Читать книгу Kalte Sonne - Johannes Epple - Страница 7
Anfang April, 2015 Lordtom99\3\Wien:Mahler.docx
Оглавление»Wer sind Sie? Sagen Sie mir Ihren Namen. Kommen Sie, ich habe Ihnen nichts getan.«
Stille.
»Sie sehen mich nicht einmal an. Wie alt sind Sie? 22? 23? Hat Ihnen Brandner verboten, mit mir zu sprechen?«
Keine Antwort. Nur das monotone Klicken des Aufzugs bei jedem Stockwerk, an dem er vorbeifuhr.
»Hören Sie, ich komme gerade aus dem Kreißsaal. Wo ist Dr. Brandner, Nikolaus Brandner? Wo ist mein Kind? Meine Tochter. Ich suche meine Tochter.«
Der Aufzug ruckelte. Erdgeschoss, 1. Stock. Hanna zog sich am Seitengitter ihres Bettes hoch und blickte in das Gesicht des Mannes. Spitze Nase. Pferdeschwanz. Zerknittertes Hemd mit einer Zivildiener-Plakette an der Brust. »Sie wird gewaschen. Sie wird gewogen. Mehr ist nicht. Was soll das also? Sagen Sie mir gefälligst, wo meine Tochter ist.«
Der Zivildiener strich eine Strähne aus seinem Gesicht und blickte starr auf den Lageplan neben der Aufzugtür. »Alles Routine«, sagte er. »Alles unter Kontrolle. Beruhigen Sie sich.«
Hanna sank zurück. Bei jeder Bewegung wogte eine Welle des Schmerzes durch ihren Körper. Ihr Unterleib brannte. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Im dritten Stock öffnete sich die Schiebetür und der Zivildiener schob Hanna in ein Doppelzimmer. Er stellte sie auf den Platz neben dem Balkon, nahm die Krankenmappe und ging. Hanna stützte sich auf die Unterarme und sah sich um. Ihre Zimmerkollegin hatte die Decke über den Kopf gezogen. Hanna konnte nur ein braunes Haarknäuel und aufgeklebte Fingernägel erkennen. Am Nachtkästchen der Frau stand ein Orchideenstrauß. Auf der anderen Seite, eine Armeslänge von ihr entfernt, lag ein Neugeborenes in einem roten Gitterbett und strampelte vergnügt.
Während Hanna die walnussgroße Faust des Kindes betrachtete, die sich ungelenk öffnete und schloss, klopfte es an der Tür. Ein Arzt, höchstens ein paar Jahre älter als der Zivildiener, betrat schwungvoll das Zimmer, nahm sich einen Stuhl und schaltete seinen Pieper auf lautlos. »Es dauert noch ein paar Minuten«, sagte er. »Untersuchungen, Frau Mahler, Sie kennen das Prozedere.«
»Welche Untersuchungen?«, fragte Hanna. »Wo ist mein Kind?«
»Nun, Frau Dr. Mahler …« Der Arzt nahm seine Brille ab und polierte die Gläser mit der Innenseite seines Kittels.
»Sparen Sie sich das ›Frau Dr. Mahler‹. Ein Anruf bei der Patientenanwaltschaft und hier ist die Hölle los«, sagte Hanna. Die Aufregung machte sie ganz schwach. Sie hielt sich am Seitengitter fest und schluchzte. »Jeder Küchenpsychologe weiß, dass so ein Verhalten nicht in Ordnung ist. Nicht nach einer Geburt. Nicht gegenüber einer Mutter.«
Die Frau im Nachbarbett regte sich. Sie schlug die Decke zur Seite und holte, offenbar ohne Hanna und den Arzt wahrzunehmen, ihr Neugeborenes zu sich ins Bett.
»Frau Mahler, wir sind keine Idioten.«
»Dann sagen Sie mir, was los ist.«
Der Arzt war für die Jahreszeit braungebrannt und ließ sich offensichtlich die Augenbrauen zupfen. Er holte ein Notizbuch aus seinem Kittel und schlug es dort auf, wo das rote Leseband eingeklemmt war. »Ich habe mir Ihre Ultraschallbilder angesehen.« Kurze Pause. »Sie haben ein Mädchen erwartet, nicht wahr? Eine Tochter.«
Hanna nickte. Hinter ihrer Stirn pochten die Schmerzen. Sie fühlte sich wie nie zuvor in ihrem Leben. Nicht einmal vor der Defensio ihrer Habilitationsthesen war es ihr so schlecht gegangen. »Es ist kein Mädchen«, sagte sie.
Der Arzt klappte das Notizbuch zu.
»Es ist ein Junge«, sagte Hanna.
»Der Frauenarzt hat das Geschlechtsteil auf den Ultraschallbildern übersehen.«
»Ein Junge. Wo ist das Problem?«
»Dr. Brandner wird mit Ihnen sprechen. Er wird in wenigen Minuten da sein.«
»Ich will nicht warten. Ich will den Jungen sehen. Jetzt. Sofort.« Hanna zog sich am Seitengitter hoch. Sie nahm ihre ganze Kraft zusammen, um nicht sofort wieder umzukippen. Als sie aufrecht saß, wurde ihr schwarz vor den Augen.
»Frau Mahler, bitte beruhigen Sie sich. Sie haben eine sechsstündige Geburt hinter sich. Dr. Brandner wird gleich kommen.« Verlegen lächelnd drückte der Arzt Hanna sanft zurück ins Bett.
Als Hanna wieder alleine war, trank sie einen Schluck Früchtetee. Mit der Tasse in der Hand blickte sie aus dem Fenster. Es war ein warmer Frühlingsnachmittag. Die Eichen und Tannen im Park der Semmelweis-Klinik glänzten im Sonnenlicht. Es war still, außergewöhnlich still für so ein großes Krankenhaus.
Eine falsche Bestimmung des Geschlechts kam gelegentlich vor. Hanna wusste das. Meistens handelte es sich um einen unachtsamen Frauenarzt oder um ein veraltetes Ultraschallgerät, das den Innenraum der Gebärmutter unscharf reproduzierte. Es konnte auch passieren, dass das Kind schlecht lag und so das Geschlecht nicht vollständig zu erkennen war.
Aber das alles traf nicht zu. Davon war Hanna überzeugt. Der Frauenarzt war ein Profi mit modernster Ausstattung, den sie seit Jahren konsultierte. Sie selbst hatte sich das Ultraschallbild angesehen. Zuerst in der Praxis und dann noch einmal daheim. Ihr Kind war ein Mädchen.
Im Nachbarbett regte sich das Neugeborene. Es streckte seine Arme und kreischte. Die Mutter legte das Kind an ihre Brust. Hanna beobachtete den Stillvorgang. So in etwa hatte sie sich die Stunden nach der Geburt vorgestellt. Zu zweit im Bett. Sie und das Mädchen ganz nah, so nah, dass sie sich gegenseitig einatmen konnten.
Als das Neugeborene gegenüber seinen Hunger gestillt hatte, schlief es augenblicklich ein. Die Frau legte das Kind in das rote Gitterbett zurück und tapste mit nackten Füßen ins Bad. Duschgeräusche. Der Ventilator brummte.
Seit dem Gespräch mit dem jungen Arzt waren zwanzig Minuten vergangen und Brandner war noch immer nicht da. Mistkerl. Hanna entschloss sich, bei nächster Gelegenheit tatsächlich den Patientenanwalt zu kontaktieren oder gleich den Vorstand der Semmelweis-Klinik. Aber zuvor brauchte sie Informationen über den Zustand ihres Kindes.
Hanna drückte den Notfallknopf am Nachtkästchen. Einmal. Zweimal. Sie wartete. Dreißig Sekunden. Eine Minute. Nichts. Sie setzte sich an den Bettrand und atmete tief ein. Sie schlüpfte in die Krankenhausschuhe und machte sich auf den Weg zur Tür. Langsam. Bedächtig. Mit zur Sicherheit ausgestreckten Armen. Sie schaffte es ohne Schwindelanfall bis zum Waschbecken neben der Tür. Dort machte sie eine Pause. Wehmütig blickte sie zu dem schlafenden Kind. Ein Junge. Wenigstens deutete der blaue Strampler daraufhin. Er hatte dichte, schwarze Haare und eine Boxernase. Seine Hände lagen ruhig auf der Bettdecke.
Hanna schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Wand. Sie war zu schwach, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Kehle war trocken. Die Beine zitterten. Mit letzter Kraft trat sie auf den Gang. Sie tastete sich an der Mauer entlang und klopfte an die Glastür des Schwesternzimmers. Sie hörte Stimmen. Eine Gänsehaut jagte über ihren Rücken. Ein Telefon läutete. Schritte. Die Tür ging auf. Das bleiche Gesicht einer Mittvierzigerin war das Letzte, das Hanna wahrnahm.
Weißes Licht. Ein Luftzug vom Fenster. Ein Vorhang, der sich aufbauscht.
Schmerzen. Im Kopf. Im Unterleib. Schmerzen. Am Handgelenk. Am Oberkörper.
»Frau Mahler, hören Sie mich? Ich bin Marija. Bitte geben Sie mir Ihren Arm. Keine Sorge, es tut nicht weh.«
Hanna öffnete die Augen. Eine Schwester mit einer Tätowierung am Handgelenk beugte sich über sie. »Ich gebe Ihnen Kochsalzlösung. Sie haben lange geschlafen.«
Hanna stützte sich auf die Ellbogen. »Was?« Sie fühlte einen Verband auf ihrer Stirn. »Wie lange?«
»Sie sind in Ohnmacht gefallen. Gestern.«
»Gestern?«
»Der Arzt kommt gleich.«
Marija hängte die Kochsalzlösung an den Haken über ihrem Bett. Das Bett der zweiten Frau im Zimmer war leer. Im Gitterbett quengelte ihr Junge. Aus dem Bad kamen Duschgeräusche.
»Bitte geben Sie mir mein Kind«, sagte Hanna.
Hanna zeigte auf ihr Nachthemd, das nass war von der austretenden Muttermilch.
»Ich hole eine Pumpe«, sagte Marija.
»Ich will keine Pumpe«, antwortete Hanna. »Ich will mein Kind.«
Brandner kam mit seinen Assistenten zwanzig Minuten später. Unter dem weißen Mantel trug er ein weißes Hemd mit einer roten Krawatte. Er blätterte in Hannas Mappe und erzählt währenddessen seinen Assistenten von Hannas Arbeit in der Embryonenforschung und ihren gemeinsamen Studienjahren an der Universitätsklinik. Er schmeichelte Hanna dabei ein wenig.
»Ich weiß, wer ich bin«, unterbrach ihn Hanna. »Ich kenne meine Geschichte.«
Brandner nestelte an seinem Krawattenknoten. »Schon gut«, sagte er.
Als Ärztin hasste es Hanna, schlechte Nachrichten zu überbringen. Auch deswegen war sie nach dem Studium in die Forschung gegangen. Forschung bedeutete für sie, den Kontakt zu den Patienten auf elegante Weise zu reduzieren. Es gab nur sie und die konzentrierte Sterilität des Labors. Es gab keine schlechten Nachrichten. Es gab nur in Paraffin fixierte Versuchsanordnungen, die keine Schmerzen empfanden.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Brandner. »Noch nie hat so ein Junge in Wien eine Geburt überlebt.«
»Was ist mit meinem Kind?«, schrie Hanna. »Ich will es sehen.«
Brandners Assistenten senkten die Blicke.
»Der Junge liegt auf der Intensivstation«, sagte Brandner. »Die Psychologen meinten, wir sollen noch warten, bis wir ihn dir zeigen. Du weißt ja, wie das ist.«
»Vergiss die Psychologen. Bring mich sofort zu dem Jungen.« Hanna rutschte aus dem Bett. Als ihre Fußsohlen den Boden berührten, musste sie sich am Nachtkästchen festhalten. »Wenn ich mit dir fertig bin, kannst du dir einen Job als Pharmareferent suchen.«
»Wie du meinst.« Brandner schickte die Assistenten ins Schwesternzimmer. »Komm mit«, sagte er, und befestigte Hannas Infusionsbeutel auf einem Ständer.
Mit dem Lift fuhren die beiden ins Erdgeschoss zur Intensivstation für Neugeborene. Brandner öffnete mit einer Karte eine Schiebetür und bat Hanna, ihm zu folgen. Die Intensivstation war ein schmaler Raum mit einer langen Reihe von Brutkästen. Auf einem Mauervorsprung standen dreißig Fläschchenwärmer mit vollen Milchflaschen. Ein EKG-Gerät piepste leise. Hannas Hände zitterten. Sie hatte sich alles so anders vorgestellt. Was passierte hier?
Ganz hinten lag ein Neugeborenes in einem Gitterbett mit einem leeren Namensschild. Am Kopfende stand ein Herzfrequenz-Überwachungsgerät. Von der Decke hing eine höhenverstellbare Halogenlampe, die wohl dazu diente, die Körpertemperatur des Säuglings zu regulieren.
»Dein Sohn«, sagte Brandner.
So lange hatte Hanna auf diesen Augenblick gewartet, nun wagte sie es nicht, näherzutreten. Eine blassrosa Bettdecke. Vier Schläuche, die seitlich aus dem Bett hingen, und eine Infusion für die künstliche Ernährung. Am Namensschild war nichts als eine grau gepunktete Linie. ›Lisa‹ sollte dort stehen.
Monatelang hatte sie mit Manuel über den Namen nachgedacht. Er hatte ausgefallene Namen vorgeschlagen. Naima. Keisha. Tessa. Hanna lehnte solche Namen nicht rundheraus ab. Manche fand sie schön. Aber die Namen sprachen nicht zu ihr. Sie drängten sich nicht auf.
Bei ›Lisa‹ war das anders. Der Name war einfach, aber er erzeugte Bilder eines Alltags, der Hanna an ihre eigene Kindheit erinnerte. Butterbrote, Buntstifte, Hausübungsgutscheine. Geburtstagspartys, Faschingskostüme, Wasserfarbenspritzer. Hannas Vergangenheit und Lisas Zukunft.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Brandner.
Hanna trat an das Gitterbett heran. Der Kopf des Jungen war mit weißem Mullverband verbunden und der Körper war in eine weiße Decke gepackt. Nur das Gesicht lag offen da. Die Haut war rot und an den Wangen von dicken, violetten Adern durchzogen. Die Oberlippe war bis zur Nase gespalten. Die Augen waren geschlossen. Hanna sah, dass sie sich nie öffnen würden. »Er wird sterben«, sagte sie und setzte sich auf einen Hocker neben dem Gitterbett.
Brandner nickte.
»Welche Chromosomenstörung ist es? 13 oder 18?«
»Das klären wir gerade.«
Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Kleine keinen Ton von sich gab. Inmitten des Geschreis der Frühgeborenen war ihr Sohn vollkommen still. Er wirkte, als sei er noch gar nicht auf der Welt angekommen. Die anderen Kinder kreischten, bis sie rot anliefen und beinahe an ihrer Angst oder ihrem Schmerz erstickten. Ihr Sohn lag einfach da. Blind. Kraftlos. Mit einem Turban aus tausendundeiner Nacht.
Brandners Pieper ertönte. »Wir reden am Abend«, sagte er. Ehe er ging, drehte er sich noch einmal um. »Der Kleine wird viel Fürsorge brauchen.«
Hanna sah auf. »Fürsorge? Er braucht Infusionen. Er braucht künstliche Ernährung. Er braucht ein Beatmungsgerät. Das nennst du Fürsorge?«
Hanna blieb noch eine Stunde bei ihrem Sohn. Seine Hand war feucht und weich wie Plastilin. Sie blickte abwechselnd vom Gesicht des Kleinen zum Monitor, der seinen Pulsschlag aufzeichnete. Er braucht einen Namen, dachte sie. Ihr fiel ein mittelalterlicher König ein, der für seine geringe Körpergröße in ganz Europa bekannt war. Pippin, sagte sie zu sich selbst. Einen passenderen Namen konnte sie sich nicht vorstellen.
Zu Mittag bat sie Marija, sich bei der kleinsten Veränderung von Pippins Gesundheitszustand bei ihr zu melden. Egal, was von nun an mit dem Jungen geschah, Hanna wollte dabei sein. Das Schlimmste von allem war die Warterei auf der Station gewesen.
Während sie zum Lift ging, fragte sie sich, ob sie Manuel anrufen sollte. Was sollte sie ihm sagen? Wie würde er reagieren? Hanna vermutete, dass er sehr liebevoll sein würde. Er würde sie trösten. Die Vorstellung, dass sie getröstet werden musste, verursachte ein unangenehmes Gefühl in ihrer Magengegend.
In der Station verteilten die Pfleger die Tabletts mit dem Mittagessen. Hanna setzte sich mit einem vegetarischen Menü auf den Balkon. Die Sonne stand hoch am Himmel. Die Tannen im Park warfen kaum Schatten. Hanna kostete ihre Ravioli mit Gorgonzolasauce und verzog das Gesicht. Die Nudeln waren weich und schmeckten nach gekochten Styroporplatten. Nach einem zweiten Bissen legte Hanna das Besteck weg und betrachtete die Tannen. Alles war ihr gleichgültig. Die Schmerzen. Der Durst. Die Sonne. Manuel. Nichts hatte Bedeutung. Die Bilder, die Gedanken, die Wünsche, die Hoffnungen, die Hanna in den vergangenen Tagen und Wochen begleitet hatten, waren weg. Sie fühlte sich leer. Sie empfand nicht einmal Schmerz über Pippins Zustand oder Zuneigung zu ihm, es war eher eine Art ungläubige Verwunderung.
Das ist mein Kind?
Das wird meine Zukunft sein?
Hanna wunderte sich. Über die Tannen, die Sonne, die Autos am Parkplatz. Sie wunderte sich, dass die Welt mit der gleichen unerbittlichen Folgerichtigkeit ihrer Zukunft entgegenstrebte. Ein wahnsinniger, irrer Flug ohne Zwischenstopp, ohne Ziel, mit Passagieren, die starr nach vorne blicken.
Nachdem der Pfleger das Tablett mit ihrem kaum angerührten Mittagessen abgeholt hatte, kontrollierte sie ihre E-Mails. Sie hatte eine Nachricht von Manuels Eltern und eine von Sylvia Bergmann erhalten. Manuels Eltern wussten nichts von der verfrühten Geburt. Sie erkundigten sich nach ihrem Befinden. Bei Sylvia lagen die Dinge komplizierter. Während Hanna am Vortag auf die Rettung gewartet hatte, hatte sie per SMS einen Vortrag und einen Besprechungstermin im AKH abgesagt. Sylvia wusste also von der Geburt. Ihre Mail klang entsprechend aufgeregt. Glückwünsche, Emojis, ein Foto von der Labormannschaft.
Hanna strich sich eine Strähne aus der Stirn. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war ein Besuch ihrer Arbeitskollegen. Sie hatte keine Ahnung, was sie in die Mail an Sylvia schreiben sollte. Am liebsten wäre ihr: Lass mich. Aber das würde Sylvia nur neugierig machen.
»Geht’s Ihnen gut?«
Hanna fuhr herum.
Marija. Sie hatte die Ärmel ihres blassblauen Schwesternkleides hochgekrempelt. Das Tattoo an ihrem Handgelenk zeigte eine blaue Rose. »Ich habe etwas für Sie«, sagte sie mit weicher Stimme und gab ihr einen Folder des Kriseninterventionszentrums für Eltern von behinderten Kindern.
Hanna blätterte darin. Sie empfand die darin zelebrierte Kopf-hoch-Haltung als entwürdigend.
»Im dritten Stock finden Sie Frau Dr. Bayer«, sagte Marija. »Sie ist Psychologin. Die Dienstzeiten stehen auf der Rückseite. Reden Sie mit ihr. Es wird Ihnen guttun.«
Psychologie? Hanna hatte eine Abneigung gegen dieses Fach. Es war eine halbe Geisteswissenschaft, ein Hort von schiefen Wahrheiten und kruden Thesen. Schon an der Uni hatte Hanna die Psychologiestudenten belächelt. Meist waren es junge Frauen gewesen, halbe Mädchen, die schon einen ausgeprägten Mutterinstinkt zu haben schienen und bei jedem noch so großen Unsinn, den jemand von sich gab, verständnisvoll nickten.
Hanna brauchte kein Verständnis. Sie hatte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Sie hatte Pech gehabt. Das war alles.
Nachdem Marija mit einem fürsorglichen Lächeln im Gesicht wieder abgezogen war, überlegte Hanna, was sie Sylvia schreiben sollte. Dabei betrachtete sie den Folder. Die erste Seite zeigte ein Kind mit Trisomie 21. Hanna betrachtete das runde Gesicht mit den schmalen Lippen und den charakteristisch geschwungenen Augen. Pippin würde wohl nie so gesund aussehen. Wenn er tatsächlich Trisomie 13 oder 18 hatte, würde er nicht älter als ein oder zwei Jahre werden.
Hanna starrte auf ihr Handy. Draußen am Gang hörte sie Kindergeschrei. Eine Frau mit Blumen trat aus dem Lift. Ein Pfleger brachte ihr frischen Früchtetee. »Alles ist gut«, schrieb sie. »Alles ist so, wie es sein soll. LG, H.«3