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Fischer in Montauk
ОглавлениеJohn Aldridge und Anthony Sosinski lernten sich mit sieben Jahren kennen. Seitdem haben sie immer wieder auf verschiedene Weise zusammen gefischt.
Sie waren Nachbarskinder in Oakdale, einem zur Stadt Islip gehörenden Dorf an der Südküste von Long Island. Gelegen in Suffolk County, dem östlichsten Landkreis auf Long Island, liegt Oakdale ungefähr neunzig Kilometer vom Ballungsraum New York City entfernt, hat aber weniger als achttausend Einwohner, sodass man es zu Recht als »Dorf« bezeichnen kann. Es liegt an der Great South Bay, dem Meeresstreifen zwischen Long Island und der vorgelagerten windumtosten Insel Fire Island, und wird im Westen vom Mündungsgebiet des Connetquot River begrenzt, kurz bevor er auf die Great South Bay trifft. Kurz gesagt, Wasser ist Oakdales Element.
Dies, und die Tatsache, dass das Gebiet im Süden im Schutz von Fire Island liegt und im Norden an ein Naturschutzgebiet zum Erhalt der Flusslandschaft grenzt, machen Oakdale zu einem besonders lebenswerten amerikanischen Vorort.
Vor langer Zeit war es einmal der Tummelplatz für die Magnaten des Goldenen Zeitalters mit Namen wie Vanderbilt und Bourne, Segelenthusiasten, die hier extravagante Anwesen bauten, wo sie die Wochenenden verbrachten, dem hektischen Leben in New York City so weit entfliehend, wie es die Transportmittel erlaubten. 1972 aber, als die in Brooklyn geborenen John und Adeline Aldridge und ihre drei noch jungen Kinder sich ebenfalls dorthin aufmachten, war Oakland längst zur Schlafstadt für die Pendler nach New York geworden. Der Ort bot John Aldridge senior eine günstige Autobahnverbindung zu seinem Job als Filialleiter eines Autohauses in Queens, und die Gemeinde bestand größtenteils aus jungen Familien, die wie sie den sozialen Aufstieg geschafft und der Großstadt entflohen waren. Als treffendes Zeichen der Zeit hatte man die Herrschaftshäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert in Schulen und Wohnheime für die Kinder der rasch wachsenden Bevölkerung des zwanzigsten Jahrhunderts umgewandelt.
Das hübsche zweistöckige Haus der Aldridges lag am Ende einer Sackgasse. Das Wohngebiet war so neu, dass die Familie erst die zweiten Mieter waren. Der dreieinhalbjährige John Joseph Aldridge III, kurz Johnny, war das älteste der drei Aldridge-Kinder, gefolgt von der jüngeren Schwester Cathy und dem kleinen Brüderchen Anthony. Überall in der Nachbarschaft lebten Kinder in dem gleichen Alter, und Addie Aldridge erinnert sich, wie mit der Zeit eine Horde von fünfundzwanzig und mehr Kindern die Straße und besonders deren Ende zu ihrem Lieblingsspielplatz machten.
Hinter der Sackgasse lag ein kleiner Wald, was weitere Spielmöglichkeiten bot. Während die asphaltierte Straße im Verlauf des Jahres als Spielfeld für Baseball und allerlei andere Ballspiele, als Eisbahn und als Manege für Kunststücke auf dem Fahrrad diente, konnte man sich im Wald nach Herzenslust austoben. Dort bauten die Kinder ihre Forts. Laut Cathy Aldridge, heute Patterson, hatte »jeder sein eigenes Fort im Wald«. Im Winter gingen sie dort rodeln, und besonders die Jungen fuhren bei jedem Wetter mit ihren Geländefahrrädern über selbst angelegte Pisten und bauten Rampen, um den Nervenkitzel zu steigern. Addie erinnert sich noch an den Lärm der spielenden Kinder als beruhigendes Hintergrundgeräusch bei der Hausarbeit, und das Haus der Aldridges wurde zum allgemeinen Treffpunkt.
Die Sosinskis zogen 1975 nach Oakland, drei Jahre nach den Aldridges. Sie hatten wie die Aldridges drei Kinder – die ältere Schwester Jeanine, die jüngere Schwester Michelle, und Anthony in der Mitte – und stammten ebenfalls aus Brooklyn. Die Häuser der beiden Familien waren nach Anthonys Erinnerung »etwa 150 Meter voneinander entfernt«, und wenn er zu den Aldridges wollte, brauchte er nur durch den Garten zu gehen und über den Zaun zu klettern, was er sehr häufig tat. Er verbrachte so viel Zeit bei den Aldridges, dass er als dritter Sohn durchging. Cathy Patterson nennt Anthony »einen Bruder von einer anderen Mutter«, mit allen dazu gehörenden Vorteilen und Komplikationen.
Johnny, Anthony und alle anderen Kinder gingen auf die Edward-J.-Bosti-Grundschule, aber weder hier noch später auf der Highschool ragten sie über das Mittelmaß hinaus. Beide Männer erinnern sich vor allem an die gemeinsam verbrachte Zeit im Wald, eine Erfahrung, die zwischen den Familien eine geografische und emotionale Verbindung schuf. Zunächst waren es die Geländefahrräder und Forts, und später dann, als sie auf die Highschool gingen, die Distanz zu den Erwachsenen, das Herumhängen mit der Gang und die ersten Biere. »Der Wald war mein ein und alles«, sagt Johnny, sein Zufluchtsort und sein Lieblingsplatz, und für seine ältesten Freunde war er immer ein »Wald-und-Wiesen-Typ«, jemand, der sich in der freien Natur zu Hause fühlt, abseits der Straßen und Städte.
Es gab eine ganze Gang von Jungen – Danny Keough, Pat Quinn, Steve D’Amico – die mit Johnny und Anthony erwachsen wurden. Man traf sich im Haus des einen oder anderen und war mal mehr und mal weniger eng miteinander befreundet. Über die Jahre und wachsenden Entfernungen ist das bis heute so geblieben. »Wir hingen gemeinsam rum«, erinnert sich Steve D’Amico. »Was wir alles angestellt haben. Wir gingen um sieben Uhr früh aus dem Haus und waren erst zum Abendessen wieder zurück. Der Ärger kam ganz von allein.«
Doch auch wenn sie als Gruppe auftraten, besaßen sie unterschiedliche Persönlichkeiten, und keine zwei waren unterschiedlicher als Johnny und Anthony. Nach allgemeiner Auffassung war Anthony verrückt – »total durchgeknallt«, wie Steve D’Amico sagt –, und extrovertiert, heute genauso ausgeprägt wie im Alter von acht oder neun Jahren, als seine Mutter ihn »Herr Bürgermeister« nannte. »Er schien jeden zu kennen«, sagt Hope DeMasco. »Wenn ich ihn irgendwohin fuhr, kurbelte er das Wagenfenster herunter und quatschte jeden auf der Straße an. Er kannte sie alle, und alle kannten ihn.«
Johnny Aldridge war anders – bedächtig, ruhig, »nie in irgendwelchen Blödsinn verwickelt«, wie Pat Quinn sagt. »Er ging als Erster nach Hause«, wenn die anderen »auf dumme Gedanken« kamen. Er machte nie viel Aufhebens, sondern ging einfach nur weg. Allerdings, sagt Quinn, »war Johnny immer der Smarteste … ein sehr willensstarker Typ.«
Und schon damals sahen die beiden Jungen sehr unterschiedlich aus. Beide sind schlank und drahtig, aber damit hören die äußeren Gemeinsamkeiten auch schon auf. Anthony hat helle Haut und glatte blonde Haare, die bis zur Schulter reichen. Das Surfer-Image kommt nicht von ungefähr: der Mann surft und betreibt jede Art von Wassersport, die man sich denken kann. Johnny hingegen hat einen olivfarbenen Teint, dichtes, pechschwarzes Haar und einen gepflegten Bart, der in einem feinen Spitzbärtchen ausläuft, wie das Museumsporträt eines spanischen Granden.
Die beiden Männer bewegen sich auch unterschiedlich: hier der sehnige, energiegeladene Anthony, der jeden Moment aus der Haut fahren kann, dort der nachdenkliche Johnny, der die Dinge auf sich wirken lässt und es langsam angeht. Wenn die Arbeit auf der Anna Mary getan und der Fang verteilt ist, wird Anthony erst richtig aktiv. Bei Ebbe schnappt er sich sein Kajak und geht auf Muschel- und Austernsuche – und bringt so noch einmal hundert oder zweihundert Dollar extra nach Hause. Er tut das nicht wegen des Geldes, sondern weil er einfach nicht dafür geboren ist, still zu sitzen. Johnny hingegen macht sich auf den Weg nach Hause, sobald die Anna Mary fest vertäut und der Fang an Land gebracht ist, und genießt einfach nur die Stille und Einsamkeit.
Bis auf den heutigen Tag arbeiten sie unterschiedlich – Johnny methodisch und geradlinig, Anthony in kreativen Schüben, die manchmal ihn selbst überraschen. Johnny ist der Ordnungsfanatiker, der großen Wert auf Sauberkeit legt und darauf, dass alles am rechten Platz ist. Anthony hat wenig für Pläne oder behördliche Auflagen und Vorschriften übrig. Er empfindet diese Dinge als Gängelung. Es wäre zu simpel, die beiden auf den Gegensatz von Freigeist und Ordnungsmensch zu reduzieren, denn sie sind komplexe Persönlichkeiten, und es ist unbestreitbar, dass sie sich ergänzen.
Trotz ihrer unterschiedlichen Charaktere haben beide von Anfang an etwas geteilt, das ihr Leben und das, was aus ihnen geworden ist, bestimmt hat: eine Leidenschaft fürs Fischen. Steve D’Amico sagt, Anthony habe sich schon früh »mit dem Angler-Virus infiziert«, als sei die Leidenschaft fürs Fischen eine Krankheit, für die es kein Gegenmittel gibt, während es sich für Anthony auf ganz natürlichem Weg ergeben hat, so wie eins zum anderen findet.
Obwohl es in ihren Familien nie Berufsfischer gab, hatten ihre beiden Väter ein Faible fürs Wasser. John Sosinski, Anthonys Vater, hatte als junger Mann bei der Küstenwache gedient. Später, während seiner zweiundzwanzig Jahre als Fahrer eines Sattelschleppers für Georgia Pacific, hatte er praktisch einen Zweitjob, indem er fast jedes Wochenende Chartertouren für Sportfischer von Montauk aus begleitete. Hier erwarb er das Wissen, das er seinem interessierten Sohn weitergab.
Johnny Aldridge, sagt sein Vater, »war immer ein Fischer«. Als Zweijähriger musste er wegen eines Leistenbruchs operiert werden. »Am Tag, als er aus dem Krankenhaus kam«, erinnert sich Aldridge senior, »wollte Johnny sofort runter an den Hafen zum Angeln gehen«. Anthony Sosinski besitzt ein Foto, das ihn als Dreijährigen auf einem Fischerboot auf der Sheepshead Bay in Brooklyn zeigt, eine frühe Version des Berufsfischers, der er einmal werden würde. Seine frühesten Erinnerungen sind abendliche Spaziergänge mit seinem Vater hinunter zur Gravesend Bay, wo sie den Amateuranglern bei der Jagd auf Streifenbarsche zusahen. »Anthony hat immer nur geangelt oder gefischt«, sagt seine Mutter.
Das Interesse am Fischen verband die beiden Jungen, es schmiedete ihre Freundschaft und machte sie zu einem besonderen Duo unter ihren Altersgenossen, die mehr auf Autos, Motorräder und Mannschaftssport standen. Sie betrieben ihren späteren Beruf bereits früh, oft und wo immer sie Gelegenheit dazu hatten: Sie angelten Forellen in den Flüssen und Seen des Connetquot River State Park Preserve gleich hinter dem Sunrise Highway, fischten Seebarsche in der Great South Bay von der Mole des Nachbarorts Sayville, fingen Blaukrabben in den Kanälen von Oakdale und warfen ihre Leinen unter der Holzbrücke der Long Island Railroad aus – eine großartige Methode, allem und jedem fernzubleiben. Mit einem Netz fingen sie Killifish – kurz Killies genannt –, den sie an ein Ködergeschäft verkauften, oder sie sammelten Muscheln und verkauften sie auf der Straße. Und was sie nicht loswurden, aßen sie selbst.
Wahrscheinlich legten jene Kindheitsausflüge den Grundstein für die ruhige selbstverständliche Art, mit der die beiden heute zusammenarbeiten. Sie sind Partner, die beide jeden Handschlag ihres Jobs kennen, die Arbeit aber automatisch und intuitiv untereinander aufteilen, ohne Diskussion, mit einer Routine, die ihnen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Beide Männer vertrauen dieser Routine blind, so wie sie einander blind vertrauen. »Es ist wie Autofahren«, sagt Anthony. »Fahrer und Beifahrer wissen, dass sie an der nächsten Ampel links abbiegen müssen, aber der Beifahrer kann sich darauf verlassen, dass es ohne sein Zutun geschieht.«
Man braucht sie bloß an Deck der Anna Mary zu beobachten, in ihrem wasserdichten Ölzeug, die Hände in großen blauen Plastikhandschuhen, der bärtige Johnny mit einem Hut auf dem Kopf, während Anthonys lange blonde Mähne im Wind flattert. Im Satellitenradio spielt Musik – alles von klassischem Rock der Siebziger bis zu Indie-Rock der Gegenwart, je nach Stimmungslage –, und wenn sie ihre Fallen einholen, kann es auch schon einmal richtig laut werden. Im Takt der Musik wippend, holt Anthony mit dem Seilzug Korb für Korb an Bord, während Johnny fest an die Reling gepresst steht, den Kopf gesenkt, ein Lächeln auf dem Gesicht, aber ganz auf seine Arbeit konzentriert: den Knoten lösen, die Falle öffnen, den Fang herausholen, nächster Korb. Reden ist nicht nötig, zumindest nicht über die Arbeit. Jeder der beiden Männer weiß instinktiv, was der andere tut und denkt und an welcher Stelle des Arbeitsvorgangs sie sich gerade befinden. Die beiden sind exakt aufeinander abgestimmt, eine perfekte und effiziente Einheit, die sie seit dem Tag, da sie damit begonnen haben, jeden Handgriff ihres Jobs gemeinsam zu lernen, immer weiter verbessert haben.
Bereits während seiner Zeit an der Highschool hatte Anthony einen bezahlten Job als Fischer. An Wochenenden arbeitete sein Vater für die Viking Fleet, ein größeres Unternehmen, das mit acht Booten von Montauk aus Angelausflüge, Walbeobachtungstouren, Fährdienste und Angelchartertouren anbietet. Als Anthony in die neunte Klasse kam, übernahm er dort ebenfalls einen Wochenendjob und fuhr mit seinem Vater freitagabends nach Montauk und kam sonntagabends zurück. Sie schliefen bei Freunden oder den Freunden von Freunden, darunter auch Frank Mundus, der Sportfischer, von dem die Montauker fest behaupten, er sei das Vorbild für den Haijäger Quint in dem Kinofilm Der weiße Hai gewesen. Als ob das nicht schon cool genug gewesen wäre, verbrachte Anthony den ganzen Sommer des neunten Schuljahrs auf einem Hausboot im Hafen von Montauk, während er als Matrose auf Chartertouren nach Nantucket oder zur Georges Bank Geld verdiente. Nach den Wochenenden und dem Sommer in Montauk erzählte er Johnny von seinen Abenteuern auf dem Wasser, was »Johnny immer gelb vor Neid machte«, wie sein Vater sagt.
Nicht, dass Johnny untätig gewesen wäre. Wie Anthony arbeitete auch er nach der Schule, und zwar in einer Werft, wo er für einen Dollar pro Fuß Bootskiele strich. Außerdem betrieben er und Steve D’Amico noch ein »Nebengeschäft« mit der Herstellung von Angelruten. Sie kauften die Fieberglasstäbe, Rollen und Leinen, setzten die Ruten in ihrer »Werkstatt« in der Garage der Aldridges zusammen und bemalten sie. D’Amico erinnert sich, dass es eine »durchaus künstlerische Arbeit« war und dass Johnny einige Ruten mit einem »Thunfischmotiv« verkaufte. Aber Johnny wollte keine Angelruten herstellen, sondern sie benutzen. Und als Anthony ihm erzählte, dass bei Viking ein Job frei geworden sei, ergriff er die Chance.
Jetzt fuhren sie zu zweit mit John Sosinski freitagabends nach Montauk, schliefen weiterhin bei Freunden und verbrachten ihre Tage als Deckarbeiter oder Laufburschen, entwirrten Angelleinen, öffneten Muscheln, lichteten Anker oder zogen große Fische, die zu schwer für die Leine waren, mit der Gaff an Bord – kurzum alles, was grundlegend mit Booten und Fischen zu tun hat. Für beide waren es unbezahlbare Lehrjahre. Anthony nennt es »das Viking College des Fischereiwesens – praktisches Lernen, das man nicht kaufen kann«.
Dennoch war Johnny ziemlich sicher, nach der Highschool auf dem Bau zu arbeiten, während Anthony hoffte, Berufspilot zu werden. Er nahm an der Highschool Flugstunden in einer Cessna 172 und besuchte in den letzten beiden Schuljahren Vorbereitungsklassen für die Pilotenausbildung. Zuletzt aber schaffte er nicht den nötigen Notendurchschnitt, und so verließ er die Schule und »ging stattdessen fischen«, wie er sagt.
Er begann seine Karriere auf einem Küstenschlepper mit Namen Donna Lee. Ein Küstenschlepper zieht ein großes Netz hinter sich her, das alles einfängt, was ihm in den Weg kommt. Zumindest zu der Zeit, als Anthony an Bord der Donna Lee war und es außer bestimmten Fanggrößen keinerlei Vorschriften gab. Die Donna Lee war jeweils vier Tage unterwegs und fing »alles«, sagt Anthony, und schon bald gab man ihm das Kommando und er wurde mit einundzwanzig Jahren »der jüngste Kapitän auf einem Fischereiboot«.
Außerdem heiratete er im gleichen Jahr und wurde wenig später Vater einer Tochter namens Melanie. Er und seine Frau Liz, die ebenfalls bei Viking gearbeitet hatte, ließen sich in Montauk nieder, und Anthony fand Arbeit auf einem St. Augustine-Trawler, einem Shrimp-Kutter aus Holz, wie man ihn aus Forrest Gump kennt. Eine zweite Tochter, Emma, wurde 1992 geboren, aber auch das zweite Kind konnte nicht eine Ehe retten, die von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden hatte. Im Sommer 1994 trennte sich das Paar, Liz zog mit den Mädchen aus, und Anthony beschloss, das Sorgerecht für seine Töchter zu beantragen. Er und seine Frau hatten eine Vorladung vor Gericht, um sich über die Sorgerechtsregelung zu verständigen, aber vier Tage vor dem Termin packte Liz nach einem heftigen Streit mit Anthonys Schwester Michelle die beiden kleinen Mädchen ins Auto und fuhr davon. Die drei verschwanden einfach. Anthony hatte ein paar Tage Urlaub genommen und war Schwertfisch angeln, und als er nach Hause kam, war seine Familie nicht mehr da.
So begann eine Odyssee, die mehrere Jahre dauerte und Anthony eine Unmenge Zeit, Angst, Anstrengung und natürlich Geld kostete, bis er 1996 seine Töchter wieder zu sich nach Montauk holen konnte. Das Einzige, was er in der Zwischenzeit tun konnte, war seiner Arbeit nachgehen: sich beschäftigen und für seinen Lebensunterhalt sorgen. Im Dezember 1994 ging er wieder zum Schwertfischangeln in die Karibik und nach Südamerika. Erst Ende Januar war er zurück. Er fand Arbeit auf einem Sportfischerboot, das von Montauk aus operierte. Wieder nahm er die Suche nach seinen Töchtern auf. Gegen Ende des Sommers 1995 wurde er endlich fündig. Durch Zufall erfuhr er von der Frau, die den Hot-Dog-Stand bei den Anlegern im Hafen betrieb, dass sie einen Brief von Liz bekommen habe, abgestempelt in Laguna Niguel, Kalifornien. Er rief bei der Handelskammer in Laguna Niguel an und sagte, er wolle mit seiner Familie dorthin ziehen und sich über die Schulen am Ort erkundigen. Ob sie ihm freundlicherweise Informationsbroschüren zuschicken könnten? Sein Gedanke war, dass Melanie zum Ende des Sommers in die Schule käme und irgendwo gemeldet sein müsste.
Die Handelskammer versorgte Anthony mit allerlei Informationsmaterial über die örtlichen Schulen wie auch über die lokalen Einkaufszentren, Museen, Spielplätze und jede nur erdenkliche Attraktion, woraufhin er sämtliche Broschüren und Unterlagen zusammen mit seinem Werkzeugkoffer, einer Thermoskanne Kaffee und einer Kühlbox mit Verpflegung in seinem Ford Bronco verstaute und sich an einem heißen Sonntagabend im August um 19.00 Uhr in Richtung Süden aufmachte. Sein Plan war, Interstate 70 und Interstate 40 zu nehmen und dann die kalifornische Südküste entlangzufahren. Um sieben Uhr früh am Montagmorgen war er, nach seinen eigenen Worten, »zwölf Stunden hinter DC«, aber als er Missouri erreichte, war klar, dass er eine Pause machen musste. Er gönnte sich 45 Minuten Schlaf auf einem Lkw-Rastplatz an der Autobahn und fuhr dann weiter. Vierundzwanzig Stunden, nachdem er Montauk verlassen hatte, war er in Texas, und nach 47 Stunden erreichte er Laguna Niguel in Kalifornien.
Er hatte ein geradezu instinktives Bedürfnis, seine Kinder zu finden und sie sicher nach Hause zurückzubringen, das ihm tief im Nacken saß und ihn antrieb. Der Mann, der gereizt reagiert, wenn ihn jemand auffordert, mehr bei der Sache zu sein, kann sehr wohl hochkonzentriert sein, wenn es darauf ankommt. Zwanzig Jahre später würde es ebenfalls darauf ankommen, als er auf dem Meer nach seinem Freund und Partner suchte und ihn eine ähnliche instinktive Entschlossenheit antrieb.
In Laguna Niguel fand Anthony ein Motel und fuhr mit Fotos seiner Kinder in der Hand zur ersten Schule auf seiner Liste. Kaum hatte er das Schulgelände betreten, als ein Bediensteter auf ihn zukam. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Mann und verlangte nach seinem Ausweis. »Sir«, sagte Anthony, »ich suche nach meinen Kindern.« Er zeigte ihm das Foto von Melanie. Der Schulbedienstete nahm es und bat Anthony, einen Moment zu warten. Anthony war sich sicher, dass die Polizei bereits unterwegs war, aber dann kam es doch anders. Der Bedienstete war der Rektor der Schule, und während Anthony wartete, vergewisserte er sich, dass kein Gerichtsbeschluss vorlag, der Anthony den Kontakt mit seinen Kindern untersagte. Da dem nicht so war, kehrte er mit dem Namen der Schule, an der Melanie eingeschrieben war, sowie dem Namen des Rektors zurück. Anthony fuhr am nächsten Tag dorthin und wartete im Büro des Direktors, als Liz mit Emma im Kinderwagen auftauchte, um Melanie von der Schule abzuholen. Es war das erste Mal seit vierzehn Monaten, dass er seine Töchter wiedersah, auch wenn es nicht mehr als ein kurzer Blick war.
Aber es war ein wichtiger Schritt nach vorn nach den vierzehn schlimmsten Monaten seines Lebens, in denen er nicht wusste, wo seine Kinder waren und wie es ihnen ging. Jetzt konnte er etwas unternehmen. Anthony nahm sich einen Anwalt vor Ort und begann einen Sorgerechtsprozess anzustrengen. Zum Ende des Jahres holte er endlich Melanie zu sich nach Hause, und als Emma 1996 ebenfalls dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Montauk bekam, übernahm er das alleinige Sorgerecht für die Kinder und zog sie alleine auf.
Die Folgen dieser Jahre hallen noch heute in Anthonys Leben und dem seiner Töchter nach, inzwischen erwachsene, selbständige und charmante junge Frauen, die erfolgreich ihre Ausbildung abgeschlossen haben und auf eigenen Füßen stehen. Einer Sache aber konnten sie sich sicher sein: ihr Vater ließ nichts unversucht, um sie zurückzuholen. Seine Hartnäckigkeit mag einer der Gründe sein, warum die Singer-Songwriterin Nancy Atlas, die Sängerin des »echten Montauk« und Komponistin des Lieds »East End Run«, seiner klassischen Hymne, über Anthony sagt, er sei der Typ, den man anruft, wenn dein Leben plötzlich aus den Fugen gerät, »weil er ganz bestimmt zehn Minuten später bei dir ist. Er lässt dich niemals hängen«.
Johnny und Anthony standen während dieser Zeit nicht in engem Kontakt. Zum einen fehlte Anthony die Zeit. Zum anderen hatte sich ihr Leben in unterschiedliche Richtungen entwickelt. Johnny war nach der Highschool aufs College gegangen und hatte zwei Semester am Suffolk Community College verbracht, bis er erkannte, dass die akademische Welt nichts für ihn war. Stattdessen nahm er einen Vollzeitjob auf dem Bau an und arbeitete mit vielen Bekannten von früher in einem Gewerbe, das eine selbstverständliche und logische Wahl schien. »Fischen heißt nicht automatisch, Fische zu fangen«, pflegte John Aldridge senior zu sagen, »es heißt, es zu versuchen.« Das Baugewerbe versprach demgegenüber, zumindest damals, ein sicheres Einkommen, und mit den maßgeschneiderten Eigenheimen, die überall auf Long Island aus dem Boden schossen, hatte Johnny ausreichend Gelegenheit, den Gerüstbau von der Pike auf zu lernen.
Eines der Häuser, an dem er arbeitete und das er letztendlich zusammen mit seinen Kumpels baute, war ein Zweithaus der Aldridge-Familie in Jamaica, Vermont, auf einem bezaubernden Grundstück an der Cole Pond Road, das John und Addie erworben hatten. Die Männer bauten das Haus an ihren freien Wochenenden, sodass es mehrere Jahre dauerte, aber als es Ende der Achtzigerjahre fertig war, wurde es für das nächste Jahrzehnt und darüber hinaus zu einem unwiderstehlichen Anziehungspunkt für Familienmitglieder und Freunde. Der Ort war himmlisch. Es war das letzte Haus an der Straße, mitten im Wald, einen Spaziergang vom Fluss entfernt und höchstens eine halbe Stunde von den Geschäften in Manchester und von den Bergen zum Skifahren und Wandern.
Johnny liebte es, sich in den Wäldern zu verirren, seine Überlebenskünste in den Bergen zu testen und ohne Hilfe nach Hause zu finden. Er zog ganz allein los – Handys und GPS-Geräte waren damals noch schwer wie Ziegel –, allein auf seinen Verstand, seinen Orientierungssinn, seine Geduld und seine Fähigkeit vertrauend, den rechten Weg zu finden und auftauchende Probleme zu analysieren und zu lösen, weil er dazu gezwungen war. Später wuchs sich sein Interesse zu einer Faszination für Bücher und Filme über Survival-Storys aus, eine Begeisterung, die sich eines Tages auszahlen würde.
Die Wildnis-Wochenenden waren eine erfrischende Abwechslung zur harten Arbeit auf dem Bau, denn zu dieser Zeit, den späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahren, waren Bauarbeiter sehr gefragt. Selbst die kurze Rezession von 1990 bewirkte keinen Einbruch bei den Beschäftigungszahlen, und danach folgte der längste ökonomische Aufschwung in der Geschichte, sodass es für einen Zimmermann wie Johnny Aldridge, der jede Menge Freunde im Baugewerbe hatte, mehr als genug zu tun gab.
Außer dass er eigentlich viel lieber mit Fischen sein Geld verdienen wollte.
Nach einer Weile machte er genau das, indem er zur einen Hälfte als Fischer in Montauk arbeitete und zur anderen Schreinerarbeiten für private Bauherren erledigte. Bislang hatte er in einer Einliegerwohnung im Haus seiner Eltern in Oakland gewohnt, aber jetzt nahm er sich ein eigenes Apartment in Sayville. Er unterzeichnete den Vertrag 1994, nachdem er einen Job auf dem Küstenschlepper Wanderlust bekommen hatte und die Arbeit auf dem Bau ganz aufgab. Die Wanderlust fischte vor Montauk Tintenfisch und Flundern, sodass Johnny dort ein weiteres Apartment mietete. Aber er verbrachte in beiden Wohnungen nicht viel Zeit. Stattdessen machte er in den folgenden Jahren kaum etwas anderes als »fischen, fischen, fischen«, wie er sagt, sodass ihm wenig Zeit für irgendein Sozialleben an beiden Orten blieb. Als wenn die Arbeit auf der Wanderlust nicht schon genug gewesen wäre, sprang er gelegentlich auch noch für Anthony ein, der zu der Zeit auf einem Hummerboot arbeitete. Zwischen den vier oder fünf Tage dauernden Fahrten des Fischkutters konnte er durchaus noch fünfzehn Stunden lang als Hummerfischer Körbe an Bord holen. Wenig überraschend, dass sich nach einigen Jahren erste Anzeichen eines Burn-out einstellten.
Dennoch wollte er nicht kürzertreten. Gegen Ende der Neunzigerjahre verschärften sich die Bedingungen für den kommerziellen Fischfang und ganz besonders für die Hummerfischerei. Um im Geschäft zu bleiben, von Gewinn ganz zu schweigen, musste man einfach härter arbeiten. Ein Absinken der Hummerbestände hatte die zuständige Behörde – die Atlantic States Marine Fisheries Commission, die den kommerziellen Fischfang in den fünfzehn Atlantikstaaten regelt – zu strengeren Bestimmungen veranlasst, indem sie die Zahl der Fallen reduzieren und die Fanggröße heraufsetzen wollte und für ein Moratorium bei der Vergabe von Lizenzen plädierte. Einer der vehementesten Gegner der geplanten Maßnahmen war Al Schaffer, ein legendärer Hummerfischer aus Three Mile Harbor in Easthampton. Als Johnny 1996 das Angebot von Schaffer bekam, Crewmitglied auf seinem Boot, der Leatherneck, zu werden, konnte er schlecht nein sagen. Doch auch jetzt wollte er keine Chance auslassen, alles über den kommerziellen Fischfang zu lernen. Von Frühling bis Herbst ging er mit Al auf der Leatherneck auf Hummerfang, und in den Wintermonaten fuhr er mit der Wanderlust fischen.
Einige Jahre später wurden Al und Johnny Geschäftspartner, als sie einen zweiten Hummerkutter namens Sidewinder kauften und als Kapitän einen Kollegen mit staatlicher Lizenz anheuerten, die ihm das Fischen in Küstengewässern innerhalb der Drei-Meilen-Zone erlaubte. Der Erwerb einer eigenen Lizenz war zu der Zeit für Johnny unerschwinglich. Al war nun alleiniger Besitzer der Leatherneck, die außerhalb der Drei-Meilen-Zone fischte, und gemeinsam mit Johnny Besitzer der Sidewinder für die Fischerei in staatlichen Hoheitsgewässern. Die Möglichkeit, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Drei-Meilen-Zone zu fischen, ist für ein Fischereiunternehmen sehr lukrativ und deshalb nichts Ungewöhnliches. Jedes Schiff, so lautet ein bekannter Spruch, ist »ein Loch im Wasser, in das man Geld hineinsteckt«, denn Reparaturen können kostspielig und auch zeitaufwändig sein – ein zweifacher Nachteil, wenn man seinen Lebensunterhalt mit Fischfang verdient. Mit zwei Schiffen ist man zum einen abgesichert, wenn eins ausfällt, und kann außerdem sein Einkommen verdoppeln, wenn man in unterschiedlichen Gewässern fischen kann und die richtige Crew findet, um beide parallel zu betreiben.
Während Johnny und Al in Küstennähe Hummer fingen, arbeitete Anthony auf einem anderen Montauker Hummerkutter, der Lady K, oder ging in den Wintermonaten vor Easthampton Muscheln und Austern sammeln. Aber als Al Schaffer 2001 beschloss, seinen Anteil an der Sidewinder zu verkaufen, sahen Johnny und Anthony dies als perfekte Gelegenheit, sich zusammenzutun, und genau das machten sie. Anthony verließ die Lady K und wurde mit Johnny gleichberechtigter Teilhaber der Sidewinder. Die Männer lebten jetzt beide in Montauk und arbeiteten auf einem Schiff. Es war wie eine Wiederholung ihrer Kindheit in Oakdale, als sie Haus an Haus gelebt hatten und jeden Tag gemeinsam zur Schule gingen.
Aber natürlich waren sie keine Kinder mehr, und niemand wird jünger. 2005 erlitt Anthonys Vater einen schweren Schlaganfall und lag zehn Tage lang im Koma. Er wurde zwei Jahre lang behandelt und verbrachte ein weiteres Jahr in einer Pflegeeinrichtung, wo er seine Fähigkeiten nahezu vollständig wiedererlangte, abgesehen von seiner linken Körperhälfte, die gelähmt blieb. Anschließend holte Anthony seinen Vater zu sich nach Hause, um sich um ihn zu kümmern. Aber es war eine anstrengende Zeit für Anthony: die Sorgen, die regelmäßigen Fahrten zum Krankenhaus und auch die Umstellung, mit seinem nun behinderten Vater zusammenzuleben. »Johnny hat mir durch all das hindurchgeholfen«, sagt Anthony schlicht. Wenn er Unterstützung brauchte, jemanden, der nach seinem Vater sah oder der die Mädchen von der Schule abholte, wusste er: Johnny wäre zur Stelle und würde für ihn einspringen. Ohne jede Frage.
Ungefähr zur gleichen Zeit, 2003, wagten die beiden Männer eine weitere gemeinsame und ziemlich folgenreiche Unternehmung: Sie kauften die Anna Mary, nach Auskunft von Anthony ein »klassisches Hummerboot an der Ostküste«. Vierundvierzig Fuß lang und mit einem Fieberglasrumpf, wurde das Schiff 1983 von der John M. Williams Company of Hall Quarry, Maine, nach einem Entwurf von Lyford Stanley gebaut, einem durch und durch traditionellen Bootsbauer von Deer Isle, der auch dann noch Holzboote entwarf, nachdem er erkannt hatte, dass die neue Fieberglastechnologie nicht mehr aufzuhalten war.
Die Anna Mary ist wegen ihres geräumigen Achterdecks ein klassischer Hummerkutter. Das Deck bietet mit neunzehn Fuß Länge und vierzehn Fuß Breite Platz genug für die großen schweren Hummerkörbe, die Leinen und all die anderen Ausrüstungsgegenstände, die stets griffbereit sein müssen, und natürlich für die Crew, um sich bei der Arbeit zwischen den ganzen Gerätschaften bewegen zu können.
Den besten Einblick in die Arbeit an Bord vermittelt die zum Einsatz kommende Ausrüstung. Man stelle sich das Ganze in zwei Teilen vor – einmal die Fallen am Meeresboden, wo sich die Hummer befinden, und die Schwimmkörper an der Oberfläche, die die Fanggründe eines Fischers ausweisen und markieren. Die Markierungen helfen einerseits, die Fallen auf dem Meer zu lokalisieren, verhindern vermutlich aber auch Streit unter den Fischern über die beanspruchten Fanggründe.
Jeder Hummerkorb an Bord der Anna Mary ist einen Meter zwanzig lang, dreiundfünfzig Zentimeter breit und dreiunddreißig Zentimeter hoch und wiegt sechzig Pfund. Jeweils fünfundzwanzig Körbe werden in etwa dreißig Metern Abstand an einer Leine festgebunden, was schon grob überschlagen eine beachtliche Länge ergibt. Die an der Leine aufgereihten Körbe bezeichnet man als Trawl. Per Gesetz darf für den Trawl ausschließlich Sinkleine verwendet werden, die schwerer als Wasser ist und verhindert, dass Meerestiere sich darin verfangen. Die Fallen sind selbst leer schwer genug, um den Trawl fest auf dem Meeresboden zu verankern.
An beiden Enden der Grundleine steigt eine Bojenleine durchs Wasser nach oben zu den Schwimmkörpern. Fast alle Hummerfischer markieren ihre Trawls mit einem Polyball und einem Highflyer. Ein Polyball ist eine Markierungsboje in grellen Farben – typischerweise ein großer bauchiger, birnenförmiger oder runder Ball, der auf der Meeresoberfläche treibt. Ein Highflyer ist ein langer, vertikaler Stab, üblicherweise aus Aluminium zum Schutz vor Korrosion, der unten mit einem Gewicht beschwert und oben mit einem Radarreflektor ausgestattet ist und in der Mitte durch einen Schwimmer auf dem Wasser gehalten wird. Er befindet sich gewöhnlich in zehn Meter Entfernung vom Polyball, ist jedoch mit der gleichen Bojenleine an der Bodenleine des Trawls befestigt. Der Polyball ist als tanzendes, leuchtendes Objekt in Orange, Rot oder Gelb gut auf dem Wasser zu erkennen und an seiner konischen Unterseite mit der Bojenleine verknotet. Der Highflyer kann drei Meter und mehr aus dem Wasser ragen und ist deshalb weithin sichtbar. Ein am Radarreflektor angebrachter Wimpel zeigt an, dass sich der Highflyer am westlichen Ende des Trawls befindet, ein Highflyer ohne Wimpel markiert das östliche Ende des Trawls.
Die Trawls der Anna Mary sind an beiden Enden mit Polybällen und Highflyern markiert, wobei die Highflyer am westlichen Ende einen gelben Wimpel tragen. Sowohl Polybälle als auch Highflyer sind mit dem Namen des Schiffs und der Zulassungsnummer versehen. Wenn die Anna Mary einen Trawl erreicht, fischt ein Crewmitglied den Highflyer mit einem Haken aus dem Wasser, stellt ihn zur Seite und fädelt die daran befestigte Bojenleine in eine hydraulische Winde ein. Dann wird der Polyball eingeholt und neben den Highflyer in eine Ecke gestellt. Anschließend arbeitet die Winde weiter, bis die Grundleine mit der ersten Falle erscheint. Nacheinander wird nun Korb um Korb bis an die Reling heraufgezogen – bei der Anna Mary immer an der Steuerbordseite –, das letzte Stück per Hand über die Bootskante gehievt, von der Winde gelöst und weiter zum nächsten Crewmitglied geschoben, das den Korb öffnet, den Köderbeutel herausnimmt und anschließend den Fang herausholt und auf entsprechende Behälter verteilt: Hummer hierhin, Krebse dorthin, und Hummer und Krebse, die nicht gefangen werden dürfen, weil sie entweder zu klein sind oder es sich um weibliche Tiere handelt, werden zusammen mit dem übrigen Beifang zurück ins Meer geworfen. Danach wird ein mit Bunkern und Rochen bestückter Köderbeutel in den Korb gelegt – Bunker wegen seines öligen Geruchs, der Fische im Umkreis von Meilen anzieht, Rochen aufgrund seiner langen Haltbarkeit – und die Körbe werden an Deck gestapelt, bereit für den nächsten Einsatz.
Eine dreiköpfige Crew braucht etwa eine halbe Stunde, um die fünfundzwanzig Körbe eines Trawls heraufzuholen, zu leeren und neu mit Köder zu bestücken. Danach fährt die Anna Mary um die Boje herum, und die Crew lässt die beköderten Körbe vom offenen Heck des Schiffs an der Grundleine ins Wasser, um sie erneut im Abstand von dreißig Metern auf dem Meeresgrund auszulegen. Dann fährt die Anna Mary zum nächsten Trawl, von dort zum nächsten und so weiter, insgesamt gut fünfunddreißig. Sie liegen etwa eine Meile auseinander, aber die genaue Entfernung hängt von der Beschaffenheit des Meeresbodens, der Wassertiefe und nicht zuletzt davon ab, dass man einem anderen Fischer nicht in die Quere kommt. Es ist eine provisorische und ungenaue Art, Entfernungen zu messen und Körbe auszulegen, die den wechselnden Bedingungen unterworfen ist, aber sie funktioniert.
Die fünfunddreißig Trawls der Anna Mary befinden sich innerhalb einer Fläche von ungefähr zehn mal zehn Meilen, und um die Hälfte davon einzuholen und wieder auszusetzen, also etwa 420 bis 430 Körbe, braucht die Crew gut fünfzehn Stunden, ohne Pause, bei jedem Wetter, das von Eiseskälte bis brüllender Hitze, von peitschenden Böen bis vollkommener Windstille reichen kann. Und das alles auf einem mit Fischschleim überzogenen Deck und inmitten von Meilen aufgerollter Leinen; beides macht die Fortbewegung an Deck gefährlich, aber auch das ist Teil des Jobs.
Ist die Arbeit beendet, wendet der Kapitän das Schiff für die acht- bis zehnstündige Heimfahrt, um den Fang auszuliefern, sich kurz zu erholen, Reparaturarbeiten auszuführen und das Schiff für die nächste Ausfahrt in ein oder zwei Tagen zu rüsten, sofern das Wetter es erlaubt. Idealerweise wollen die Besitzer der Anna Mary die Fangkörbe sieben Tage nach der Bestückung mit Köder wieder einholen und entwickelten dazu einen gleitenden Plan. Aber der lässt sich nicht immer einhalten. Wenn ein Sturm vorhergesagt wird, kann es sein, dass man die Fallen schon am fünften Tag an Deck holt, bevor man das Risiko eingeht, wetterbedingt erst nach neun Tagen oder noch später ausfahren zu können. Je mehr Zeit nach dem Auslegen der Köder vergeht, desto größer ist die Gefahr, dass die Nahrungskette ihren Lauf nimmt und die Körbe mit Fischen aller Art gefüllt sind, wobei die kleineren den größeren als Nahrung dienen, was nicht der eigentliche Sinn der Korbfischerei ist.
Vom Lohn ihrer Arbeit können die beiden Männer ihren Lebensunterhalt bestreiten, ohne noch für andere arbeiten zu müssen; eine Freiheit, die Belohnung genug ist. »Wir sind unser eigener Boss«, sagt Anthony; Besitzer und Betreiber ihres eigenen Unternehmens. Das bedeutet aber auch, das Risiko und die Ausgaben ganz allein zu tragen. Wie viel sie für die Ausrüstung ausgeben, hängt vom Verdienst der Saison ab, und sämtliche Ausrüstung, die sie im Laufe der Saison durch Verschleiß, gerissene Leinen und andere Gründe verlieren, geht vom Gewinn ab. Das große Plus aber ist, dass sie ihre Arbeit lieben, ihren Beruf als Hummerfischer und ihre Geschäftspartnerschaft als gemeinsame Eigentümer der Anna Mary.
Der Job ist hart: drei Männer auf einem kleinen Boot, die dreißig Stunden auf See verbringen, davon die meiste Zeit schwer körperlich arbeitend, und nachher den Fang im Hafen ausladen und verkaufen. Es sind selbständige, freischaffende Männer, was bedeutet, dass sie während der Monate, in denen sie nicht fischen können, keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, und ihnen im Falle von Krankheit oder eines Unfalls ebenfalls keine Entschädigungen gezahlt werden. Das Wetter und die Marktnachfrage bestimmen ihr Arbeitsleben. Ihre Einkünfte hängen ab von den hohen Kosten für Ausrüstung und Benzin, von Lizenzen und Konzessionen ganz zu schweigen. Die meisten Banken haben wenig Interesse an einer Kreditaufstockung oder Hypothekenvergabe an Leute, deren Einkommen meist unregelmäßig, unsicher und völlig unkalkulierbar ist.
Es gibt keine gesetzliche Unterstützung für sie. Offiziell hält niemand ihnen den Rücken frei. Im Fall von Aldridge und Sosinski gibt es noch nicht einmal eine lange Tradition von Fischerfamilien vor Ort, auf die sie zurückgreifen könnten. Nach Generationen von Landeiern sind sie die Ersten, die den Sprung aufs Meer gewagt haben. Keine Frage, ihre Familien würden ihnen in der Not beistehen, finanziell oder wie auch immer, aber ihr eigentliches Sicherungsnetz sind die anderen Montauker Fischer, die sie über die Jahre kennengelernt haben, die Brüderlichkeit und Verwandtschaft mit jenen, die mit Schiffen aufs Meer fahren und mit ihnen im gleichen Boot sitzen, was die staatlichen Verordnungen angeht.
Die Bruderschaft der Fischer ist weder eine große noch eine besonders mächtige Gruppe – obwohl sie ihre Macht am 24. Juli 2013 demonstrieren sollte. Aber sie ist eine Bruderschaft, wenngleich ihr jede geschwisterliche Rivalität abgeht. »Wir sind nicht groß genug, um untereinander um Positionen zu rangeln«, sagt Johnny Aldridge. »Wir spielen nicht bei den Großen mit. Wir fischen zwischen den Großen, und wir fischen nach dem, was übrig bleibt. Jeder kennt jeden, von den Florida Keys bis hinauf nach Maine, und wir kämpfen nicht gegeneinander.«
Vielleicht liegt es daran, dass »die meisten Fischer Einzelgänger sind«, fügt Anthony hinzu. Allein zu sein ist schließlich »das große Los, auf dem Wasser zu sein«. Für die Bruderschaft der selbständigen Berufsfischer – die, die es immer noch gibt – ist das Meer ihr Klubhaus und Treffpunkt. »Wir treffen uns auf See«, sagt Anthony, »so wie sich die Trucker an Rastplätzen auf dem Highway treffen. Wir kennen untereinander unsere Boote, so wie sie ihre Zugmaschinen kennen. Wir besuchen uns draußen auf dem Ozean.«
Jeder hat einen Spitznamen, dessen Ursprung sich im Nebel der Zeit verliert oder zu peinlich ist, um ihn zu verraten. Die beiden Männer auf der Anna Mary sind Little Anthony und Johnny Load. Bei Anthony passt der Spitzname: Er ist schmächtig, feingliedrig und durchtrainiert. Der Ursprung von Johnnys Spitzname ist ebenso albern wie schlüpfrig. Er erfand ihn für einen Kumpel auf dem Bau, auf den die Frauen nur so flogen. Mit der Zeit fiel der Name auf ihn selbst zurück, vor allem, weil er ihn ständig benutzte. Little Anthony und Johnny Load – so werden die beiden von den Leuten angesprochen, wenn sie im The Dock oder im Liar’s auftauchen, wo sich die Montauker Fischer auf einen Drink treffen. Die beiden Bars versorgen ihr Publikum nicht nur mit Essen und Getränken, sondern fahren auch eine klare Linie.
»Keine kläffenden Köter! Keine selbstmitleidigen Trinker! Keine Mobiltelefone!«, steht auf einer Tafel in The Dock, nur einige auf einer langen Liste von Verboten. Als Kneipe mit einem klaren Standpunkt liegt The Dock direkt am Hafen, damit Hummerfischer, Trawlerfischer, Muschelfänger sowie die Verleiher von Sportbooten und deren Crews problemlos von Bord zur Bar wechseln können, was sie auch tun. Unter der Leitung ihres Besitzers George Watson, der für seine Verschrobenheit so berühmt wie berüchtigt ist, dient The Dock als Wahlkampfzentrale für die Lebensart von Männern wie Johnny und Anthony, als Kommandozentrum für die Werte, Verhaltensweisen und Einstellungen, die sie alle teilen, und als Forum für die Anliegen, die ihnen Sorgen bereiten.
Fast das Gleiche lässt sich vom Liar’s Saloon sagen, einer flachen, niedrigen Kneipe, die versteckt hinter einer Werft liegt. Allerdings bietet die Bar einen besonderen Ausblick: Durch die großen Fenster – und im Sommer von der davor liegenden Außenterrasse – hat man einen ungehinderten Panoramablick aufs Wasser, wo die meisten Besucher des Liar’s ihrer Arbeit nachgehen. Im Winter, wenn The Dock und die meisten anderen Montauker Kneipen und Restaurants geschlossen sind, ist im Liar’s immer noch gut Betrieb. An einem grauen Februar- oder Märznachmittag sitzen dieselben Fischer, die auf den Fotos an der Wand in Ölzeug stolz ihren Fang präsentieren, an der Bar, und wenn es nicht dieselben Männer sind, dann ihre Nachfahren oder aktuellen Gegenstücke. Sie sind genauso ungehobelt wie die Bretter auf dem Boden und an den Wänden, und sie setzen voraus, dass man das weiß.
Montauks Fischer treffen sich auch, vielleicht ein wenig gesitteter und ernster, zur jährlichen Einsegnung der Flotte, wo sie gemeinsam beten. Zumindest geht es dabei etwas ernster und gesitteter zu, seit einige seriösere Männer die Veranstaltung in die Hand genommen und sie ein wenig schicker gemacht haben. Allerdings vermag kein Anstrich von Anständigkeit die scharfen Kanten im Leben der Fischer zu übertünchen oder ihr zähes Inneres aufzuweichen – eine echte Zähigkeit, die äußerer Anspannung und Druck standhält, ohne daran zu zerbrechen –, die diese Menschen kennzeichnet und sie zusammenschweißt.
Typen wie Johnny und Anthony mögen sehr wohl die Letzten ihrer Art sein. »Wer geht jetzt noch in diesen Beruf?«, fragt Johnny. »Und wie?« Er schätzt, dass man als Hummerfischer eine halbe Million Startkapital benötigt, als Muschelfischer sogar zwei Millionen. Wer kann eine solche Summe heute noch aufbringen? Kann ein junger, unerfahrener Mensch, ob Mann oder Frau, so wie er und Anthony es einst gemacht haben, ein Bankdarlehen für eine Unternehmensgründung als Hummerfischer bekommen? Findet er oder sie dafür Geldgeber? Die Einstiegshürden sind einfach zu hoch für Menschen, die nicht mit einem goldenen Löffel in der Hand geboren wurden, und die Frage ist, ob diejenigen, die dieses Glück hatten, tatsächlich bereit sind, einen so harten Beruf zu ergreifen. Hummerfischen als Zeitvertreib für Playboys? Klingt nicht sehr wahrscheinlich.
Anthony stimmt dem zu. Die Hummerfischerei ist definitiv »ein Gewerbe, in das man nicht so leicht reinkommt«, sagt er. »Einer oder zwei aus der Gegend haben es versucht. In den anderen Küstenstädten kein Einziger.« Er versucht sich an die Namen der beiden Männer zu erinnern, aber sie wollen ihm nicht einfallen.
Trotz aller Klagen kommen die beiden Männer über die Runden. Sie erfüllen die vielen Vorschriften. Sie machen das Spiel mit. Die Anna Mary ist mehrfach von Beamten der Aufsichtsbehörde überprüft worden, so wie alle Boote, aber nie wurde irgendein Verstoß gegen das Fischereirecht oder bestehende Sicherheitsbestimmungen festgestellt. Sie schaffen es – auch wenn es alles andere als einfach ist.
Noch eine Sache muss über die Arbeit der Fischer gesagt werden, die im Grunde die gesamte kommerzielle Fischerei betrifft, in die John Aldridge und Anthony Sosinski so viel von ihren finanziellen, körperlichen und emotionalen Reserven gesteckt und der sie so viele Jahre ihres Lebens gewidmet haben. Nämlich, dass die kommerzielle Fischerei nach Aussage des Nationalen Instituts für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz »einer der gefährlichsten Berufe in den Vereinigten Staaten ist, mit einer Rate tödlicher Unfälle, die neununddreißig mal höher als der Durchschnitt ist«.1 Die Zentren für Krankheitsüberwachung und Krankheitsprävention, die ebenfalls Daten über tödliche Arbeitsunfälle erheben, fügen hinzu, dass die Gefahr in den Gewässern der Nordostküste, den gefährlichsten Fischgründen in Amerika, besonders hoch ist, noch höher als in der Beringsee.2
Situationen, in denen man nur knapp einer Gefahr entgeht, »gibt es laufend«, sagt Anthony Sosinski, und der Gedanke daran sitzt jedem Fischer im Hinterkopf. Beinahe auf den Tag sieben Monate, bevor Johnny Aldridge auf der Anna Mary über Bord ging, verloren die mit ihnen befreundeten Hummer- und Muschelfischer Wallace »Chubby« Gray und Wayne Young an Bord von Grays Schiff, der Foxy Lady II, auf See ihr Leben, unweit der Stelle vor der Küste von Massachusetts, an der sie gewöhnlich fischten. Chubby war sechsundzwanzig, Wayne Young fünfzig. Chubby war wie üblich mit der Foxy Lady II im Sommer zum Muschelfischen nach Montauk gekommen, und das Boot und seine Crew waren Teil der Fischergemeinde geworden.
Unter den Mitgliedern der Gemeinde waren allerlei Theorien in Umlauf, was der Grund für das Unglück gewesen sein könnte, aber eine offizielle Ursache wurde nie genannt. Die Montauker Fischer, so wie Fischer überall auf der Welt, lässt das nicht mehr los. Für Sosinski und Aldridge ist der Verlust, abgesehen von ihrer Freundschaft mit Chubby, besonders belastend, weil die Foxy Lady II ein exaktes Ebenbild der Anna Mary war, beide entworfen und gebaut von dem gleichen Bootsbauer in Maine, obendrein im selben Jahr, 1983. Einen Monat nach dem Schiffbruch wurde das Wrack der Foxy Lady II mit Hilfe einer Unterwasserkamera auf dem Meeresgrund entdeckt. Die Leichen der beiden Männer wurden nie gefunden.
Männer wie John Aldridge und Anthony Sosinski mag bisweilen ein plötzlicher flüchtiger Schauer überkommen, wenn sie auf das Boot blicken, das ihren Lebensunterhalt sichert, ihre Hauptanlage darstellt und der einzige feste Grund zwischen ihnen und der Tiefe ist, und sich dann vorzustellen, dass das Schwesterschiff gesunken und ein Mann, den man kannte und gemocht hat, für immer verloren ist.
Schlimmer noch als ein flüchtiger Schauer kann die Angst vor solchen Gefahren Menschen verändern und Traditionen beenden, so wie die Gefahren selbst eine Karriere oder ein ganzes Leben vernichten können. Und es kommt sogar vor, dass Fischer ihren Beruf aufgeben, den sie lieben und jahrelang mit Hingabe ausgeübt haben. Man frage nur Cameron McLellan, einen guten Freund von Anthony, der die Winter am selben Ort verbringt. Ein Berufsfischer aus Maine in der sechsten Generation, hat Cameron McLellan Kabeljau und Schellfisch im Nordatlantik und Seelachs in der Beringsee vor Alaska gefischt und auch in weit entfernten Fischgründen vor Island und Chile gearbeitet. In siebenunddreißig Berufsjahren hat er die Gefahren dieses Berufs hinlänglich kennengelernt, um die Fischerei ganz aufzugeben und auf den Britischen Jungferninseln das beschaulichere Leben eines Charterskippers zu führen.
McLellan hat einen Onkel und einen Neffen bei Unfällen auf See verloren. Sein Bruder, ein Kabeljaufischer, erlitt eine schwere Kopfverletzung durch herabstürzendes Eis. Cameron hat erlebt, dass neue Auflagen und Vorschriften, die die Größe des Fangs und die zulässige Arbeitszeit auf See begrenzen, ihn und seine Kollegen dazu zwangen, die Zeit für die Wartung und Instandsetzung der Ausrüstung deutlich zu reduzieren, um überhaupt noch über die Runden zu kommen. Er hat gesehen, wie immer weniger Fischer und weniger Boote immer größere Risiken auf sich nahmen, bei gefährlichen Wetterbedingungen ausfuhren und sogar bei Sturm fischten, um einen ausreichenden Ertrag zu erzielen. Innerhalb eines einzigen Jahres starben achtzehn von Cameron McLellans Kollegen – alles Freunde und Bekannte – durch die Gefahren der kommerziellen Fischerei. Danach gab McLellan seine Winterausrüstung in Zahlung für Shorts und leichte Bootsschuhe und tauschte die Gefahren des kommerziellen Fischfangs gegen die Annehmlichkeiten, gut betuchte Touristen auf seinem »Luxuskatamaran« zu empfangen.
Seine aktuelle Arbeitsumgebung bietet ganzjährig warme Temperaturen und eine leichte Brise, während er mit seinem zweimastigen Katamaran im Sommer vor den Hamptons segelt und im Winter vor den Inseln St. John, St. Thomas und St. Bartholomäus im azurblauen Wasser der Karibik kreuzt. Für Kapitän McLellan von Heron Yacht Charters bedeutet das, dass er jeden Abend in ein Haus mit einem komfortablen Bett zurückkehrt, statt Tage und Wochen auf gefahrvoller See mit Kombüsenfraß und einer schmalen, schaukelnden Koje bei Nacht. Es bedeutet, dass seine schwierigste Herausforderung an Bord darin besteht, zu entscheiden, ob ein Ausflug aufgrund unpassender Wetterbedingungen abgesagt wird und sich daraus die Notwendigkeit ergibt, einen neuen Termin anzusetzen oder den Kunden ihr Geld zurückzugeben – was etwas ganz anderes ist, als sich ständig um das Wetter, den Fang, den Markt und die Vorschriften sorgen zu müssen.
Das soll nicht heißen, dass Cameron McLellan den Beruf, den er siebenunddreißig Jahre ausgeübt hat, nicht vermisst. Er vermisst ihn sogar sehr. Er vermisst die Gefahr, und er vermisst den Zusammenhalt unter den Fischern, ein Zusammenhalt, der zu gleichen Teilen aus Kameradschaft und Wettbewerb besteht. Sich nach sechs Generationen und beinahe vier Jahrzehnten des eigenen Lebens vom Fischfang abzuwenden, fühlte sich an, als würde er die Wurzeln seiner Vergangenheit ausreißen.
Aber wie Johnny und Anthony bestätigen, muss man gar nicht sechs Generationen zurückgehen, um der Verlockung eines Lebens als Fischer zu erliegen. Diese Verlockung ist ebenso unerklärlich und unergründlich wie übermächtig. Es ist die Leidenschaft, die beide Männer für diese besondere Art von Freiheit und Abenteuer empfinden, die sie nirgends sonst so intensiv erleben wie auf einem kleinen Boot auf dem Ozean, während sie versuchen, Krustentiere auf dem Meeresgrund aufzustöbern. Anthony sagt, Fischen sei stets ein Abenteuer, »weil sich alles ständig verändert«. Die See ist niemals gleich, die Bedingungen sind niemals gleich, der Fang ist niemals der gleiche. Der eigentliche Nervenkitzel ist die Suche, und wie zur Bestätigung vergleicht Johnny Aldridge seinen Beruf mit einer Schatzsuche. Es ist »die Unwissenheit«, sagt Aldridge, die eine Art Goldfieber in ihm weckt: »Du weißt niemals, was du verdammt nochmal bekommen wirst.« Und für beide Männer ist kein Gefühl so elektrisierend wie der Moment, wenn du den Jackpot gewinnst und Körbe voller Hummer an Bord ziehst.
Wenn man mit dieser Leidenschaft beginnt, und dann noch Ausdauer, gewaltige Anstrengungsbereitschaft, ein Übermaß an Zeit und sein gesamtes Vermögen hinzufügt, kann man mit etwas Glück den Job bekommen, den das Amt für Arbeitsstatistik mit dem höchsten Index hinsichtlich des relativen Risikos tödlicher Berufsunfälle versehen hat. Die Behörde bescheinigt Fischern eine »Sterblichkeitsrate« von 104.4, die damit noch knapp vor den Holzfällern liegen und in großem Abstand zu den Berufspiloten auf Platz drei.
Die meisten Todesfälle gehen auf Schiffskatastrophen zurück, aber der Sturz über Bord ist die zweithäufigste Todesursache. Zwischen 2000 und 2014 gab es in der US-Fischereiindustrie 210 Todesfälle durch Überbordgehen. In den frühen Morgenstunden des 24. Juli 2013 sah es so aus, als wäre Johnny Aldridge auf dem direkten Weg, sich dazuzugesellen.