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NEUNZIG JAHRE LEICHTIGKEIT DAS SCHÖNE GESICHT DES VERZICHTS

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In ihrem Blick lag etwas Hungriges. »Wellness?«, fragte sie. »Was ist das, Herr Doktor?«

Edwin Albrich legte seine goldene Füllfeder beiseite. »Ein neues Konzept, müssen Sie wissen. Ich habe es in Amerika studiert. Wellness ist eine Gesundheitslehre.«

»Ach.« Annelie Leichtfried hob die Augenbrauen.

Doktor Albrich nickte, während ein Bündel Sonnenstrahlen durchs Fenster auf den Obstkorb fiel, der auf seinem Mahagonitisch stand. Ein Korb voll rotgelber Äpfel mit ein paar Orangen aus Jaffa. »Ja. Wellness beinhaltet Heilgymnastik. Saunagänge. Wasser-, Bäder- und Wärmekuren. Massagen, Ultraschall- und Elektrotherapien, dazu Wanderungen. Auch Holzhacken. Kann ich Ihnen nur raten.«

»Holzhacken hilft gegen meine Gelbsucht?«, fragte Annelie, sie litt daran seit der Geburt ihres ersten Sohnes.

»Aus einer gesamtgesundheitlichen Betrachtung, ja«, sagte der Arzt und faltete die Hände. »Ich würde es eher als naturnahe Heilkunst sehen. Wellness basiert auf einer gesunden Ernährung, kombiniert mit ausreichend Schlaf und viel Bewegung, am besten natürlich an der frischen Luft. Das alles gepaart mit neuesten Erkenntnissen aus der Schulmedizin.«

Edwin Albrich, Arzt aus dem Montafon, genoss in Medizinerkreisen höchstes Ansehen, war rund um den Globus bekannt und galt als Pionier mit Stethoskop. Damals, im Jahr 1950, stand sein Name für eine Art zu denken, die als ebenso revolutionär wie exotisch galt.

»Und was soll ich jetzt tun, Herr Doktor?« Annelie Leichtfried dachte, der Mann im weißen Kittel würde ihr ein Rezept schreiben, stattdessen bekam sie einen Rat.

»Wenn Sie wirklich etwas für sich und Ihr Leben machen wollen, dann essen Sie niemals Pommes frites und diesen ganzen ungesunden Fraß. Kein Grillfleisch, wenig Zucker. Nach Möglichkeit auch keine Wurst. Und schon gar nichts Gebackenes. Die Panade bringt Sie früher ins Grab, als Ihnen lieb ist. Dafür viel Gemüse und Obst. Wenn es geht, immer frisch kochen, und achten Sie auf die Qualität der Zutaten.«

Die Kuranstalt Montafon, Österreichs modernster Kurbetrieb in den Fünfzigerjahren, war auf Doktor Albrichs Betreiben in Schruns in Vorarlberg erbaut worden und zog Berühmtheiten aus aller Welt an. Adelige aus Europa, New Yorker Prominenz, Politiker aus dem Nahen Osten. Letztens war da wieder dieser Geschäftsmann aus Afrika angerauscht, immer nur im Rolls Royce unterwegs und im weißen Tropenanzug zu sehen. Ein Fleischberg mit Dreifachkinn. Doktor Albrich schickte ihn auf die Viehwaage der Gemeinde, weil es die gewöhnliche Personenwaage mit hundertzwanzig Kilogramm Limit längst nicht mehr schaffte. Die Klinik kriegte den Mann wieder hin. Dank intensiver Therapien und einer eisernen Diät stieg er am Ende wieder in seinen Rolls Royce und passte sogar in den Sitz.

Patienten reisten mit dem Zug an, kamen mit dem Chauffeur oder per Hubschrauber ins kleine Schruns in Vorarlberg, nur um Doktor Albrichs neue Wellness-Methoden am eigenen Leib zu erfahren und Anreize für ein gesünderes Leben mitzunehmen. Man fuhr auf Kur. Kam als Wrack und ging als Star.

Jahre später erschienen Herrschaften wie Herbert von Karajan, Helmut Kohl, Franz Josef Strauß und die Hörbiger-Dynastie in diesem Luxushotel, um den müden Körper mit dem gehetzten Geist in Einklang zu bringen. Wellness entwickelte sich vom Geheimtipp zum Massenphänomen.

Annelie Leichtfried ist heute neunzig Jahre alt.

Schlank, silbergraues, seidig glänzendes Haar, das locker auf ihre Schultern hinabfällt. Sie schaut fantastisch aus, hat kaum Falten. Man würde ihr achtundfünfzig, höchstens sechzig geben. Was für eine Erscheinung! Eine Dame.

Seit den Fünfzigerjahren beherzigt sie die Ratschläge des Arztes. Gerade in einer Zeit, als die Industrialisierung der Speisen aus den USA als neuer Lifestyle nach Europa schwappte. Pommes frites, Mikrowelle, heute nennt man das Junk-Food. Damals war das neu, spannend, amerikanisch. Schnell fertig und noch schneller verschlungen. Doktor Albrich aber sagte genau das Gegenteil. Lasst euch nicht beirren. Dieses Essen ist falsch. Es macht euch krank. Lebt Wellness, lasst ab vom triefenden Fett.

Neben der richtigen Ernährung war es vor allem Bewegung, die er Annelie Leichtfried aber nicht ausdrücklich verordnen musste. Schon als Kind war sie Tag um Tag mit dem Fahrrad nach Bregenz ins Gymnasium gefahren. Ihr ganzes Leben machte sie Sport, vor allem Radfahren. Voriges Jahr kaufte sie sich einen Kilometerzähler, weil sie wissen wollte, wie viel sie jetzt, mit neunzig, noch schafft. Ergebnis: mehr als tausend Kilometer im Jahr.

Und dann, Jahrzehnte nach dem Treffen mit Doktor Albrich, kam sie zu mir in meine Wiener Ordination, die nahe dem Schwarzenbergplatz beim Schloss Belvedere liegt. Sie nahm auf einem der bequemen alten Stühle gegenüber meinem Schreibtisch Platz und wir redeten eine Weile.

Es war die Zeit, in der in Annelie Leichtfrieds Leben die Menopause einsetzte. Mit fünfundvierzig durchaus früh. Üblich und statistischer Durchschnitt für den Beginn des Klimakteriums ist um die fünfzig. Und irgendwo dazwischen ist es auch bei ihr losgegangen. Also suchte sie meinen Rat als Gynäkologe.

Bisher hatten ihr Ärzte wie zigtausenden anderen Frauen Hormonpräparate verschrieben, die ihr in den Wechseljahren helfen sollen.

Eines Tages sagte ich zu ihr: »Die brauchen wir jetzt nicht mehr. Wir machen es anders. Viele Frauen leiden ab dem Wechsel stark unter Gewichtsproblemen. Weil das Testosteron steigt und sich das Körperfett anders verteilt. Weil die hormonelle Umstellung im Körper der Frau den Hang zum Bauchfett fördert. Weil sich die Muskelmasse zugleich verringert und auch Wassereinlagerungen für zusätzliche Kilos sorgen können. Und weil es zuerst zu einem Östrogen-Überschuss kommt, bevor die Produktion auf Dauer zurückgeht.«

»Sehr interessant«, sagte Annelie und wartete.

Ich fuhr fort. »Wenn Sie das vermeiden wollen und zugleich auch etwas Wertvolles für Ihre Gesundheit tun möchten, dann machen Sie Cancelling. Das ist jetzt ganz neu und kommt aus Amerika.«

Dinner-Cancelling. In den Siebzigerjahren war der Begriff noch nicht so durchgekaut.

Ich hatte diese Fastenmethode einige Monate davor in den USA als neuen Gesundheitstrend entdeckt und mich bereits intensiv damit befasst. Es ist schon seltsam, dass aus diesem Land gleichzeitig das Gesunde wie auch das Ungesunde in die Welt hinausgetragen wird. Fresst euch zu Tode oder lebt die Askese, sucht es euch aus.

»Und was muss ich bei diesem Cancelling tun, Herr Doktor?«, fragte mich Annelie.

»Nichts mehr essen am Abend. Die letzte Mahlzeit so gegen drei, vier Uhr am Nachmittag. Und dann erst wieder ein gutes, reichhaltiges Frühstück.«

»Ein vernünftiges Frühstück? Ist das erwachsen? Gescheiter als ein Omelette aus drei Eiern?«

Ich nickte. »Ja.«

Seither beginnt Annelie ihre Tage mit einem warmen Haferbrei. Die Haferflocken weicht sie am Vorabend ein. Morgens werden sie ein wenig gekocht. Mit Wasser und nur wenig Milch. Eine Prise Salz dazu. Und immer eine halbe Banane, die schneidet sie in kleinen Stücken hinein und lässt sie in der Masse mitköcheln. Danach kommt ein kleiner Löffel Honig dazu, etwas Joghurt vielleicht oder selbst gemachtes Apfelmus, und hinterher garniert sie den Brei mit frischen Früchten. Das ist ein reichhaltiges Frühstück. Da braucht sie gar kein Brot.

»Das ist kein großer Aufwand, schnell zubereitet und genügt vollauf bis Mittag«, sagte ich.

Mittags kocht sie selbst. Ohne Ausnahme. Mit ein bisschen Öl, aber nicht zu viel. Und Butter, aber nur in kleinen Mengen. Von einem nahen Bauern daheim im Ländle besorgt sie sich frisches Gemüse. Gegen ein kleines Stück Fleisch, nur ganz kurz angebraten, oder Fisch ist gar nichts einzuwenden. Den Fisch hat sie aus dem Bodensee. Es spricht auch nichts gegen ein Huhn oder ein Stück Pute ab und zu. Gute Qualität muss es halt haben. Beilagen nur wenige.

»Und am Nachmittag, so gegen drei Uhr, essen Sie noch einen Apfel. Oder anderes Obst. Danach haben Sie keinen Hunger mehr«, sagte ich.

»Und was, wenn doch?«, fragte Annelie. Sie konnte schon hören, wie ihr Magen knurrte.

»Wenn Sie es gar nicht aushalten, knabbern Sie am Abend noch ein kleines Stück Hartkäse. Sie werden sehen. Der Körper gewöhnt sich so rasch daran, dass er nach gar nichts mehr verlangt – bis zum nächsten Tag.«

»Danke«, sagte Annelie »das werde ich ausprobieren.«

Sie hatte mir ihre Geschichte erzählt und mich neugierig gemacht. Jedes Mal, wenn sie zu mir in die Ordination kam und aussah wie das blühende Leben, fragte ich nach.

»Ja, der Dr. Albrecht und Sie«, sagte sie, als sie letztens wieder bei mir war. Sie hielt kurz inne. »Hab ich Albrecht gesagt? Unsinn. Er heißt natürlich Albrich.«

Es soll einem nichts Schlimmeres passieren mit neunzig.

Ich freue mich sehr, dass Annelie Leichtfried (die Dame hat mich ersucht, ihren richtigen Namen nicht zu nennen, sie ist sehr bescheiden) dieses damals so neue und merkwürdige Konzept des Dinner-Cancellings befolgte. Seit vier Jahrzehnten macht sie das jetzt.

Ausnahmen gibt es natürlich schon, aber ganz selten. Zum Beispiel, wenn sie bei Freunden eingeladen ist. Sie will die Gastgeber nicht vor den Kopf stoßen und dort sitzen und fasten, als wär’ das ein stummer Protest. Hin und wieder am Abend etwas zu essen, spielt überhaupt keine Rolle. Da hat sie vielleicht am nächsten Tag einmal ein halbes Kilo mehr, und am übernächsten Tag ist es auch schon wieder weg. Seit Annelie das Cancelling macht, ist ihr Gewicht immer gleichgeblieben. Bis heute.

Die Detox-Kur, sagt Annelie, komme dem, was sie seit Jahrzehnten ganz selbstverständlich und ohne Betriebsanleitung betreibt, am nächsten. Aber auch nur bedingt, denn weder kasteit sie sich mit der sogenannten Entschlackung – ein Begriff, den wir Mediziner gar nicht gerne hören, weil es im Körper keine Schlacke gibt – noch durch wochenlanges Saftfasten oder ähnliches. Über die Vielzahl ständig wechselnder Trends in Sachen Ernährung, die das perfekte Abnehmen auf Dauer mal so und danach mal so versprechen, ist sie ebenfalls im Bilde und sogar auf dem letzten Stand.

Viel hält sie allerdings nicht davon: »Diese ganzen Diäten, wo du drei Wochen lang nur das Gleiche essen sollst, oder erst keine Kohlenhydrate, dann wieder nur fettreiche Nahrung wie bei der ketogenen Diät, oder das wochenlange Teetrinken und diese Geschichten, das ist doch alles ein Unfug. Der Körper gewöhnt sich irgendwann an diese Art von Ernährung und stellt seinen Stoffwechsel um. Dann geht gar nichts mehr beim Gewicht. Und so schnell kannst du gar nicht schauen, schon hast du die Kilos wieder oben. Da mache ich es lieber so, wie es mir von euch beiden Ärzten geraten wurde, und verzichte bewusst auf ganz bestimmtes, ungesundes Essen. Und auf das Abendessen. Damit die Zellen im Körper sich über Nacht erholen oder selbst reparieren können. Dafür bewege ich mich viel und erlaube mir ab und zu auch mal ein Gläschen Wein.«

Der Erfolg ihres disziplinierten Savoir-vivre kann sich sehen lassen: »Ich habe immer noch alle eigenen Zähne. Ich nehme keinerlei Medikamente. Nicht einmal Grippetabletten. Gesund ernähren. Sich bewegen. Das ist das beste Rezept überhaupt, nach dem man kochen kann.«

Zwei Söhnen hat sie das Leben geschenkt, das genügt, sagt sie, dabei huscht ein Lächeln über ihr glattes, fast faltenfreies Gesicht.

Und dann hat Annelie auch noch ein paar kleine Tipps für den Alltag parat: »Nicht allzu viel Kaffee, auch wenn der jetzt wieder eine Renaissance erfährt, nachdem man ihn jahrzehntelang als ungesund und schädlich verteufelt hat. Aber viele Leute brauchen das viele Kaffeetrinken halt, oder sie glauben wenigstens, dass sie es brauchen.«

Auf ihrem täglichen Speisezettel zu finden sind: ein Esslöffel Leinöl und ein Esslöffel geschrotete Leinsamen, gut für die Verdauung. Und täglich einen Löffel Kieselerde. Dazu einen Löffel Hefeflocken. Oder Bierhefe. Die gibt es im Reformhaus. Die kann man auch auf eine Suppe streuen und sind sehr gut für die Haut. »Darum habe ich auch immer noch so schöne Fingernägel«, sagt sie. »Die haben Frauen in meinem Alter sonst nicht.«

Vor kurzem war Annelie Leichtfried wieder bei mir. Allein wie sie zur Tür hereinweht, ist beeindruckend. Neunzig Jahre Leichtigkeit. Heute habe sie einen Tisch in einem Wiener Haubenrestaurant reserviert, erzählte sie. Sie wird sich das Menü mit dem Lamm nehmen, dazu einen guten Cabernet Sauvignon. Weil das auch sein darf. Das Schöne am Intervallfasten ist, dass man das Essen nicht verschlingt, sondern mit allen Sinnen entdeckt. Dadurch entsteht ein ganz neues Körpergefühl. Eine Energie, die von innen kommt. Als würde der Körper danke sagen.

Die Anti-Aging Revolution

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