Читать книгу Ein Fleck im Meer - John Aldridge - Страница 5
Prolog
ОглавлениеAus der Luft ist das auffälligste topographische Merkmal an der Ostspitze von Long Island, New York, die dreihundertsechzig Hektar große kreisrunde Hafenbucht von Montauk. An klaren, sonnigen Tagen, wie es sie an der Ostspitze fast das ganze Jahr über gibt, wird hier jedermanns Traum eines idyllischen Küstenstädtchens auf atemberaubende Weise Wirklichkeit. Das Sonnenlicht funkelt gleißender auf dem Wasser als über den Feldern und Städten weiter westlich in Richtung New York City. Möwen kreisen in der Luft. Der wolkenlose Himmel ist tiefblau, der Sand leuchtet golden. Im Hafen liegen alle Arten von Booten – von Seglern bis Ausflugsdampfern, Motoryachten bis Jollen, Fischereischiffen bis Kajaks –, die sich auf der glänzenden Wasserfläche sanft auf und ab wiegen und dabei leise gegen die Holzstege schlagen, während eine leichte Brise den Salzgeruch des Meeres über Dünen und Strände, Gärten und Terrassen weht.
Strahlenförmig um den runden Hafen ausgebreitet liegt das berühmte Dorf Montauk. Die »Innenstadt« mit ihren Geschäften und Betrieben befindet sich hauptsächlich südlich und westlich des Hafens, die Häuser sind niedrig und unauffällig. Östlich, westlich und südlich des Hafens winden sich die Straßen der Wohnviertel durch die flache Landschaft entlang des schmalen Küstenstreifens, der sich von Norden nach Süden auf gerade einmal sechseinhalb Kilometern erstreckt. Viele der meist ein- oder zweistöckigen Häuser besitzen die für Montauk typischen grauen Schindeldächer. Sie liegen teilweise versteckt hinter dichten Büschen und hohem Seegras und sind umgeben von verkrüppelten Zwergeichen und knorrigen Schwarzkirschbäumen, die sich vor dem Wind ducken, vereinzelten Flecken Minze, Salbei und Farn und Gärten, in denen während der Saison sämtliche Farben und Arten ein- und mehrjähriger Pflanzen blühen, die in dem lehmigen Boden gedeihen, ganz zu schweigen von den Maisstauden und dicht behangenen Tomatenpflanzen, die hier Kennzeichen des Sommers sind.
Die Häuser, die Geschäfte, die Dünen, die breiten Strände, die Ausblicke auf das Meer von Veranden und Terrassen sind alles Kennzeichen für die Ostspitze von Long Island, und doch dreht sich alles auf die eine oder andere Art um den Hafen, der zentral für das Leben der Gemeinde und räumlicher Orientierungspunkt ist. Insofern ist es vielleicht eine ironische Pointe, dass am Hafen von Montauk nichts natürlich ist. Von dem Moment an, da er von den Gletschern des Pleistozäns ausgehöhlt wurde, bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts war es ein Süßwassersee, der größte einer Vielzahl von Seen, Teichen, Tümpeln, Flüssen und Sümpfen entlang der Landzunge von Long Island. Er trug den Namen Great Lake und war an einer Stelle des Nordufers nur durch eine schmale Landbrücke – vielleicht fünfhundert Meter breit – vom offenen Meer des Block Island Sound getrennt.
Das ist einer der Gründe, warum der See die Aufmerksamkeit des exzentrischen Unternehmers und Immobilienhändlers Carl Fisher weckte, dem Mann, der unter anderem das erste Autohaus in Amerika eröffnete. Fischer wollte aus Montauk das »Miami Beach des Nordens« machen und sah in dem damals noch verschlafenen Nest hundertsechzig Kilometer von New York entfernt bereits ein Luxus-Urlaubsziel für Millionäre. Es sollte exklusiv und teuer sein und elegante Hotels, ein Kasino und Golfplätze bieten – jede erdenkliche Annehmlichkeit und Unterhaltung, die ein Millionär sich wünschen konnte. Viele Gäste von der Art, die Fisher anzusprechen hoffte, würden selbstverständlich mit einer Yacht anreisen, weshalb er 1927 ein Loch in den nördlichen Ufersaum des Great Lake sprengte, den See ausbaggern ließ und ihn zum Seehafen ausbaute. Auf einer kleinen Insel inmitten des neuen Hafens, Star Island genannt, erbaute er den Montauk Yacht Club und das Star Island Casino, erste Schritte auf dem Weg in eine große Zukunft.
Vermutlich wäre es auch so gekommen, wenn nicht der Börsencrash von 1929 Fishers Reichtum und seinem Traum von einem nördlichen Pendant zu Miami Beach, wo er einige Jahre später in Armut starb, ein Ende gesetzt hätte.
In gewisser Weise hat sich Fishers Traum natürlich doch erfüllt: die Ostspitze von Long Island ist tatsächlich der berühmte Treffpunkt der Reichen und Prominenten, der Montauk Yacht Club boomt und der von Fisher angelegte Hafen wurde zum Haupthafen des East Ends, ein bedeutender Marinestützpunkt während des Zweiten Weltkriegs und gegenwärtig Standort einer Station der US-Küstenwache. Fishers »künstlicher« Hafen ist heute New Yorks wichtigster Fischereihafen, Standort der bundesweit größten Flotten des kommerziellen Fischfangs wie auch der Sportfischerei.
Die Einheimischen, die von diesen Flotten leben, bilden eine einzigartige und fest verschworene Gemeinschaft – Männer und Frauen, die durch Generationen des Fischfangs miteinander verbunden sind, die hier geboren wurden oder die sich diesen Ort an der äußersten Spitze der langgezogenen Insel vor allen anderen ausgesucht haben und die alle stolz darauf sind, die finanziellen, physischen und emotionalen Höhen und Tiefen der Tätigkeit, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen, zu meistern. Gemessen an der Bedeutung für die Fischindustrie ist ihre Zahl sehr bescheiden: Die gesamte kommerzielle Flotte, die den öffentlichen Markt mit Fisch und Meeresfrüchten beliefert, besteht aus gerade einmal vierzig Schiffen. Sie machen Jagd auf die wenigen Arten, die in den Gewässern vor Montauk beheimatet sind, vor allem Torpedobarsch, Tintenfisch, Flunder, Weißfisch, Jakobsmuscheln und Hummer.
Ganze fünf Schiffe der Flotte betreiben Hummerfang. Vier davon in der zwanzig Seemeilen breiten Zone vor der Küste. Nur eins fischt weiter draußen auf dem Atlantik, außer Sichtweite der Küste.
Das ist die Anna Mary, vierundvierzig Fuß lang, gebaut 1983 und seit 2003 im Besitz von John J. Aldridge III und Anthony Sosinski, beide aus Montauk. Die beiden Männer sind in ihrer Art, ihrer Persönlichkeit und ihrer Erscheinung das genaue Gegenteil. Beide sind von schlanker Statur, aber Sosinski ist hellhäutig, blond und arbeitet mit flinken Bewegungen, während Aldridge olivfarbene Haut und schwarze Haare besitzt und bedächtig redet und sich bewegt. Beide sind fast so lange Partner in ihrem Beruf, wie sie befreundet sind, das heißt, für die meiste Zeit ihres Lebens. Unterstützt von einem weiteren Crewmitglied fahren sie während der Fangsaison von April bis Ende Dezember zwei- bis dreimal die Woche, sofern das Wetter es zulässt, mit dem Boot hinaus. Dabei steuern sie »ihre« Fanggründe an – Liegenschaften im Ozean, die durch ihre Fallen auf dem Meeresgrund markiert werden – und hoffen auf einen üppigen Hummer- und Krebsfang für den Großhändler, der die Tiere an Marktbeschicker und Restaurants weiterverkauft.
Am Abend des 23. Juli 2013, einem Dienstag, machten die beiden Männer die Anna Mary im Westlake-Dock – am Ende des Westlake Drive, zweiter Anleger links – fertig zur Ausfahrt. Nachtfahrten sind in in der Fischerei üblich, und an diesem Abend ging alles seinen gewohnten Gang …