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2 Essen, spielen, reisen Die drei Pfeiler des neuen Menschen
ОглавлениеEr wird genährt.
Sein Gehirn wächst.
Er spielt sich mit Elektronik.
Sein Gehirn wird schnell.
Er reist.
Sein Gehirn produziert mehr Neuronen.
Von Place Cells und anderen Sensationen.
An dem Thema Ernährung haben wir uns gerade satt gegessen. Neolithische Revolution, Kohlenhydrate, Insulinresistenz. Wenn der Mensch gut zu essen hat, entwickelt er sich weiter. Die Ernährung thront an oberster Stelle der Veränderungen, die die Verwandlung des Menschen begünstigen, die derzeit im Gange ist.
An zweiter Stelle dieses Rankings der Eckpfeiler, auf denen der neue Mensch beruht, steht: die Elektronik. Ja, genau. Die Spielereien, mit denen sich heute schon die Dreijährigen beschäftigen.
In diesem Augenblick höre ich sie nahezu, die Seufzer der Enttäuschung: Jessas, jetzt kommt er uns damit daher. Ich sehe es förmlich vor mir, wie der eine oder andere Leser die Augen verdreht und denkt: Was tischt er uns denn da auf? Ganz was Neues, die Elektronik, Teufelszeug des Computerzeitalters, verdirbt die Seele unserer Töchter und Söhne, entwöhnt sie von der Natur, verkleinert die Kindheit auf Bildschirmformat. Es gibt keine Vorteile, wo nicht auch Nachteile sind.
Es ist aber gar nicht diese Diskussion, auf die ich mich hier einlassen will. Egal, wie wir die Elektronik, mit der wir heute von klein auf leben, beurteilen. Ob wir sie für gefährlich, bedenklich, entbehrlich und verderblich halten, oder ob wir sie begrüßen und ihr verfallen sind, uns von ihr überfordert fühlen und sie zu verweigern versuchen. Sie ist da, und sie hat einen Einfluss auf unser Gehirn.
Elektronik ist schnell, sie fordert schnelle Reaktionen. Unser Leben hat sich in den vergangenen Jahrzehnten um das 39-Fache beschleunigt. Von der Geduld, die die Menschen früher von dem Moment an brauchten, da sie einen Brief geschrieben, zusammengefaltet, in ein Kuvert gesteckt, eine Marke draufgepickt und ihn auf die Post gebracht haben, bis zu dem Moment, da das Antwortschreiben im Postkasten eingetrudelt ist, sie das Kuvert aufgeschlitzt haben, den Brief auseinandergefaltet und gelesen haben, von dieser Geduld ist nichts mehr übrig. Heute reißt uns der Geduldsfaden, wenn eine SMS nicht innerhalb einer Minute beantwortet wird. Eine E-Mail, die erst nach einer Stunde mit der erwarteten Information in die Mailbox flattert, hält man für eine Unhöflichkeit. Kommt sie am nächsten Tag, ist das eine Zumutung, eine Woche später eine Frechheit. Das Leben ist schnell geworden.
Schuld ist die Elektronik, da kann man sagen, was man will. Erdacht mithilfe der menschlichen Neurone hat sie umgekehrt wiederum die Geschwindigkeit der Neuronenarbeit amplifiziert und verstärkt. Irgendwie paradox. Das menschliche Gehirn entwickelt Dinge, für die man ein besseres und schnelleres menschliches Gehirn braucht, um damit umgehen zu können. Der Mensch hetzt sich selber. Tempo ist der Treibstoff der Neuzeit. Gut? Schlecht? Na ja, lassen wir das. Es geht nicht um Wertung, sondern um Erwartung.
Die elektronischen Medien haben die Evolution in unserem Gehirn vorangetrieben. So kritisch also jeder eingestellt sein kann gegen diese Medien, eines ist sicher: Die Elektronik stimuliert die Schnelligkeit der Assoziation und des Gedankens.
Wir gewöhnen uns schleichend an die Geschwindigkeit. Die einen schneller, die anderen langsamer. Den einen fällt es leichter, anderen schwerer. Das zeigt sich an jedem Formular, das wir ausfüllen sollen. Früher hat man das mit der Hand gemacht und bei jeder Rubrik nachdenken können: Was schreibe ich da hin? Was ist damit gemeint? Was wollen die von mir? Formulare auszufüllen, war ja nie eine Lieblingsbeschäftigung des Menschen.
Jetzt sind die Antworten vorgegeben. Jetzt hüpfen wir mit drei oder vier Klicks zu irgendwelchen Auswahlfenstern, um neue Auswahlfenster zu öffnen, nach denen wieder andere Auswahlfenster geöffnet werden müssen. Dadurch wird die Denkgeschwindigkeit angeregt und gefordert. Wer der Reaktionsgeschwindigkeit im Hirn Dampf machen will, spielt Egoshooter oder füllt Formulare aus.
Die elektronischen Medien sind nichts anderes als Übungsfelder für den neuen, heranwachsenden, mit einem besseren Gehirn ausgestatteten Menschen. Indem er sich auf diesen Übungsfeldern tummelt, feuert er die Neurone an, die daraufhin viel schneller, viel besser arbeiten. Das ist wie beim Fußballspielen. Mehr Training, mehr Tore, höhere Liga.
Die permanente Übung des Geistes mit schnellreaktiven Maschinen. Das haben sie gern, die Neurone. Es ist durchaus möglich, dass die Kinder, die jetzt mit all der Elektronik aufwachsen, mit dreißig oder vierzig eine völlig andere Assoziationsfähigkeit mitbringen als die heutigen 30- und 40-Jähringen. Es ist ein weiteres Indiz dafür, dass der neue Mensch mit höherer Intelligenz ausgestattet sein wird.
Wir können derzeit nur Thesen aufstellen. Wir können nur Anzeichen aufzeigen. Wir können nur einen Indizienbeweis führen, wie ein Verteidiger gegen den Staatsanwalt, und die Causa heißt: Der neue Mensch versus die Skeptiker.
Das schlagendste Argument der Skeptiker ist bekannt und kaum zu entkräften. Das Gehirn mag schneller werden, was dabei aber auf der Strecke bleibt, ist das Nachdenken. Das bleibende Wissen. Die Allgemeinbildung. Das Herstellen von Zusammenhängen. Heute brauchen wir uns nichts mehr zu merken, heute brauchen wir nur zu wissen, wo wir nachschauen können. Heute brauchen wir nur zu googeln.
Das Tempo, mit dem unsere Kinder assoziieren, ist rasant. Die Fähigkeit, das Schnelle in Bleibendes zu verwandeln, ist dagegen geradezu dürftig. Ein Nachteil, keine Frage. Allerdings ist dieser Gegensatz auch wieder irrelevant. Er mischt Äpfel, die schneller wachsen als früher, mit Birnen, die weniger Fruchtfleisch haben als vorher.
Wenn wir davon ausgehen, dass ein Neuron in seiner Arbeit trainiert werden kann und dass das Training über die Epigenetik in die nächste Generation weitergegeben werden kann, worauf wir in einem späteren Kapitel noch genau eingehen werden, dann muss man sagen: Die Reaktionsgeschwindigkeit und die Arbeitsleistung einer Nervenzelle wird dadurch natürlich verbessert. Ob sie sich dann positiv oder negativ auf das gesamte Weltbild auswirkt, ist eine andere Frage.
Wir haben es hier mit zwei Faktoren einer somatischen, also einer körperlichen Veränderung zu tun. Durch die Insulinresistenz haben wir einen größeren Muskel, und wir haben gleichzeitig ein Training, das den größeren Muskel noch mehr auf Vordermann bringt. Ob man mit den Muskeln dann wirklich denkstärker, gescheiter wird, ist eine Wahrscheinlichkeit, eine Vermutung, aber mit Sicherheit eine Hoffnung.
Der dritte Pfeiler, der die Transformation zum neuen Menschen trägt, ist das Reisen. Genauer gesagt: die enormen Möglichkeiten, innerhalb eines Tages um die halbe Welt zu fliegen und damit neue sogenannte Place Cells und Time Cells zu produzieren.
Die Natur spiegelt sich im Gehirn. Die Umwelt hinterlässt dort ihren Abdruck. Das heißt, die Umgebung setzt neue Marker im Kopf. Von jedem Ort, an dem ein Mensch ist, macht der Körper sozusagen ein Bild. Ein Foto in Form eines Neurons.
Erstes Mal in Lignano, neues Neuron. Erstes Mal am Meer, neues Neuron. Erstes Mal im Riesenrad, neues Neuron. Erstes Mal in Linz, neues Neuron. Erstes Mal in New York, neues Neuron, neues Neuron, neues Neuron. Manche Leute haben Landkarten daheim hängen und stecken Nadeln an die Orte, an denen sie schon waren. Genau dieselbe Landkarte tragen wir in uns und ständig mit uns herum.
Wenn man möchte, kann man sich das Gehirn als ein unfassbar großes Fotoalbum vorstellen, und dieses Neuronen-Album hat einen unschätzbaren Wert, nicht bloß einen ideellen, wie jedes andere persönliche Fotoalbum. Es hat einen Wert für die menschliche Entwicklung, und sich dafür sogar einen Nobelpreis verdient. Der Nobelpreis 2014 ging an die Entdecker der sogenannten Place Cells.
Eine Hälfte der Auszeichnung hat sich der amerikanische Neurowissenschaftler John O‹Keefe schon seit 1971 erarbeitet. Damals hat er einen ersten Teil des inneren Navigationssystems von Mensch und Tier beschrieben, die sogenannten Platz-Zellen.
Die zweite Hälfte der weltweit höchsten wissenschaftlichen Anerkennung des Jahres 2014 bekam das norwegische Hirnforscherpaar May-Britt und Edvard Moser, das in Trondheim arbeitet. Bei Versuchen mit Ratten entdeckten sie 2005 die sogenannten Koordinaten-Zellen, die eine Art Positionierungssystem im Gehirn bilden und die räumliche Orientierung und das Finden eines Weges erleichtern.
Place Cells sind also so etwas wie ein von der Natur eingebautes Navi im Gehirn.
Den richtigen Weg zu finden, ist eine feine Sache. Bei den Place Cells geht es aber um viel mehr. Um viel, viel mehr. Durch sie ist überhaupt erst ein menschliches Bewusstsein entstanden. Ohne die Place Cells hätten wir gar kein Gehirn.
Um es einmal im Schnelldurchlauf zu erklären:
Pflanzen haben Nervenzellen und können damit auf die Umwelt reagieren, aber sie haben kein Gehirn. Ein Gehirn bildet sich erst mit gezielter Standortveränderung. In dem Moment also, wo Lebewesen in einer Art Zwischenstadium zum Tier anfangen, sich vom Fleck zu bewegen, bekommen sie nicht nur Nerven, sondern auch Nervenbündel, die aggregieren, woraus schließlich ein Gehirn wird.
Das heißt: Das Gehirn ist durch die Ortsveränderung entstanden, weil für jeden Ort ein neues Neuron angelegt wird.
Das Lebewesen, an dem man die Place Cells entdeckt hat, ist die Seescheide. Ein Mittelding aus Pflanze und Tier. Genau das macht sie so interessant. Noch dazu entwickeln sich die Seescheiden in unseren Augen eigentlich zurück. Sie mausern sich nicht von der Pflanze zum Tier. Im Gegenteil: In ihrem embryonalen Stadium sind sie Tiere, als Erwachsene werden sie dann zu Pflanzen.
Die Biographie so einer Seescheide ist rasch erzählt. Als Embryonen schwimmen sie herum und wachsen sich aus. Durch das Herumschwirren bilden sich in ihrem winzigen Nervensystem Place Cells, und die vermehren sich. Je mehr die Junior-Seescheiden herumschwimmen, desto mehr Place Cells produzieren sie, und das geht munter so weiter, bis sie fertige Seescheiden sind. Bald darauf stehen sie am Wendepunkt ihres Lebens. Denn irgendwann steht ihnen beim Herumschwimmen plötzlich irgendwas im Weg. Das kann ein Holz sein oder ein Wrackteil, was halt so im Meer herumliegt. Daran bleiben sie hängen und bewegen sich fortan nie wieder. Ohne Ortswechsel bilden sich die Place Cells zurück, bis nur noch einfache Nervenstrukturen davon übrigbleiben, wie die Pflanzen sie haben. Sie sind Pflanzen.
Gesehen haben die Mosers das im Hippocampus, einem der evolutionär ältesten kortikalen Strukturen des Gehirns. Er befindet sich im Temporallappen und ist eine zentrale Schaltstation des limbischen Systems, nur für den Fall, dass es jemand ganz genau wissen will. Für einen Wissenschaftler gibt es dazu wunderschöne Versuche, die den Vorgang dokumentieren, aber damit will ich den interessierten Laien nicht belästigen.
Wichtig ist, was aus diesen Beobachtungen geschlossen werden konnte. Ganz offensichtlich ist es wirklich die Bewegung, die die Gehirnaktivität anregt und neue Neurone schafft. Das Ganze hat man danach im Mausversuch weiterverfolgt, was letzten Endes den Nobelpreis eingebracht hat. Die beiden Trondheimer Mediziner haben ihre Mäuse über verschiedene Strecken laufen lassen und mit Sonden im Hippocampus überprüfen können, ob tatsächlich eine Neurogenese stattfindet. Und prompt: Immer, wenn die Maus den Ort gewechselt hat, hat sie ein neues Neuron produziert.
Weil die Maus sich nur am Boden, also zweidimensional fortbewegt, folgten weitere Versuche mit Fledermäusen. Sie zeigten, dass das innere Navi auch dreidimensional funktioniert. Jede Höhe bekommt zusätzlich ein Neuron, das dem Tier sagt, wie hoch über dem Boden es sich befindet.
Genau dasselbe Phänomen ereignet sich im menschlichen Gehirn. Ob wir gehen, fahren, fliegen: Wir bilden die Umwelt in unserem Körper ab und legen für jeden Eindruck, den wir bekommen, eine eigene Nervenzelle an. Damit entsteht eine Art Koordinatensystem, das es uns überhaupt erst möglich macht, Entfernungen wahrzunehmen.
Wenn wir von Ort zu Ort gehen, legen wir eine Distanz zurück. Ohne die dazugehörigen Neurone würden wir sie nicht erkennen. Erst wenn zwei unterschiedliche Neurone an zwei Orten aktiv sind und sich die beiden vergleichen, merken sie: Da liegt ein Stück Weg dazwischen.
So wie in jedem Navi schon einmal angefahrene Ziele gespeichert sind, wissen auch unsere Place Cells, ob wir schon einmal an einem Ort waren oder nicht. Gibt es kein Neuron, kein Foto dazu, ist es Neuland. Ist der Platz bekannt, wird das entsprechende Neuron aktiviert. Springt eine Place Cell im Hirn auf und ruft Hier kenn ich mich aus!, dann waren wir schon einmal da. Wie erstaunlich einfach, wie unfassbar genial.
Für mich ist das ein sehr schönes mechanistisches Konstrukt und nicht nur neurologisch interessant. Die Place Cells haben auch etwas Magisches.
Springen wir in der Zeit ein bisschen zurück. 11.600 Jahre, um genauer zu sein. In die neolithische Revolution, die wir ja schon kennen. Die frühesten Spuren hat sie in der Türkei hinterlassen. Göbekli Tepe heißt der Ort dieser Funde, er liegt auf der Bergkette von Germus. Auch wenn einem das im ersten Moment vielleicht nichts sagt, ist die Gegend doch weltberühmt. Hier hat die Mythologie die Landung der Arche Noah angesiedelt. Hier befindet sich der Berg Ararat.
Dort hat Noah die Arche geöffnet und mit der neuen Tier- und Pflanzenwelt, die er an Bord hatte, nach der Sintflut alles neu begonnen. Seltsamer Zufall. Die neolithische Revolution trifft sich mit Noahs Entourage für den Neuanfang. Eine Art Magie. Lassen wir es einmal so stehen.
Magische Plätze haben etwas Göttliches. Sie entstehen oft dort, wo der Mensch seine Götter hat. Die Götter hatten ihren Ort und bei diesem Ort wollte man bleiben. Ein interessanter Aspekt in der Geistesgeschichte und ein springender Punkt in der Evolution. Plätze, an denen die Menschen ihren Göttern Heiligtümern errichtet haben, wollten sie ungern wieder verlassen.
Vor der neolithischen Revolution hatten sie dazu allerdings keine Chance. Sie waren in Bewegung. Sie mussten in Bewegung sein, um zu überleben. Nahrung gab es vor der Explosion des Grases nicht vor der Haustür. Der Mensch ist vagabundiert, sein Reiseguide war der Überlebenswille. Er musste sich durch die Steppe fressen oder verhungern. Das Aufkommen des Getreides hat alles geändert. Auf einmal konnten die Leute verschnaufen und an einem Ort bleiben. Die neue Art der Ernährung hat aus Nomaden Bauern und Viehzüchter gemacht.
Es gibt gute historische Hinweise, dass diese Sesshaftigkeit ideologisch unterstützt wurde. Die Götter zogen die Menschen an und gaben ihnen Kraft, sie wirkten wie ein Magnet, auch darauf werden wir später noch zurückkommen. Die Menschen lebten rund um ihre Heiligtümer, in der Nähe der Stätten, die sie den Göttern, die sie anbeteten, errichtet hatten.
Für die Place Cells hieß das eine kleine Produktionsdrosselung. Man bewegte sich nicht mehr quer durch die Landschaft, man blieb aber auch nicht an einem Wrack hängen wie die Seescheide. Die Kreise, die man zog, wurden nur kleiner.
Die Götter und ihre unverrückbaren Heiligtümer waren einer der Hauptgründe, warum die ganz großen antiken Kulturen kaum Weltreisen unternommen haben. Die Ägypter zum Beispiel haben sich, obwohl sie tolle Schiffe hatten, nicht sonderlich herumgetrieben. Sie sind in ihrem Nildelta geblieben und nur aufgebrochen, wenn ein Feldzug anstand. Die Reise war entsprechend schweißtreibend, denn die Götter wollte man auf keinen Fall daheim lassen. Sie mussten mit. Ein ägyptisches Heer marschierte nie ohne den Schutz seiner Götter in den Krieg.
Genauso war es bei den Assyrern und, zunächst, bei den Persern. Wenn sie loszogen, dann nur in Begleitung ihrer Götter. Als die Babylonier vertrieben wurden, das kommt sogar im Alten Testament vor, haben sie ihr Hab und Gut und ihre Gottheiten auf die Flucht mitgenommen. Nur ein einziges Volk hat da ausgegrast, das waren die Semiten; und später natürlich die Griechen.
Die Griechen haben sich, rein geografisch gesehen, von ihren Göttern emanzipiert und sich damit von einem Haufen Reisegepäck befreit. Sie haben sie daheim auf dem Olymp gelassen und beschlossen: Wo immer wir ankommen, bauen wir ihnen einen neuen Tempel, dann haben wir sie wieder bei uns. Das war der Beginn der großen Zivilisation der Hellenen im vierten vorchristlichen Jahrhundert. Im alten Griechenland hat so ein gewaltiger Bewusstseinssprung stattgefunden.
Als große Seefahrer sind die Griechen so ziemlich im ganzen Mittelmeergebiet gewesen und haben ganz Europa beherrscht. Überall, wo sie waren, findet man einen Tempel, das war das Erste, was sie gebaut haben. Wie die Phönizier. Wie die Römer. Dieselbe Einstellung: Wo wir hingehen, sollen die Götter bei uns wohnen können.
Wer heute diesen Spuren nachgeht, bringt von so einer Reise ein Place-Cell-Album mit, auf dem nichts als Tempel zu sehen sind.
Die Neurologie zeigt uns, dass wir ständig geprägt werden. All das, was wir uns vorstellen, ist nichts anderes, als eine Prägung des Gehirns von außen. Jeder Ort und jeder Zeitpunkt hinterlässt seine Abdrücke genauso wie jeder Mensch, den wir treffen, jedes Ereignis, das wir erleben, jede Erfahrung, die wir machen, und die Liste ist noch lange nicht zu Ende. Vom kleinsten Eindruck bis zum Großen und Ganzen sind wir von den Prägungen in unserem Gehirn abhängig.
Von Zeit bis Schwerkraft registrieren und erkennen wir alles deswegen an, weil die Kausalität in der Welt, wo wir sind, unser Gehirn geprägt hat. Wenn jeder Ort in unserem Gehirn ein Neuron hat, heißt das andersherum gesehen ja auch nur, dass der Raum nur deswegen in unserem Gehirn verankert ist, weil er ein Neuron gebildet hat.
Wir schaffen uns die Wirklichkeit nicht, wir sind ein Teil von ihr. Das entspricht auch der Quantenphysik, die sagt: Die Realität wird erst Realität, wenn sie jemand beobachtet, vorher existiert sie anders. Also der Beobachter und das zu Beobachtende sind eine Einheit.
Die Heisenbergsche Unschärferelation besagt sinngemäß, dass sich ein Versuch ändern kann, und zwar nur durch den Umstand, weil jemand auf den Versuch draufschaut.
Unvermittelt sind wir also von der Existenz unserer Place Cells zur Existenz von uns selbst vorgedrungen.
Zur großen Frage: Wieso wissen wir, dass wir sind?
Die Antwort ist möglicherweise einfach. Weil die Place Cells dem Gehirn über ein Neuron signalisiert haben: Da ist etwas Anderes gegenüber. Dieses Andere wurde gespeichert und hat irgendwann dazu geführt, dass man draufgekommen ist: Hoppla, wenn da draußen etwas ist, dann bin ich ja auch.
Irgendwie erinnert das an René Descartes’ Cogito ergo sum. Ich denke, also bin ich. Diesen ersten Grundsatz hat der Philosoph nach radikalen Zweifeln an der eigenen Erkenntnisfähigkeit als fundamentum inconcussum, also als nicht weiter kritisierbares unerschütterliches Fundament 1641 in seinem Werk Meditationes de prima philosophia formuliert und methodisch begründet.
Dieses Irgendwann ist mit dem Erreichen einer gewissen Neuronen-Zahl gekoppelt. Als das menschliche Gehirn hundert Milliarden Neurone beisammen hatte, war wahrscheinlich der entscheidende Evolutionssprung erreicht. Die Zahl hat der Physiker Walter Thirring für die Physik errechnet, ein Österreicher, der bei drei Nobelpreisträgern studierte. In Dublin war er Schüler bei unserem Erwin Schrödinger, berühmt durch seine Gleichung und die Katze, in Göttingen war er Schüler bei Werner Heisenberg, berühmt durch seine Unschärfe, und in Princeton war er der letzte Schüler Albert Einsteins. Thirrings Hundert-Milliarden-Zahl beruht darauf, dass wir rund hundert Milliarden Galaxien im Kosmos haben. Jede Galaxie hat rund hundert Milliarden Sterne, und der Schritt zum Selbstbewusstsein und zum Wissen, dass man selbst existiert, ist erreicht worden, als unsere Neurone die Hundert-Milliarden-Grenze überschritten haben.
Das Selbstbewusstsein, das Wissen, dass man selbst lebt, ist durch diese Place Cells möglich geworden. Das heißt: Die Anzahl der Neurone gibt sehr wohl Auskunft über die Fähigkeit des Menschen. Wir können nur das erkennen, was vorher unseren Geist imprägniert hat.
Oder, wenn man es unromantisch ausdrücken will: Je mehr Neurone, desto besser.
Was die Place Cells für den Ort sind, gibt es übrigens auch für die Zeit, die sogenannten Time Cells. Wir haben in unserem Gehirn einen Geonav, der uns sagt, wo wir sind oder waren, und einen Chronometer, der uns sagt, zu welchem Zeitpunkt wir an welchem Ort sind oder waren. Der Sonnenstand gibt uns die Information. Wir bilden die Umwelt schon sehr genau in uns ab.
Damit wäre es ohne weiteres denkbar, dass wir nicht nur jetzt die Dreidimensionalität eines Ortes erkennen, sondern unterbewusst auch Strahlungen, die von dort ausgehen, oder Spannungsgefälle, die von Ort zu Ort unterschiedlich sind. Auf diesem Mechanismus beruht dann möglicherweise auch die Magie, die wir gewissen Orten zuschreiben.
Die Heimat zum Beispiel, der Ort, an dem jeder von uns geboren und aufgewachsen ist, seine Kindheit verbracht und die ersten Prägungen erlebt hat, hat im Gehirn die ersten Place Cells erzeugt. Im Gegensatz dazu leiden Menschen, die im wahrsten Sinn des Wortes entwurzelt werden. So ein Herausreißen aus dem Ort der Herkunft kann bis zu schweren Erkrankungen führen. Es kann sein, dass man sich nie wieder wo daheim fühlt. Es kann aber auch sein, dass man sich mithilfe der Place Cells in einer neuen Heimat etablieren kann.
Der eine wie der andere Ort kann eine magische Kraft ausstrahlen, die von unserem Körper bis zu einem gewissen Grad registriert wird. Große Wallfahrtsorte wie Stonehenge oder die Kathedrale von Chartres sollen an besonderen, strahlenden Punkten der Erde errichtet worden sein. Es ist ohne weiteres möglich, dass wir die Qualität eines solchen Ortes über das Unterbewusstsein in uns speichern können.
Die Verbundenheit mit den Orten, an denen wir leben, gibt dem Menschen eigentlich den klaren Auftrag, mit seiner Umwelt extrem vorsichtig umzugehen. Die Umwelt ist nicht nur deswegen so wichtig, weil wir alle kaputt gehen, wenn die Umwelt kaputt geht, sondern weil wir einen Spiegel dieser Umwelt in uns tragen.
Zerstören wir die Natur, zerstören wir auch dieses System der geordneten Place Cells, die uns von Natur aus begleiten. Wenn wir nur noch in einer Betonwüste leben, leben wir in einer uns völlig fremden Umgebung. Einmal ganz abgesehen von irgendeiner Ästhetik. Wir werden allein deshalb nicht gern dort leben, weil diese karge, fremde, graue Betonwelt nicht unserem Place-Cell-Muster entspricht. Wenn jemand am Land aufwächst und dann irgendwo arbeiten muss, wo es keinen einzigen Baum mehr gibt, bringt das das innere Abbild der Natur, die er kennt, desaströs durcheinander.