wird passiert sein.«

»Und wenn ich bleibe?« Axel machte einen Schritt auf mich zu.

»Ich möchte mit den Bildern einer alten Frau eine Freude machen«, sagte ich.

Axel kniff die Augen zusammen.

Ich zog einen weiteren Hunderter aus meinem Sakko.

»Drei Minuten«, sagte Axel. »Machen Sie keinen Scheiß, sonst sind Sie dran.«

Kalte Sonne

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