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Über Bord

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24. Juli 2013

»Warst du heute Muschelsammeln?«, frage ich Anthony, als er vom Steg auf das Deck der Anna Mary springt.

»Klar, heute Morgen.«

Anthony geht ständig auf Muschel- und Austernsuche. Doch er watet nicht einfach durchs Wasser, bis er etwas findet, sondern er zieht Flossen und eine Maske mit Schnorchel an und taucht weiter draußen nach den besten Exemplaren, die am meisten Geld einbringen. Das hat er schon gemacht, als wir noch Kinder waren.

»Hast du Bob oder Marie von der Fish Farm angerufen?«, fragt er mich. »Nehmen sie unseren Fang?«

»Alles geregelt«, erwidere ich.

Wir machen unser Boot klar für die dreißig Stunden oder länger dauernde Fahrt aufs Meer, überprüfen die Körbe, Leinen und die übrige Ausrüstung und warten auf die Anlieferung des Köders. Ich sehe, wie Anthony sich einen frisch reparierten Hummerkorb schnappt. Er untersucht ihn genauer, scheint aber mit dem Ergebnis zufrieden.

Aus dem Steuerhaus weht mir eine Zigarettenwolke entgegen. Das muss Mike Migliaccio sein, schon seit vielen Jahren unser dritter Mann an Bord.

»Mikey!«, rufe ich. »Könntest du bitte draußen rauchen? Du bringst mich um mit dem Gestank.«

Mike kommt paffend aus dem Steuerhaus. Man sieht ihn nur selten ohne eine Marlboro zwischen den Lippen. Das ist einer der Gründe – wenn auch nicht der einzige –, warum er nicht viel redet.

»He, Mike«, ruft Anthony. »Wohnst du immer noch bei Gary?« Es ist alte Tradition an Bord von Fischkuttern, dass der Kapitän seine Crewmitglieder aufzieht, und Co-Kapitän Anthony macht da keine Ausnahme.

Mike spuckt die Kippe über Bord. »Ich ziehe da aus«, erklärt er. »Das ist das reinste Dreckloch.«

Wir lachen, auch Mike.

Der Wagen von L&L kommt vorgefahren. Sie betreiben einen Köderhandel weiter im Westen der Insel, genauer gesagt in Bay Shore, etwa hundertzwanzig Kilometer von Montauk entfernt, und sie beliefern uns mit gut zweitausend Pfund gefrorener Bunker und Rochen in großen Transportschalen aus Karton. Zu dritt laden wir den Köder in zwanzig Kunststoffkisten um, die hinter dem Steuerhaus stehen, und schütten noch mehrere Körbe Beifang von anderen Kuttern im Hafen hinzu. Hier geht nichts verloren.

Irgendwann zwischen acht und halb neun legen wir ab. Es ist ein ruhiger, warmer Sommerabend, und am Horizont ist noch ein letzter Streifen Tageslicht zu sehen. Ich stehe im Steuerhaus und manövriere das Boot vorsichtig zu Gosman, einem Großhändler, der im Hafen von Montauk einen eigenen Steg hat, um unsere Kühlboxen mit Eis zu füllen. Wir haben vier davon, jede mit einem Fassungsvermögen von zweihundert Pfund. Eine der Boxen enthält die Lebensmittel, die wir als Verpflegung mitnehmen. Die anderen drei sind für Thunfisch und Mahi Mahi, die wir auf der Fahrt von einer Leine mit Hummerkörben zur nächsten angeln. Die Boxen sind rasch gefüllt, und wenig später steht Anthony am Steuer, lenkt die Anna Mary durch die Ausfahrt am nördlichen Ende des Hafenbeckens, und wir fahren in östlicher Richtung am Strand entlang in Richtung Montauk Point.

Auf den Felsklippen über uns kann ich das Denkmal für die auf See verunglückten Fischer und den Leuchtturm von Montauk sehen, tausendfach auf Postkarten und Postern abgebildet, und ich spüre, wie die See etwas rauer wird. Gegen neun Uhr haben wir den Montauk Point hinter uns gelassen und fahren nach Süden hinaus auf den Atlantik zu unseren Körben.

Anthony ruft mich zu sich ins Steuerhaus, weil er soeben über Funk erfahren hat, dass ein südlich von uns fischendes Boot dreitausend Pfund Hummer bei Gosman abgeliefert hat. Wir sind uns einig, dass das vielversprechend klingt. Dennoch sind wir noch acht Stunden von unseren ersten Fallen entfernt, da kann vieles passieren.

Ich bin bereit für die erste Wache, und da uns alle ein langer Arbeitstag erwartet, sobald wir unsere Fanggründe erreicht haben, schaltet Anthony die Anna Mary auf Autopilot und er und Mike legen sich in ihre Kojen zum Schlafen. Ich bin allein im Steuerhaus.

Das Alleinsein macht mir nichts aus. Ich mag es sogar. Die Anna Mary ist diese Strecke so oft gefahren, dass sie es fast von allein kann und ich nicht viel zu tun habe. Außerdem bin ich nach einigen Tagen an Land immer froh, wieder auf dem Meer zu sein. Die Zeit an Land dient in der Regel dazu, das Schiff für die nächste Fahrt vorzubereiten, was alle möglichen Routinearbeiten an Deck bedeutet, oder das Öl zu wechseln, Seile zu spleißen und vor allen Dingen Fallen zu reparieren. Wir haben insgesamt achthundert Fallen, von denen wir pro Fahrt gut vierhundert vom Meeresgrund holen, sodass ständig irgendetwas kaputtgeht und das Reparieren praktisch ein Vollzeitjob ist.

Deshalb fühlt es sich gut an, wieder auf dem Wasser zu sein. Seit ich ein kleiner Junge war, hat es mich hinaus aufs Wasser gezogen. Nicht nur, weil ich immer schon Fischer werden wollte – obwohl das genau so war –, sondern auch, weil ich gerne mein eigener Herr bin, ohne dass irgendwer mein Leben kontrolliert oder mein Schicksal diktiert oder mich anschnauzt, dies oder das zu tun. Anthony sagt mir niemals, was ich tun soll. Wir sind seit ewigen Zeiten gleichberechtigte Partner. Und bei der Arbeit, wenn wir die Fallen an Deck hieven und den Fang herausholen, läuft alles wie am Schnürchen, als würden zwei Paar Hände wie eins arbeiten. Aber für drei ausgewachsene Männer ist auf einem vierundvierzig Fuß langen Kutter wie der Anna Mary wenig Platz. Während also Anthony und Mike unten in der Vorpiek vor sich hin sägen und mir nichts als die laue Sommerluft und ein fast voller Mond Gesellschaft leisten, bin ich gerne ganz allein im Steuerhaus. Ich lehne mich in dem abgewetzten Kapitänssessel zurück – ein schwarzer Kunstlederthron, der so oft geflickt wurde, dass es aussieht, als wäre er mit Klebeband gepolstert –, lege meine Füße auf die Instrumententafel, trinke einen Schluck Wasser aus der Flasche, die auf dem Fenstersims neben dem Stuhl steht, und lasse mich mit der Anna Mary in den leichten Wellen wiegen, die Nachwehen eines Sturms vor ein paar Tagen. Das Funkgerät bleibt stumm bis auf gelegentliche Kontaktaufnahmen, nach denen die Gesprächspartner rasch auf einen anderen Kanal wechseln. Das fahle Mondlicht und die Lichter der Anna Mary zeigen ruhige See voraus. Ich begnüge mich damit, ein Auge auf die Messgeräte und den Radarschirm zu werfen, und spüre mein Boot mit den üblichen sechseinhalb Knoten dahintuckern.

Nur eine Sache ist noch zu erledigen, damit wir morgen früh gleich an die Arbeit gehen können, aber das schaffe ich auch alleine und muss Anthony nicht extra um halb zwölf wecken, worum er mich gebeten hat. Wir haben vor kurzem ein neues Kühlsystem installiert, das vor Inbetriebnahme genau justiert werden muss, eine Aufgabe, die nicht unbedingt Anthonys Sache ist. Ein kommerzielles Fischereiboot wie die Anna Mary ist im Grunde ein überdimensioniertes Fischbecken, und das System, mit dem wir unseren Fang lebendig und frisch halten, basiert auf gekühltem Meerwasser. Es ist ein geschlossener Kreislauf: eine Pumpe saugt Meerwasser in die Tanks, in die unser Fang kommt, aber das überlaufende Wasser wird erneut in den Kreislauf eingespeist, sodass nichts zurück ins Meer gelangt. Das System muss jedes Mal neu eingestellt werden. Dazu müssen sämtliche Ventile so weit geöffnet werden, dass das Wasser gleichmäßig durch die Tanks fließt, und dann müssen die Überlaufhähne mit einer Kappe verschlossen werden, damit kein Wasser ins Meer gerät. Idealerweise versucht man die Tanks randvoll zu machen, damit das Wasser möglichst wenig hin und her schwappt. Keine großartige Aufgabe, doch benötigt man für die Feineinstellung der Ventile ein gewisses Maß an Geduld und Konzentration, was nicht gerade Anthonys Stärke ist. Da ich ohnehin hellwach bin, lasse ich Anthony lieber schlafen und gehe gegen halb drei oder drei Uhr früh auf Deck, um den Job zu erledigen.

Der größte Teil der Anna Mary ist Deck. Neunzehn der vierundvierzig Fuß Länge und fast die gesamte vierzehneinhalb Fuß Breite sind Deck, und wir brauchen davon jeden Zentimeter. Das Heck ist offen, damit wir die Leinen mit den Körben zu Wasser lassen können, und die Luken schließen eben mit dem Deck ab. Ich öffne die mittlere Luke über den Tanks, öffne die Ventile und schließe die Luke wieder. Dann gehe ich zurück ins Steuerhaus und überprüfe Geschwindigkeit, Radar und Öldruck und ob die Kompassnadel den richtigen Kurs des Autopiloten bestätigt. Anschließend gehe ich wieder an Deck, um die Überlaufhähne zu verschließen. Zwei unserer Kühlboxen stehen übereinander auf der Luke für den Tank, die ich öffnen muss, um die Plastikkappe auf den Überlauf zu schrauben und das System zu schließen. Frisch mit Eis gefüllt, stehen die Kühlboxen fest auf dem Boden, also schnappe ich mir einen langstieligen Bootshaken und angle damit nach dem Plastikgriff der unteren Box.

Ich spüre das kompakte Gewicht, fast so, als seien die Boxen fest mit dem Deck verwachsen. Ich greife das untere Ende des Bootshakens, gehe in die Knie und lehne mich weit nach hinten, mehr oder weniger hockend, und ziehe mit aller Kraft. Es klappt. Die beiden Boxen rutschen mir über die Hälfte der Tankluke entgegen. Ich gehe ein Stück zurück, lehne mich noch weiter nach hinten, ziehe noch fester – und der Griff reißt ab. Die Kühlboxen bleiben stehen, aber ich stolpere mit hoher Geschwindigkeit rückwärts über Deck, den Bootshaken immer noch umklammernd, geradewegs auf das Heck zu, wo es kein Tor und kein Seil gibt, das mich auffangen oder woran ich mich festhalten könnte.

Und habe keinerlei Kontrolle über mich. Ich stolpere rückwärts, ein oder zwei Sekunden lang – oder vielleicht noch länger? Es ist genau, wie sie sagen, die Zeit scheint stehenzubleiben. Die Sekunden verrinnen wie in Zeitlupe.

Ich wusste, als ich an dem Griff zog, dass es ein Unglück geben würde. Ich wusste es. Es war keine Überraschung, als er abriss, bloß ein zähes, unendlich langsames Bewusstwerden, dass ich mich in eine Situation gebracht hatte, aus der ich nicht wieder herauskomme. Verzweifelt strecke ich meinen Arm nach der Kante des Bootes aus und versuche, sie mit den Fingern zu fassen. Aber vergeblich. Meine Finger rutschen vom Deck ab, und ich fliege durch die Luft.

––––––

Warm. Das erste Gefühl beim Eintauchen. Ich schlucke einen Schwall Meerwasser, dann schnelle ich zurück an die Oberfläche. Ich will Luft schnappen und gleichzeitig schreien, aber beides misslingt. Ich drehe durch. Glühendheißes Adrenalin schießt durch meinen Körper, und ich schlage wild um mich, würge am Salzwasser und strecke meine Arme nach der schwindenden Anna Mary aus. Ich versuche, zu meinem Schiff zu rennen – zu ihm zu fliegen –, schreie »Anthony! Anthony!« und brülle dann aus vollem Hals »Scheiiiiiiiiße!«

Nicht, dass mich jemand hören könnte. Ich schreie, weil der Schrei einfach aus mir herauskommt, doch die Anna Mary stampft davon und übertönt mit ihrem Motor jeden Laut, der ein menschliches Ohr erreichen könnte, besonders die Ohren zweier Kerle, die im Vordeck des Schiffes tief und fest schlafen. Die Anna Mary wird kleiner und kleiner, während sie sich von mir entfernt und ich immer noch verzweifelt versuche, hinter ihr her zu rennen und meinen Kopf über den Wogen zu halten, doch jetzt kann ich nur noch die Lichter auf dem Dach des Steuerhauses sehen. Auch sie werden kleiner. Schwächer. Das alles passiert gar nicht. Wie könnte so etwas real sein?

Es gibt nichts, woran ich mich festhalten könnte, nichts, was vorbeitriebe und ich fassen könnte, kein Stück Treibholz oder Abfall, kein Leinenrest oder ein toter Fisch. Nichts. Die Rettungsweste, die auf jedem kommerziellen Fischereischiff Vorschrift ist, nützt nichts, wenn man sie nicht angelegt hat. Wir tragen nie eine Weste. Ich bin mir bewusst, dass meine Arme und Beine krampfhaft und zwecklos um sich schlagen, dass ich allein bin und mitten in der Nacht wüst auf den Ozean einprügle. Mein ganzes Wesen weiß, dass ich ertrinken werde. Ich werde sinnlos im Wasser strampeln, bis ich erschöpft bin und untergehe. Mein Gott, denke ich, wie wird sich das anfühlen?

Es ist die pure Verzweiflung, ohne jeden Hoffnungsschimmer, und sie ist überwältigend. Sie durchdringt meinen ganzen Körper, spannt ihn aufs Äußerste an und lässt meine Bauchmuskeln hart wie Eisen werden.

Ich bin fünfundvierzig Jahre alt. Ich habe schon öfter Angst gehabt. Aber das hier ist anders. Das ist Panik, die meine Lungen lähmt und sich anfühlt, als wolle mein Herz aus der Brust springen. Kampf oder Flucht – das scheint wie ein schlechter Witz. Gegen das Meer kämpfen? Wohin denn fliehen?

Die Anna Mary ist beinahe in Richtung Süden entschwunden. Ich bestimme ihre Position im Verhältnis zum Vollmond und registriere ebenso, dass die Wellen aus Südwesten kommen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diese Dinge bewusst festhalte, aber es sind Orientierungspunkte. Richtungen. Mein Verstand nimmt sie automatisch auf.

Dann ist die Anna Mary verschwunden und es ist vollkommen still. Man vergisst, dass man die Wellen nur hört, wenn sie sich am Ufer brechen. Inmitten des Ozeans hört man nichts. Die Stille ist ohrenbetäubend – beängstigend.

Ich trage ein T-Shirt, Boardshorts, klobige, schwere Gummistiefel und dünne weiße Sportsocken. Keinerlei Schutz. Die Sohlen der Stiefel sind dafür gemacht, auf dem vom Fischschleim glitschigen Deck Haftung zu geben. Aber hier gibt es nichts, worauf man stehen könnte. Ich liege auf dem Rücken und versuche mit Armschlägen, meinen Kopf über Wasser zu halten. Meine Stiefel hängen schwer an meinen Füßen. Jeder Fischer weiß, dass Stiefel im Wasser dein Verhängnis sind: einmal vollgelaufen, ziehen sie dich nach unten und du ertrinkst. Wenn man über Bord geht, müssen als Erstes die Stiefel weg.

Ich streife beide Stiefel von den Füßen. Sie treiben an die Oberfläche, wo ich sie mir mit je einer Hand schnappe. Ich drücke sie an meine Brust und lege mein Kinn auf die Sohlen. Sie sind etwas, woran ich mich festhalten kann, Überbleibsel einer Welt, die ich wann genau verloren habe? Vor drei Sekunden? Vor fünf Minuten? Egal. Diese Welt ist verschwunden. Mein Gehirn arbeitet fieberhaft und mit Lichtgeschwindigkeit. Sie treiben auf dem Wasser, sagt es mir. Diese Stiefel treiben.

Und dann blitzt ein anderer Gedanke auf. Luftblase, meldet mein Gehirn. Ich nehme einen Stiefel, schütte das Wasser aus, sodass er sich mit Luft füllt und drücke ihn unter Wasser. Wow! Er treibt wie eine Boje. Ich klemme ihn mir unter die Achsel. Jetzt den zweiten Stiefel, mit Luft gefüllt und unter die andere Achsel geklemmt. Meine Stiefel sind Pontons, meine ganz eigene Art von Schwimmweste. Plötzlich sterbe ich nicht mehr, jedenfalls nicht sofort, nicht in diesem Augenblick.

Das verändert alles.

Ich atme. Meine Lungen fühlen sich nicht länger an wie Ballons, die jeden Moment zu platzen drohen. Mein Herz schaltet ein oder zwei Stufen herunter, genau wie meine Arme und Beine. Während die ärgsten körperlichen Reaktionen des Schreckens nachlassen, melden sich die schwächeren Qualen. Meine Augen brennen vom Salz wie Feuer; mein Mund schmeckt nach Salzlake, die ich vergeblich auszuspucken versuche; meine Ohren läuten vor Panik. Aber zumindest schlage ich nicht mehr wild um mich, ich treibe. Das Adrenalin rauscht immer noch durch meinen Körper, aber es verschafft mir so etwas wie Klarheit; es fühlt sich echt an.

Nach wie vor ist mein Tod so gut wie gewiss. Jeder, der seinen Lebensunterhalt auf dem Meer verdient, weiß, dass solche Dinge nicht gut ausgehen. Vermutlich habe ich keine Überlebenschance. Niemand hätte die. Wie sollte jemand hier heil herauskommen – allein im Meer treibend, mit nichts, mitten in der Nacht und niemand, der davon weiß? Die Wahrheit ist überwältigend.

In der Dunkelheit tauchen vor meinen Augen Bilder auf. Ich sehe meine Eltern. Wie wird ihr Leben weitergehen, wenn ich nicht mehr da bin? Mein Bruder, meine Schwester, meine Tanten, Onkel und Cousins und Cousinen, mein Neffe. Wir sind eine große, eng verbundene italienische Familie. Ich bin das älteste Kind, der Erstgeborene dieser Generation. Was wird mein Tod mit der Familie machen? Ich kann mir nicht vorstellen, wie ihr Leben ohne mich weitergeht. Ich möchte es gar nicht wissen. Ich möchte diese Bilder loswerden.

Mein Neffe Jake, gerade vier Jahre alt, ist die nächste Generation der Familie. Er ist die Zukunft, und eines der Dinge, auf das ich mich in meinem Leben bis vor wenigen Sekunden oder Minuten am meisten gefreut habe, war es, Jake aufwachsen zu sehen und an seiner Zukunft teilzuhaben. Jetzt sieht es nicht danach aus, als ob mir dies vergönnt sei, und der Gedanke ist schier unerträglich. Wenn ich akzeptiere, Jake nie wiederzusehen, könnte ich genauso gut aufgeben und einfach untergehen.

Aber ich kann es nicht akzeptieren. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jake ohne mich aufwächst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen, die ich liebe, um mich trauern und dann ihr Leben ohne mich weiterleben. Doch wenn ich mir nicht vorstellen kann, Jake nie wiederzusehen, muss ich einen Weg finden, am Leben zu bleiben und zurückzukehren. Ich muss eine Vorstellung entwickeln, »am Leben zu bleiben«. Und um das zu tun, muss ich auf ein Ziel hin denken. Ich muss mich konzentrieren. Ich muss mich für die eine oder die andere Sache entscheiden, entweder/oder: Entweder kann ich mich endlos auf den Wellen treiben lassen, oder ich kann versuchen, meinen Verstand anzustrengen. »Konzentrier dich!«, sage ich laut, wie ein Befehl an mein Hirn. »Konzentrier dich!« Mein Verstand springt an, und vom Scheitel bis zu den Fußspitzen spüre ich ein winziges Gefühl von Kontrolle.

Was genau weißt du?, fragt mich mein Gehirn. Hier ist meine Antwort: Ich bin um etwa drei Uhr früh über Bord gegangen. Das bedeutet, ich befinde mich etwa vierzig Meilen von der Küste entfernt, allerdings weit entfernt von unseren ersten Hummerkörben, die die Anna Mary von Montauk aus in südlicher Richtung ansteuerte. Wir wären erst eine oder anderthalb Stunden später dort eingetroffen. Aber es bedeutet auch, dass ich vermutlich gar nicht so weit von den Körben meines Freundes Pete Spong entfernt bin. Und weil die Sonne um diese Jahreszeit gegen 5.30 Uhr aufgeht, weiß ich, dass es in zwei bis zweieinhalb Stunden hell werden wird.

Selbst jetzt ist der Himmel nicht pechschwarz. Während ich mich an meinen Stiefeln festhalte und mich umsehe, erkenne ich im Mondlicht meine dünnen weißen Beine im Wasser unter mir. Also ist es nicht vollkommen dunkel, und ich bin auch keineswegs allein. Sturmvögel haben sich eingefunden, ein ganzer Schwarm, der auf seinem Flug nach Norden eine Pause eingelegt hat, um diese seltsame Kreatur im Wasser zu inspizieren. Es ist die häufigste Vogelart auf dem Meer und mir bestens vertraut. Klein, von mattbrauner Farbe mit leuchtend weißen Seitenstreifen, scheinen sie auf dem Wasser zu gehen, wenn sie dicht über den Wellenkämmen schweben und mit ihren Schnäbeln nach Plankton oder winzigen Krustentieren picken. Im Augenblick machen sie Jagd auf meine nicht ganz so winzige Person, indem sie von oben herabstoßen und mit ihren Schnäbeln nach meinem Kopf hacken. Ich versuche, sie zu vertreiben, aber es ist ein aussichtsloses Unterfangen, das mich nur Kraft kostet und mich immer wieder herumfahren lässt, sodass ich noch mehr Wasser schlucke und es wieder ausspucke. Ich beschließe, dass die Vögel lästig sind, mich aber vor allem an eins erinnern: wie ganz und gar fehl am Platz ich im Vergleich zu ihnen bin. Ich schiebe diesen Gedanken zur Seite. Sturmvögel sind meine geringste Sorge. Sie werden mir nicht sonderlich weh tun.

Viel mehr Sorge bereitet mir, dass ich auf dem Atlantischen Ozean treibe und meiner Umwelt hilflos ausgeliefert bin. Meine einzigen Aktivposten sind die Stiefel-Pontons, ein Klappmesser mit einer sieben Zentimeter langen Klinge, das sich in der Innentasche meiner Shorts befindet, mein ziemlich fitter Körper und mein Gehirn. Aber nichts davon gibt mir irgendeine Macht über die Wellen und Strömungen, den Wind und das Wetter, die Zeit und die Gezeiten. Ich habe keinerlei Einfluss darauf, was mit mir oder um mich herum geschieht. Es ist ein ungewohntes Gefühl.

Die Leute glauben, Fischer seien im Meer zu Hause. Ich nicht. Ich bin auf dem Meer zu Hause – auf meinem Boot auf dem Meer. Die Anna Mary ist eine Umgebung, mit der ich umzugehen weiß. Ich kenne jeden Zentimeter des Schiffs. Ich bin mit jeder Anzeige vertraut, die mir sagt, wo ich mich befinde und wie schnell ich mich fortbewege und wie hoch der Öldruck ist. All das kann ich beeinflussen. Im Steuerhaus meines Schiffs habe ich das Kommando.

Hier nicht. Dies alles ist mir unbekannt, und ich habe das Unbekannte noch nie gemocht. Die Welt unter dem Meeresspiegel ist nicht meine Welt, und niemand kann verfügen, was hier geschieht. Wenn sich eine Leine in der Schraube unseres Schiffs verfängt, geht Anthony ins Wasser und schneidet sie los. Er fühlt sich im Wasser pudelwohl. Bei mir ist das ganz anders. Es fühlt sich widersinnig an, dass nun ausgerechnet ich im Wasser schwimme und dass ausgerechnet ich es bin, der vermutlich hier draußen sterben wird, und ich weiß nicht, wie ich sterben werde oder wie lange es dauern wird oder wie ich mich dabei verhalten werde. Für einen Moment kommt mir der Gedanke, wie leicht es doch wäre, einfach loszulassen und es herauszufinden.

»Scheiß drauf!«, brülle ich mein Gehirn an. »Du kannst mich mal! Konzentrier dich! Konzentrier dich auf das Tageslicht!« Zweieinhalb Stunden höchstens, vielleicht zwei Stunden, bis sich der erste Schimmer zeigt. Wenn es hell wird, werden Anthony und Mike wissen, dass ich verschwunden bin, und eine Suche starten. Und das weiß ich mit absoluter Sicherheit: Sobald Anthony von meinem Verschwinden erfährt, wird er alles tun, um mich zu finden. Er ist mein Freund aus Kindertagen, mein Geschäftspartner, mein bester Kumpel, und ich weiß, dass er nach mir suchen wird, so wie ich weiß, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Das ist unumstößlich. Aber ich muss bereit sein, wenn es passiert. Ich muss am Leben bleiben, damit ich bei Anbruch des Tages dafür sorgen kann, dass man mich findet.

Das Ziel, das erste Ziel ist also, bis Tagesbeginn durchzuhalten. Sich treiben lassen. Energie sparen. Am Leben bleiben. Den Kopf über Wasser halten, um nicht so viel Salzwasser zu schlucken. Die Anna Mary ist immer noch nach Süden unterwegs, Montauk liegt im Norden, die Wellen kommen aus Südwest, also ist da Osten. Dort wird die Sonne aufgehen. Das erste Ziel ist es, bis dahin am Leben zu bleiben.

Ich drücke die Stiefel an die Brust und bewege mich mit den Wellen auf und nieder. Es geht eine vier Fuß hohe Dünung, die Nachwirkung des Sturms von vor einigen Tagen – zumindest so weit zurückliegend, dass die Wellen träge geworden sind und sich das Meer in eine rollende, wenn auch unberechenbare Folge von Auf- und Abschwüngen verwandelt hat. Mir bleibt nichts anderes übrig, als auf ihnen zu reiten. Das Meer ist riesig, der Himmel darüber noch weiter, und ich bin winzig klein. Warum zum Teufel wacht Anthony nicht auf und kommt mich holen?

Ich drehe mich nach Osten, um nicht zu verpassen, wenn die Sonne aufgeht.

Ein Fleck im Meer

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