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Kapitel 4: Emma

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Es wurde Herbst. Von der warmen strahlenden Sonne des Sommers, war immer weniger zu sehen und schließlich verschwand sie vollends.

Die Luft war kühl. Die Blätter der Bäume färbten sich bunt und fielen langsam auf den Boden herab. Es regnete häufig.

Auf den Straßen waren immer weniger Spaziergänger zu sehen. Nur die Leute mit den Hunden konnte man nach wie vor regelmäßig begegnen.

In der Schule wurde die Stimmung gedrückter und sehr betriebsam.

Vom Zauber des Sommers war nichts mehr zu spüren.


-


Ich kam nicht klar mit den Fächern in der Schule.

Am Anfang hatte ich gedacht, mit der Zeit würde es besser werden, aber ich hatte mich geirrt.

Ich murkste im Bereich der Note Vier herum. Also „Ausreichend“. Jede Prüfung kämpfte ich um diese Note, und war echt froh, wenn ich sie erreichte. Es kam vor, dass ich eine Fünf bekam. Und das war dann überhaupt nicht gut, da wenn die Gesamtnote im Halbjahresergebnis in einem Fach auf Fünf stand, ich insgesamt eventuell durchfallen konnte, falls sich das in anderen Fächern wiederholte, noch dazu wenn es in mehreren Halbjahren so war. Das hängte noch von den Fächern ab, in welchen ich die Abiturprüfungen machen sollte.

Außerdem musste man gewisse Halbjahresnoten einbringen, damit man die Erlaubnis hatte an der Abiturprüfung teilzunehmen oder eben nicht.

Sämtliche Noten waren dabei noch in ein Punktesystem unterteilt. Von Null bis Fünfzehn. Fünfzehn war die höchste Punktzahl. Eine Eins-Plus. Vierzehn eine „normale Eins“ und Dreizehn eine Eins-Minus. Das ging dann so weiter in Dreierreihen für die anderen Noten. Dabei war die Punktzahl Vier eine Vier-Minus und damit hatte man unterpunktet, was nicht passieren sollte. Also war es noch nicht einmal genug die Note Vier-Minus zu haben. Man brauchte mindestens eine „normale Vier“ mit Fünf Punkten.

Puh! Das ganze Oberstufensystem war komplex und ich blickte immer noch nicht ganz durch. Die Klassenarbeiten und Abfragen, die erst vereinzelt aufgekommen waren, tauchten jetzt reihenweise und in kürzeren Abständen auf. Anfang Winter würde dann die erste Schulaufgabenwelle hereinbrechen und mir wurde schlecht bei der Vorstellung, wie ich das alles packen sollte. Ich hatte zweimal in der Woche Nachmittagsunterricht. Der eine Tag endete um halb vier nachmittags. Der andere um siebzehn Uhr abends. Die restlichen Tage hatte ich meistens bis um dreizehn Uhr. Ich hatte Glück, dass man in der Oberstufe einige Freistunden hatte, die sich entweder fest im Stundenplan ergaben oder auftauchten, wenn ein Lehrer krank wurde und man niemanden sonst als Vertretung hatte oder der ausgefallene Lehrer uns einfach einen Arbeitsauftrag durch einen andere Lehrkraft übermittelte. Ich nutzte sie, um in der Schulbibliothek zu lernen oder mit Olivia etwas zu unternehmen, falls bei uns gleichzeitig irgendwo ein „Loch“ im Stundenplan war. Nachmittags blieb ich meistens lernend zu Hause. Nur die zwei Tage, wo ich länger Unterricht hatte, machte ich danach nichts mehr für die Schule, höchstens nur Notfälle, da ich mich danach einfach komplett ausgelaugt fühlte. - Die Wochenenden verbrachte ich manchmal mit Ben. Wir gingen ins Kino, spazierten oder lümmelten einfach so herum. Er begleitete mich auch zum Hallenbad, das nun geöffnet hatte. Zu mir nach Hause lud ich ihn nicht ein. Mein Papa hatte eine gewisse Abneigung Jungs in meinem Alter gegenüber. Deswegen ließ ich es lieber bleiben und erwähnte es meinen Eltern gegenüber nicht einmal, wenn ich mich mit Ben traf. Meine Mutter fragte immer wieder nach, ob ich ihn vielleicht zu uns einladen könnte, gab es aber nach einer Weile auf, nachdem ich mehrere Male den Kopf geschüttelt hatte. Bei Ben seinem Haus war ich auch noch nie gewesen. Aber er hatte vor, es mir zu zeigen. Seine Eltern kannte ich auch noch nicht. Ich hatte sie noch nicht ein einziges Mal gesehen. - An manchen Wochenenden traf ich mich mit Olivia. Da sie in einer anderen Stadt wohnte, welches ein gutes Stück weiter entfernt war, fuhr mich mein Papa zu ihr. Dort tummelten wir uns meistens dann in kleinen Geschäften herum, kauften Kleidung und interessante Sachen zum Essen. Ich bemerkte, dass Olivia ihre Haare immer mit einer Schleife zusammengebunden hatte. Sie war rosa, als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, dann dunkelblau, dann gelb. Und jeden Tag zog sie eine andere Farbe an. Als ich sie darauf ansprach, wie viele Schleifen unterschiedlicher Farben sie besäße, sagte sie: „Richtig, richtig viele! Ich sammle die so gerne.“ Daraufhin führte sie mich sogar in das Modegeschäft, wo sie ihren Haarschmuck immer kaufte. Sie suchte für mich eine hellbraune Schleife aus und schenkte sie mir. „Danke“, sagte ich. „Echt super!“ Ich band mir nicht so gerne Accessoires ins Haar, aber legte das Geschenk zu Hause behutsam in meinen Schrank. Wenn Olivia zu mir kam, warfen wir uns im Garten ein Frisbee zu oder gingen raus auf ein nahegelegenes Feld, um einen Ball hin und her zu treten oder Badminton zu spielen. - Mit meinen Noten waren meine Eltern alles andere als zufrieden. Vor allem mein Papa machte ständig Druck und regte sich schrecklich auf, wenn ich ihm eine schlechte Note mittteilte. Deswegen versuchte ich das Thema Schule nicht so oft zu erwähnen und verschwieg die ein oder andere schlechte Note. Meine Eltern beratschlagten sich, ob ich vielleicht einen Nachhilfelehrer bräuchte. Ich lehnte aber immer heftig ab. Ich hatte auch so schon zu viel zu tun in der Schule. Ich schaffte gerade noch das Allernötigste. Für einen Nachhilfelehrer hatte ich schlichtweg keine Zeit. Außerdem war es mir sehr peinlich, dass ich solche Probleme hatte und ich wollte nicht, dass da jemand neben mir saß und mir auf die Finger schaute, während ich versuchte zu lernen. - Eines Vormittags - es war gerade Pausenzeit - standen ich und Olivia mit ihren Freundinnen an einem Platz in der Aula, an dem wir häufig waren. Wir redeten über einige Lehrer. Nebenbei studierte ich in meinem Biologiebuch und versuchte das aktuelle Thema zu kapieren. Nächste Schulstunde würde der Biologielehrer wieder ausfragen und ich hatte das ungute Gefühl, dass er mich drannehmen würde. Wenn er das tun würde, wäre ich vermutlich wieder total aufgeschmissen. Ich war so vertieft in das Buch und in das Gespräch der anderen Mädchen, dass ich nicht wahrnahm, wie eine kleine Gruppe von Jungs sich vor uns versammelte. Ich merkte es erst, als die Unterhaltung der Freundinnen immer leiser wurde. Es verwandelte sich in ein erzwungenes Getuschel. Ich sah von meinem Buch auf. - Lukas mit seiner Gang scharte sich vor uns. Er hatte seine drei Freunde mitgebracht, mit denen ich ihn häufiger sah. Alle vier Jungs waren hochgewachsen und standen selbstzufrieden unserer Gruppe gegenüber. Allen voran Lukas, der der größte von ihnen war. Seine blonden gelockten Haare hatte er mit Gel zurechtgelegt, die ihm ein auffälliges Aussehen verliehen. Er sah gut aus wie immer. Keine Frage. Aber ich erschauderte bei seiner Erscheinung. Er strahlte eine unangenehme Kälte aus. Noch dazu erschien er wie so oft, als wollte er alles und jeden um sich herum beherrschen. - Im Klassenzimmer und am Schulgelände ignorierte er mich meistens. Ich kann mich nur an wenige Situationen erinnern, bei denen ich mit ihm ein Wort gewechselt hatte. Dabei ging es dann vor allem nur um Kleinigkeiten im aktuellen Fach. Ein Blatt weiterreichen oder er hatte mich einmal gefragt, auf welcher Buchseite wir uns gerade befanden. Im Übrigen beachtete er mich so gut wie gar nicht. Nur ertappte ich ihn manchmal, wie er mich von der Seite ansah. Gierig, unschlüssig. Ständig sah er dabei so aus, als wäre er wie ein Tier, das auf der Jagd wäre. Und ich war seine Beute. Er traute sich aber nicht heran, schaute und beobachtete mich von der Ferne aus oder tat so, als wäre ich nicht da. Er saß zum Glück nur in den Fächern neben mir, die wir alle gemeinsam in der Klasse hatten. Aber es war ein grässliches Gefühl sein Banknachbar zu sein. Er nahm keine Notiz von mir und ich sprach kein überflüssiges Wort mit ihm. Ich redete mit Olivia und er mit seinem Kumpel Markus, der neben ihm saß. Von ihm ging eine unangenehme und gefährliche Aura aus, die mir Angst einjagte. Da er aber mit mir nichts zu schaffen hatte, versuchte ich ihn völlig auszublenden und mich nur auf den Unterricht zu konzentrieren. Das gelang mir mehr oder weniger. Ich hatte mich an diese Umstände gewöhnt, obwohl sie mir mehr als unheimlich vorkamen. - Je mehr ich an dieser Schule war, desto mehr verstand ich, dass Lukas eine Art Casanova hier war. Er war bekannt, beliebt und jeder respektierte ihn. Viele andere Mädchen schwärmten von ihm. Sie plauderten die ganze Zeit über Lukas. Und sahen ihm nach, wenn er irgendwohin ging. Olivia erzählte mir, dass er schon sehr viele Freundinnen gehabt hätte, die ihm aber alle nicht wirklich gefallen hätten. Wenn es ihm mit einer langweilig wurde, ließ er sie fallen und suchte sich die nächste. Trotzdem träumten die Mädchen davon seine Freundin zu sein. Wenn er dann jemanden aussuchte, waren sie sofort begeistert und Feuer und Flamme für ihn. Wenn er genug von ihnen hatte und seine Beziehung beendete, ließ er sie einfach weinend hinter sich zurück. Ich konnte nicht richtig begreifen, was die Mädchen an ihm fanden. Ja. Er war groß, sah richtig gut aus, hatte einen athletischen und kraftvollen Körper, war immer die Nummer Eins beim Sport und enorm selbstbewusst. Aber für mich war er fremd, wirkte brutal und narzisstisch. Wenn er mit jemanden sprach, tat er dies herablassend und den anderen abwertend. Als ob er der König war und alle anderen seine Untertanen. Sogar die Lehrer respektierten ihn und gingen mit ihm möglichst jede Konfrontation aus dem Weg, so gut es ging. Seine Noten, wie ich es mitbekam, waren ganz in Ordnung. Dumm war er auch nicht. Olivia erklärte, dass er einmal in der Mittelstufe durchgefallen war, weil er einfach keine Lust hatte zu lernen. Deswegen war er schon achtzehn Jahre alt und somit ein Jahr älter als die meisten anderen in unserem Jahrgang. Ben war völlig anders. Er war kurz gesagt auf jeden Fall ein Gentleman. Ben war freundlich, andere umsorgend und lustig. Mit ihm konnte man Spaß haben. Lukas war eher das Gegenteil. Die beiden hatten keinen Kontakt miteinander, soweit ich das einschätzen konnte. Denn viele andere Kerle hechelten ihm hinterher oder wollten unbedingt mit ihm befreundet sein. - Jetzt aber richtete er seine eiskalten blauen Augen direkt auf mich. Er deutete ein Lächeln an, bei dem die meisten Mädchen höchstwahrscheinlich ausflippen würden. Mir versetzte es aber nur einen schmerzhaften Stich in der Brust. „Hallo, Emma“, sagte er. Ich ließ das Buch sinken und merkte, wie ich es mit der einen Hand kräftig packte. Als ob ich versucht hätte, mich daran festzuhalten. Die anderen Mädchen wurden auf einmal ganz still. Alle waren auf die Situation vor uns fokussiert. Selbst einige Umstehende und Leute die vorbeigingen, schauten neugierig zu uns hinüber. Ich schwieg. Lukas wartete wohl ab, bis ich ihm eine Antwort gab. Es kam aber nichts. Er fuhr fort. „Mich kennst du ja schon. Lukas Seifert.“ Er sprach seinen Namen so betont und überspitzt aus, als würde es sich um den mächtigsten Präsidenten auf dieser Welt handeln. „Das hier ...“ Er zeigte auf den Jungen, der neben ihm in der Klasse saß. „Das hier ist Markus.“ Wie auf sein Stichwort trat Markus einen Schritt nach vorne. Er war noch muskulöser als Lukas. Markus hatte eine Statur wie eine kräftige Bulldogge. Er war der kleinste von der Gang, aber eindeutig der stärkste. Er erinnerte mich immer an einen Panzer, der wenn er mal in Bewegung kam, nicht mehr aufzuhalten war. Mit beiden Beinen fest am Boden stehend, sah es so aus, wie wenn man ihn keinen einzigen Millimeter verschieben könnte. Seine Haare waren so kurz geschnitten, dass ich oft rätselte, was das für eine Haarfarbe sein sollte. Zwischen blond und braun oder auch grau? Jedenfalls wusste ich es nicht. Sein Gesicht mit seinen braunen Augen war ausdruckslos und er verzog keine Miene, als er unsere Mädchengruppe begutachtete. Wie ein treudoofer Hund, der seinem Herrn überall hinterherlaufen würde, um ihn bei allem zu unterstützen, machte er auf mich den Eindruck. - „Ich weiß“, sagte ich. Mir war natürlich klar, wer er war. Denn er verbrachte viel Unterrichtszeit im selben Raum wie ich und saß nur zwei Plätze neben mir. Meistens sagte er nichts. Wenn er etwas von sich gab, dann waren das oft nur kurze Antworten, die er mit seiner tiefen brummigen Stimme sprach. Olivia hatte mir erklärt, dass Markus ebenfalls mit Lukas zusammen damals sitzen geblieben war. In der neunten Klasse. Es gab das Gerücht, dass er wegen ihm freiwillig wiederholt hatte, damit er in derselben Klasse wie Lukas bleiben konnte. Lukas machte eine wegwerfende Handbewegung, so als wollte er mich zum Schweigen bringen. Anscheinend gefiel ihm meine Unterbrechung nicht. Er machte weiter: „Rechts außen steht Matthias.“ Markus ging wieder einen Schritt zurück und reihte sich zu den anderen ein. Matthias trat aber nicht hervor wie zuvor sein Freund, sondern deutete eine absichtlich lächerlich und verächtlich wirkende Verneigung vor mir an. „Sei nett zu Emma“, tadelte Lukas ihn. „Unser Matthias ist ein Einstein, macht aber gerne lauter Faxen.“ Der Kerl hatte schwarze Haare. Sie waren kurz geschnitten, aber bei weitem nicht so wie bei Markus. Sein Blick wirkte herablassend. Aber ganz anders als bei Lukas. Er sah nicht so aus, als wollte er jemanden beherrschen. Er machte eher den Eindruck, dass er alle anderen für dumm und wertlos hielt. Sein Gesicht war rechteckig mit scharfen Kanten. Darin hatte er fast ständig ein fieses Grinsen. Er versuchte es nicht zu verbergen, stattdessen trug er es stolz zur Schau. Er war kein Kraftpaket und sah auch nicht sehr sportlich aus. Er war schlank. Aber nicht durchtrainiert wie Lukas. Trotzdem bekam ich Angst vor ihm. Seine grauen und intelligenten Augen untermalten seine gesamte Erscheinung und mir lief ein Schauer über den Rücken. „Dann fehlt nur noch unser Johann.“ Der letzte Junge lächelte mich freundlich an, als er seinen Namen hörte. Ohne irgendwelche Hintergedanken. Einfach nur nett. „Guten Tag“, sagte er und schüttelte seine Haare aus dem Gesicht, die ihm in die Augen gefallen waren. Er hatte einen Wuschelkopf. Lange, durcheinander gewirbelte dunkelblonde Haarsträhnen. Sein Gesicht hatte keinerlei Spur von Überheblichkeit mir gegenüber. Im Gegensatz zu den anderen erweckte er ihn mir sogar Sympathie. Er schaute mir gutmütig in die Augen. Ich fragte mich, warum er in Lukas Gruppe mitmachte. Er fiel da völlig aus dem Raster. Lukas schien die freundliche Verbindung zwischen mir und ihm zu spüren. „Flirte nicht mit ihr. Die ist schon besetzt“, sagte er warnend und Johann wandte den Blick von mir ab und sah betreten zu Boden. „Er hat noch viel zu lernen“, merkte Lukas an. Jetzt kam mir Johann auch ein bisschen schwächlich vor. Er war nicht stark. War von der Figur her wie ein normaler Junge, nur dass er groß war. Sehr groß, wie ich nun bei näherem Augenschein auf einmal bemerkte. Sogar größer als Lukas! Besetzt? Ich wusste nicht, was Lukas damit meinte. Oder besser gesagt: Ich wusste schon, was er damit meinte, wollte es nur nicht wahrhaben. Ich verdrängte es. Je länger wir so dastanden, desto stärker wünschte ich mich hinfort. Nur weg von hier. Ich schaute zur Seite und sah, dass immer noch viele ihre Aufmerksamkeit auf uns gelenkt hatten. Einige waren stehen geblieben oder extra hergekommen, um das Schauspiel zu betrachten, welches sich vor Ihnen da bot. Ich spürte die Anspannung in mir hochkommen und einen Druck in der Brust. Ich wollte, dass Lukas und seine Gang verschwanden. Jetzt sofort! Aber das taten sie natürlich nicht. - „Nun, Emma“, setzte Lukas an. „Du fragst dich natürlich, warum ich hergekommen bin. Ich möchte gerne mit dir reden.“ Das hatte ich bereits festgestellt. Ich hielt es für das Beste ihn anzugreifen. Vielleicht verschwand er dann schneller. Ich sammelte meinen Mut zusammen und legte meine Kraft in meine Stimme, damit sie möglichst fest klang. „Wieso kommst du dann nicht alleine und bringst deine Jungs mit?“ Lukas machte ein Gesicht, das zu einem Teil überrascht und zum anderen Teil wütend wirkte. Ihm missfiel vermutlich meine Art und Weise, wie ich mit umging. So etwas kannte er vermutlich gar nicht. Dass ihm jemand widersprach oder ihn kritisierte. So konnte ich ihn, wenn ich Glück hatte, wieder vertreiben. Lukas sagte einen Moment lang nichts, sondern überlegte sich eine Antwort. Er sah mich mit anderen Augen an, nicht mehr wie vorher, als ob ich ein dummes, hilfloses Mädchen wäre. Als ob ich nicht anders wäre, als all die anderen Mädchen, die er kannte. In seinen Augen blitzte es auf. Herausfordernd. Jagdlustig. Mir wurde es immer übler und ich fühlte mich dem nicht gewachsen. Ich wollte verdammt noch einmal, dass er endlich verschwand! „Ich habe dich zufällig hier gesehen. Und meine Freunde sind einfach mitgekommen.“ Das stimmte nicht. Er wusste, dass ich hier öfter mit den anderen Mädchen in der Pause war. Ich dachte mir, er war einfach zu feige, uns ganz alleine gegenüberzutreten. Deswegen nahm er seine Kerle mit, um mich einzuschüchtern. Und so sagte ich ihm das auch. „Das glaube ich dir nicht. Ich denke, du hattest einfach Angst, alleine herzukommen.“ Jetzt hatte ich ihn anscheinend getroffen. Er rang um seine Fassung und mir kam es so vor, als wenn er kurz davor war loszubrüllen. Er beherrschte sich aber und antwortete scheinbar freundlich: „Nein, keine Sorge. Es ist einfach nur ein Zufall.“ Bevor ich ihm darauf entgegen konnte, machte er schnell weiter. Anscheinend wollte er eine erneute Bloßstellung seiner Person verhindern. „Am Samstagabend steigt die Geburtstagsparty von Johann. Johann wohnt bei dir in der Stadt. Du kannst auch kommen. Mit mir.“ Ich spürte, wie Olivia näher zu mir heranrückte. Sie war genau so nervös wie ich und stupste mich an. Als wollte sie mir irgendetwas mitteilen. Mich warnen. Vielleicht wollte sie, dass ich Lukas zustimmte. Oder es nicht tat? Ich wusste es nicht. Ich blickte zu Johann. Er sah mich unschuldig und warmherzig an. „Mit dir ...“, wiederholte ich langsam, um Zeit zu schinden, damit ich überlegen konnte, wie ich am umgänglichsten ablehnen konnte. „Ja. Mit mir“, sagte Lukas bestimmend. Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie ich das sagen konnte. Deswegen entschied ich mich für eine naheliegende Lüge. „Nein. Da hab' ich schon was vor. Tut mir leid.“ „Wie, du hast schon was vor?“ Lukas zog seine Augenbrauen verwundert hoch. „Dann sag es ab. So wichtig ist das nicht.“ „Doch ist es. Ich kann es nicht absagen“, antwortete ich ihm energisch. Lukas wurde wieder wütend. „Johann hat nur einmal im Jahr Geburtstag. Außerdem würde ich dich liebend gerne besser kennenlernen.“ Olivia zupfte an meinem Pullover, so als wüsste sie, was ich als nächstes sagen würde. Davon wollte sie mich unbedingt abhalten. Ich ließ mich aber nicht von ihr beirren und entschied mich das Ganze einfach nur so schnell wie möglich zu beenden. Er sollte endlich abhauen! Und ich hatte überhaupt keine Lust mit ihm irgendetwas zu tun zu haben. „Nein. Ich will dich aber nicht besser kennenlernen!“, rief ich lauter aus, als mir lieb war. Olivia zuckte neben mir zusammen und hielt sich den Mund mit ihrer Hand zu, um nicht aufzuschreien. Unsere Umstehenden Beobachter wurden noch neugieriger und mir wurde alles viel zu viel. Lukas' Mine verfinsterte sich und er sah plötzlich sehr gefährlich aus. Er drehte seinen Kopf zu seinen Jungs um und wiederholte dann, als ob er es selbst noch nicht ganz begriffen hatte: „Sie will nicht ...“ Die schüttelten nur den Kopf oder zuckten mit den Schultern. Danach richtete er seine volle Aufmerksamkeit wieder auf mich. Mir kam es so vor, als wäre er auf einmal zwei Köpfe größer geworden und ich machte unsicher einen Schritt zurück. „Du kannst es dir noch einmal überlegen“, sagte er in einem eindringlichen Ton. Ich konnte nicht reden. Mein Selbstbewusstsein war komplett in den Keller gesprungen. Also verneinte ich mit dem Kopf. Lukas starrte mich nur an. Olivia stellte sich direkt neben mich und ich war ihr richtig dankbar dafür. Ihr musste es irrsinnig viel Kraft kosten, als sie Lukas direkt in die Augen sah und es noch einmal bestätigte. „Sie hat gesagt, sie wird nicht mit dir mitgehen. Kapier's doch endlich. Und jetzt lass uns bitte einfach in Ruhe!“ Lukas schaute nach unten zu Olivia herab und betrachtete sie angeekelt wie ein Insekt. Ich machte mir Sorgen, er könnte sie mit einem Fußtritt zerquetschen. „Hoppla, was spricht denn dort unten?“ Er lachte spöttisch. Er wandte sich zu seiner Gruppe und die anderen lachten mit. Auch Johann tat es ihnen gleich, obwohl ihm anzusehen war, dass sein Lachen aufgezwungen und nicht ernst gemeint war. „Nun gut“, sagte er anschließend zu mir. Er spitzte seine Lippen. „Dann nicht. Aber das ist nicht mein letztes Wort. Das sag' ich dir.“ Er drehte sich um und machte seinen Leuten mit einer Kopfbewegung klar abzurücken. Die Gang trat den Rückzug an. Im Vorbeigehen kam Matthias an Olivia vorbei und spuckte tatsächlich vor ihr entwürdigend auf den Boden. Fast auf ihre Schuhe. Olivia quickte auf und sprang zur Seite. Matthias kicherte heiter und ging dann weiter. Ich war drauf und dran ihm mein Biologiebuch nachzuwerfen, ließ es aber dann doch lieber bleiben. Die Jungengruppe verschwand in den Schülermassen der Aula. Danach lösten sich auch die außenstehenden Beobachter auf, denn es gab nichts mehr zu sehen. Es klingelte zum Pausenende. - Wir standen alle fassungslos da. Niemand sagte etwas. Nach einiger Zeit entschuldigten sich Olivias Freundinnen und gingen eine nach den anderen hinauf zu den Klassenzimmern. Am Ende war ich mit Olivia alleine. Ich schaute sie an. „Danke“, sagte ich. „Und es tut mir leid, dass du da hineingezogen wurdest.“ Olivias große Augen waren noch immer aufgeschreckt weit offen. „Kein Problem. Hab' ich gerne gemacht. Aber ich glaube nicht, dass er dich in Ruhe lassen wird.“ Ich merkte wie sehr ich angespannt war und am ganzen Leib zitterte. Doch ich war trotzdem erleichtert, dass sie alle weg waren. „Ich hoffe doch schon“, erwiderte ich, aber ich wusste, dass ich mir damit selbst etwas vormachte. Olivia sah mich ernst an: „Lukas darfst du nicht unterschätzen. Was er will, das bekommt er. Da du ihm abgelehnt hast, wird er es jetzt als einer seiner wichtigsten Ziele ansehen, dich zu bekommen.“ Ich nickte. „Was hätte ich denn anderes tun sollen?“ Olivia zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber sei bloß vorsichtig.“ Ich hatte das Gefühl auf der Stelle kotzen zu müssen. Vielleicht würde mich der Unterricht wieder auf andere Gedanken bringen. „Wir sollten jetzt los. Sonst kommen wir noch zu spät.“ Olivia tätschelte mir aufmunternd die Schulter. Im Anschluss daran verabschiedeten wir uns und eilten in unsere Zimmer. Ich hatte Biologie und Olivia Physik. - Als ich die Tür zum Biologieraum öffnete, saßen schon alle an ihrem Platz. Ich war die Letzte, die hereinkam. Der Lehrer richtete sofort seine Aufmerksamkeit auf mich. Er war gerade dabei sein Notenbuch durchzuschauen, um zu schauen, wen er ausfragen sollte. „Emma! Schön, dass du auch zu uns stößt“, sagte er mit einer offenkundigen Ironie. Er klappte sein kleines Büchlein zu. „Du kannst gleich vorne bleiben. Ich habe da ein paar Fragen an dich zur letzten Schulstunde.“ Ich seufzte. Das ist echt ein mieser Tag. „Ich lege nur noch schnell meine Tasche zu meinem Platz. Dann komme ich schon.“ Der Lehrer nickte. Sobald ich durch das Zimmer trat, um meine Tasche an meiner Bank abzulegen, starrte mich jeder an. Manche schadenfreudig. Manche belustigt. Und manche bemitleideten mich. Ben war auch da. Ich wollte ihn auf keinen Fall ansehen. Deswegen schaute ich auch nicht in seine Richtung, obwohl ich spürte, dass er mich beobachtete und sich Sorgen machte. Ich musste wohl einen ziemlich miserablen Eindruck machen. Ich wusste nicht, wie viele das in der Pause mitbekommen hatten. Aber zwei von Olivias Freundinnen waren auch in der Klasse. Markus war nicht dabei. Er hatte kein Biologie mit mir zusammen. Johann und Matthias waren glaube ich sowieso eine Klasse unter mir. Also in der Zehnten. Jedenfalls waren sie zum Glück nicht in meinem Jahrgang. Ich stellte meine Tasche auf den Boden. Danach trat ich den Weg zurück nach vorne an. Sozusagen zur Schlachtbank, denn sämtliches Biologiewissen von mir, war auf einmal wie weggeblasen. Mein Kopf fühlte sich leer an. Kaum in der Lage klar zu denken. Als ich vorne ankam, ignorierte ich die gesamte Klasse, die alle ihre Augen auf mich gerichtet hatte und schaute nur mickrig dem Lehrer in seine Brillengläser entgegen. Dann machte er mich fertig. Fragte mich Fragen über die letzte Schulstunde, die ich nur mühsam beantwortete. Hier und da wusste ich halbwegs die richtige Lösung. Meistens aber riet ich oder zuckte nur schwächlich mit den Schultern. Ich hatte einen Blackout und absolut keine Ahnung sowie keine Lust auf das alles hier. Obwohl ich in der Pause gut den Stoff wiederholt hatte, war davon kaum mehr noch etwas übrig. Irgendwann gab der Lehrer auf. Er gab ein tiefes, übertriebenes und enttäuschtes Seufzen von sich. „Danke Emma. Ich denke das reicht. Du kannst dir dann nach dem Unterricht deine Note abholen.“ Ich war mir ziemlich sicher, dass ich das nicht tun würde. Mit dem Blick nach unten gerichtet, schlurfte ich zurück zu meinem Platz und setzte mich. Ich war kurz davor zum Heulen anzufangen. Der Lehrer begann mit dem Unterricht. Ich versank in meinem Stuhl, schrieb mir seine Tafelanschrift auf ein Blockblatt mit, welches ich in meinen Ordner heftete, verstand aber rein gar nichts. Es war mir auch egal. Ich beachtete niemanden. Wollte mit niemanden etwas zu tun haben. Mir ging es echt schlecht. Die einzelnen Minuten der Unterrichtsstunde verliefen quälend langsam. Auf der Wand neben der Tür war eine analoge Uhr befestigt. Während ich ohne Verstand die Anschrift des Lehrers auf meinem Blatt notierte, verbrachte ich meine Zeit damit, den Bewegungen des Sekundenzeigers mit meinen Augen zu verfolgen. Jedes Mal, wenn der Minutenzeiger eine Stelle nach vorne wackelte, zuckte ich innerlich zusammen. Mein Banknachbar - ein langweiliger Junge, der ein klassischer Streber war - bemerkte meine Verfassung, sagte aber rein gar nichts dazu, sondern hing an den Worten des Lehrers. Das war mir auch recht so. Die anderen mussten mitbekommen, dass ich nur halb da war. Aber, dass es mir so übel ging, wusste außer dem Streber-Jungen vermutlich niemand. Ich ließ mir, so gut es ging, nichts anmerken und ignorierte alle. Sah sie nicht an. Redete nichts. Endlos lange zog es sich dahin. Dann endlich klingelte es zum Stundenende. Meinen bereits zugeklappten Ordner hob ich auf, schmiss die Schultasche auf meine Schulter und ging dann den richtigen Augenblick nutzend in Richtung Tür. Der Biologielehrer schaute mich an, so als erwartete er, dass ich auf ihn zukam. Bevor er aber irgendetwas machen konnte, war ich auch schon zusammen mit den anderen Schülern durch die Tür, und ging den Korridor entlang, unterwegs zur nächsten Schulstunde. - Das nächste Fach war Geographie. Ich verkrümelte mich, genauso wie vorhin, in meinen Sitzplatz und ignorierte alle anderen. Ich schrieb die Anschriften des Lehrers brav mit. Dabei wurde meine Schrift aber allmählich sauberer, im Gegensatz zu der Kritzelei in Biologie. Ich beruhigte mich ein wenig, konnte sogar dem Unterricht besser folgen. Meine aufgewühlten Gefühle ebbten bisschen ab. Doch die Wut, Scham und Verzweiflung, die ich empfand, verschwand nicht so einfach. Erneut war ich in einem Fach gelandet, wo Ben war. Er saß auf der gegenüberliegenden Seite des Klassenzimmers. Einmal sahen wir uns ganz kurz direkt in die Augen, als ich auf die Tafel schaute. Er wirkte bedrückt und sich fragend, was mit mir los sei. Ich wandte meinen Blick schnell ab und sah nach vorne. So verlief auch diese Schulstunde. Recht ereignislos und das war auch gut so. Gegen Ende hatte ich mich halbwegs wieder beruhigt. Ich hockte wieder aufrechter an meinem Platz und meine Gedanken waren besser sortiert, nicht mehr so durcheinander wie vorher. - Es gongte. Es war wieder Pausenzeit. Die kleine Pause. Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Normalerweise würde ich mich wieder mit Olivia und ihren Mädchen treffen. Ich hatte heute aber gar keine Lust mehr. Ich wollte überhaupt mit niemanden reden, oder über das was passiert war, sprechen. Nicht über das mit Lukas und auf keinen Fall irgendetwas, was mit Biologie zu tun hatte. Nachdem ich den Raum verlassen hatte, tippte mir kurz darauf jemand vorsichtig auf die Schulter. Oh, nein. Ich wollte nicht. Verdammt. Ich hielt an, drehte mich um und stand Ben gegenüber, der mich verzagt ansah. „Ich bin's nur“, sagte Ben. Ich versuchte die Fassung zu wahren. Ihm nicht zu zeigen, wie es mir ging und was ich an diesem Tag erlebt hatte. „Hi“, sagte ich. Ben sah mich schon wieder mit seinen Augen besorgt und forschend an. „Geht's dir gut“, fragte er. Ich strich mir ein paar Haarsträhnen zur Seite, die in mein Gesicht gefallen waren. „Es geht“, antwortete ich teilweise ehrlich. „Es war ein stressiger Tag heute. Das ist alles.“ Ich hoffte, damit würde er sich zufriedengeben. Seine grüngrauen Augen wirkten jedoch weiterhin bekümmert. Er beließ es dennoch zum Glück dabei. Die anderen Schüler, die aus der Klasse hinausgegangen waren, verschwanden nach und nach in der Pause. Wir waren nur noch zu zweit. Kurz unterbrach uns der Geographielehrer, der mit seiner Tasche in der Hand aus dem Zimmer trat und es zusperrte. Als er mich und Ben bemerkte, nickte er uns nur kurz zu und ging dann wortlos, in seinen eigenen Gedanken versunken, weiter. Normalerweise dürften wir hier gar nicht bleiben. In der Pause mussten sich sofort alle in der Aula oder im Pausenhof versammeln. Und nicht irgendwo im Schulgebäude herumlümmeln. Aber hier konnte man unbehelligt reden. Und niemand schien sich daran zu stören, denn es war auch sonst niemand da. Ben zögerte, bevor er weitersprach. „Hast du Freitagabend schon etwas vor?“ Was war denn jetzt schon wieder? Ich schüttelte den Kopf. „Ein Freund von mir. Einen, den ich aus der Grundschule damals kenne. Der ist nicht auf dieser Schule. Der hat mich eingeladen auf eine Art Party.“ Ich war kurz davor mir die Hand an die Stirn zu klatschen. Noch eine Einladung zu einer Party. Ich hatte momentan echt keine Lust auf Partys. „Er hat mir gestern eine Nachricht auf's Handy geschickt. Seine Eltern fahren am Wochenende Verwandte besuchen. Und er hat keine Lust mitzukommen. Also hat er sturmfrei. Dann hatte er die Idee eine kleine Party zu machen.“ Er stockte kurz und wartete meine Reaktion ab. „Aha“, sagte ich. Ich wusste nicht, was ich sonst antworten sollte. In mir kamen allerlei gemischte Gefühle auf. Ich wollte nichts unternehmen. Jedenfalls gegenwärtig nichts und auch nicht in den nächsten Tagen. Aber da es Ben war, der mich so lieb fragte, geriet ich ins Wanken. „Ich weiß es ist etwas kurzfristig. Wenn du nicht willst, brauchst du auch nicht dazu zu stoßen. Das ist kein Problem.“ „Wissen seine Eltern, dass er eine Party macht?“, fragte ich. Ben verneinte und grinste leicht. „Nein, das ist ein bisschen verboten das Ganze. Aber es wird richtig cool. Da kommen nicht so viele Leute vom Gymnasium, sondern viele andere unterschiedliche Leute. Die sind auch ungefähr so alt wie wir. Manche jünger. Manche älter.“ Ich überlegte ernst. Lukas mit seiner Gang würde höchstwahrscheinlich nicht kommen. Das hoffte ich jedenfalls. Ich traute mich nicht, deswegen bei Ben näher nachzufragen. „Kommt Olivia zum Beispiel auch?“, erkundigte ich mich stattdessen. „Nein, ich glaube nicht. Das sind nur Leute, die mein Freund Tim kennt. Aber sie kann gerne auch kommen.“ „Ist schon okay“, warf ich ein. Etwas schneller als mir lieb war. Ich wollte ein wenig Abstand nehmen, zu dem was passiert war. Olivia mochte ich auch nicht wirklich sehen momentan. Es war mir zu unangenehm. „Das heißt du kommst oder kommst du nicht?“, fragte mich Ben achtsam. „Alles klar. Ja!“, sagte ich langsam. Bens Miene hellte sich auf: „Klasse! Dann hol ich dich am besten von zu Hause ab am Freitag. Ich zeige dir den Weg.“ Ich stimmte zu, obwohl ich mir dabei das griesgrämige Gesicht von Papa vorstellte, wenn er erfahren würde, dass Ben zu uns kam, um mich abzuholen. „Jetzt sollten wir aber los, ehe wir noch angemotzt werden, dass wir uns hier aufhalten“, bemerkte ich. Wir gingen gemeinsam zu den Treppen, die in die Aula führten. „Ich gehe noch schnell wohin“, sagte ich und schaute zu den Toilettentüren. Ben verstand und lächelte mir aufmunternd zu. „Wir sehen uns später“, verabschiedete er sich und verschwand aus meiner Sicht, als er die Treppenstufen hinabstieg. Ich mochte in Wirklichkeit gar nicht auf's Klo. Aber ich wollte einfach nur alleine sein. Auf dem Weg zum Mädchenklo schritt ich an der Behindertentoilette vorbei. Früher hatte ich sie gar nicht beachtet. Jetzt fiel mir das WC umso stärker auf. Da würde ich sicherlich niemandem begegnen. Selbst wenn die Pause enden würde. Ich hatte hier noch nie jemanden reingehen sehen. Ich zögerte kurz. Dann öffnete ich die Tür zum Behindertenklo und ging hinein. Es war kein so großer Raum. Ungefähr zwei Personen hatten hier ausreichend Platz. Es gab ein Waschbecken mit Spiegel, einen Seifenspender, Papiertücher, die an der Seite aufgehängt waren und ein schlichter Papierkorb, der ein wenig größer als auf der Mädchentoilette war. Daneben war eine Kabine. Ich öffnete sie und erblickte ein typisches behindertengerechtes Klo, bei dem eine Halterung, um sich festhalten zu können, befestigt war. Der Klodeckel war geschlossen. Ich ging zurück in den Vorraum, sperrte die Toilette mit einer dort angebrachten Vorrichtung zu, die ich entdeckt hatte, und setzte mich dann mit der Schultasche auf dem Rücken auf den zugeklappten Deckel in der Kabine. Danach konnte ich mich nicht mehr länger zurückhalten und begann leise zu weinen. Die Tränen kullerten mir reihenweise über die Wangen. Ich hatte das Gefühl, dass ich hierher nicht gehörte. Ich musste wieder nach Hause in die Großstadt. Aber die Zeit dort war jetzt vorbei. Dorthin gab es kein Zurück mehr. Als es zum Pausenende klingelte, blieb ich noch eine Weile still sitzen. Dann stand ich auf, um mir das Gesicht zu waschen und anschließend mit den Papiertüchern abzuwischen. Ich schmiss sie in den Papierkorb und betrachtete mein Gesicht im Spiegel. Ich sah furchtbar aus. Aber es hätte schlimmer sein können. Ich wartete noch, bis ich mich wieder ansatzweise beruhigt hatte. Dann sperrte ich die Toilette wieder auf und ging durch die leeren Gänge zur nächsten Schulstunde. Ich war natürlich wieder die Letzte, die das Klassenzimmer betrat.

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