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SOUL KITCHEN
Los Angeles, 1965
An einem Dienstagmorgen im Juni eilte ich die Auffahrt zu Rays Ocean Park Appartement hoch, wo Jim lebte. Ich hielt auf dem obersten Treppenabsatz und blickte über die Palmen und die viktorianischen Dächer von Venice hinweg.
Mom und Dad bezahlten mir für das Haus in Topanga keine Miete mehr, nachdem ich die meisten meiner Kurse nicht mehr besuchte. Darum lebte ich wieder bei meinen Eltern. In meinem alten Zimmer hielt ich die braunen Läden vor den Fenstern meistens geschlossen. Mittlerweile hatte ich den Fußboden mit einer zentimeterdicken Schaumgummimatte ausgelegt, auf der unechte Orientteppiche lagen. Auf einer Tischplatte hatte ich einen Altar aufgebaut, der aus Bildern vom Maharishi, Krishna und Paramahansa Yogananda, dem Autor des Buches „Autobiografie eines Yogis“, bestand. Ständig brannten Kerzen. Durch die Hintertür konnte ich zu jeder Tages- und Nachtzeit raus oder rein. Wenn sich der Hunger bemerkbar machte, plünderte ich den Kühlschrank oder nahm die miserable Stimmung beim Abendessen auf mich. Ich hatte meine eigene geheime Welt und die häusliche Routine der Eltern erschien mir hinsichtlich meiner Erlebnisse im Topanga Canyon ziemlich langweilig.
Nichts wäre mir lieber gewesen als unter den Fittichen meiner Eltern hervorzukriechen und mir einen ähnlichen Platz zu suchen wie Ray ihn inzwischen gefunden hatte. Westwood ist so lahm! Das einzige, was ich dort machen konnte, war, um Mitternacht zum Mormonentempel zu schleichen und dort einen Meditationsspaziergang einzulegen. In Venice hätte ich mit Jim zusammensein können. Er war ein faszinierender Mensch und stellte alles in Frage. Zur Hölle: Rays viktorianisches Appartement mit zwei Zimmern kostete inklusiv Meeresblick nur 75 Dollar im Monat!
Venice … Mann! Da treiben sich keine Surfer herum. Dort gibt es Künstler und Musiker. Beatnikstimmung! Toll!
„Hör dir das mal an“, sagte Jim, als er mich ins Haus ließ. Sein Haar war noch nass von der Dusche und während er mich ins Zimmer begleitete, strich er affektiert mit seinen Händen hindurch. Die Löwenmähne fiel perfekt in Form.
„Wie machst du es, dass deine Haare so fallen?“ fragte ich ihn, während er zum Plattenspieler eilte.
„Wasch es und kämme es danach einfach nicht“, antwortete er und legte Rays John Lee Hooker-Platte auf. Er war auf dem besten Weg, bald wie ein Rockstar auszusehen. Einige Wochen lang hatte ich ihn nicht gesehen und währenddessen muss irgendeine Veränderung in ihm vorgegangen sein. Posierte er etwa schon?
Der Blues füllte den Raum. Jim ging zum Fenster und öffnete es. Die Sonne ergoss sich ins Zimmer. Wir beide bewunderten den Blick über den Ozean.
„Leg mal ‚Crawling King Snake‘ auf“, bat ich Jim. „Ich liebe den Groove bei ‚Crawling King Snake‘. Wenn wir unser zweites oder drittes Album aufnehmen, sollten wir meiner Meinung nach auch diesen Song bringen. Nach einem Haufen eigener Songs natürlich. Klar, dass wir vor allen Dingen zuerst einen Plattenvertrag haben müssen.“
Meine Zukunftsvisionen machten mich ziemlich aufgeregt. Diese Leute – Ray, seine Freundin Dorothy, Jim und ihre Freunde von der Filmhochschule – waren unabhängige, kreative Studenten und ich wollte zu ihnen gehören. Wir hatten uns alle zusammen Louis Malles „Phantom India“ in der UCLA angeschaut und Ray und Jim redeten seitdem über die Neue Französische Welle in den Kinos.
„Du solltest ‚400 Blows‘ sehen, John“, hatte Ray mir vorgeschlagen. Ich wusste, dass es ein Film eines französischen Regisseurs (Truffaut) war und der Titel machte mich an. Ich dachte, er bedeutet „400 Blow Jobs“.
Als ich mir Rays Zimmer näher betrachtete, fühlte ich den Flair von College und Orient. Bücher, Zeitschriften über Film, Orientteppiche, indische Bettüberwürfe, erotische Fotos. Vollkommen neue Welten eröffneten sich mir hier in diesem Raum.
Ich war zwanzig und alles war möglich.
„Es wird geschehen“, erwiderte Jim mit lässiger Überzeugung. „Hör dir einfach mal diese Kehle hier an, Mann!“ Seine Stimme klang beinahe ehrfurchtsvoll. Wenn man an Jims Herkunft aus dem Süden denkt, machte es sogar Sinn. Er war besessen von den Stimmen schwarzer Bluessänger. Das rohe Gefühl von Pein, das sich in ihren Stimmen ausdrückte, schien in ihm widerzuhallen. Angespannt hörte er zu, wie weggetreten in einer eigenen Welt.
Nach einigen weiteren Stücken wollte Jim zu Olivia’s zum Mittagessen gehen. Ich sprang auf. Bei dem Gedanken an deftiges Essen aus dem Süden wurde mein Mund wässrig. Kartoffelbrei mit Fleischsoße.
„Gut, aber wir sollten nicht auch noch dort zu Abend essen“, neckte ich und rieb mir die Magengegend.
„Ich weiß, ich weiß. Mehrmals hintereinander dort essen und du kriegst Dünnschiss. Aber es erinnert mich an das Essen in Florida!“
„Und es ist billig!“ fügte ich hinzu.
Um Jims Lippen kräuselte sich jenes langsame Lächeln, an dem man sich nie sattsehen konnte.
*
Olivia’s war ein kleines Soul Food-Restaurant an der Ecke des Ocean Park Boulevard und der Main Street. Ein Lokal am Straßenrand, das eigentlich nach Biloxi in Mississippi gehörte. Es war übervoll, wie immer. Dieses Restaurant, das Jim mit dem Song „Soul Kitchen“ unsterblich machte, wurde hauptsächlich von Studenten der UCLAFilmhochschule besucht. Man fühlte sich wie in einem Amtrak-Speisewagen, der am Strand auf Grund gelaufen war.
Ein junges Mädchen mit großen braunen Augen und langem schwarzen Haar schlenderte herein.
„Hey Jim, das da ist diese Sängerin Linda Ronstadt, die in der Hart Street lebt.“
„Yeah. Wie heißt denn ihre Gruppe?“
„The Stone Poneys.“
„Ich hasse Folkmusik, aber sie ist süß.“ Seine Augen fuhren wohlgefällig an ihr auf und ab.
Das Essen kam und wir schlangen es hinunter. Dabei debattierten wir mit vollem Mund zwischen Bissen von unserem billigen Steak über die örtliche Musikszene. Meine Augen huschten im Raum umher, während Jim sprach. Es fiel schwer, bei all dem Gerede der Stammgäste und Studenten um uns herum ihm zuzuhören.
Eine halbe Stunde später brüllte Olivia: „Schluss für heute mittag!“ Sie trug ihre übliche bedruckte Schürze über einem durchgehenden Kleid und hinkte mit ihrem rechten Bein leicht nach. Sie hatte eine warmherzige Ausstrahlung, aber die große schwarzhäutige Frau, deren Name ein Synonym für das Wort „Soul“ war, warf selbst Stammgäste bei Geschäftsschluss hinaus und verfrachtete alle, die noch zögerten, eigenhändig nach draußen. Der Verlust von ein paar Dollar mehr machte ihr nichts aus, wenn sie nur ihre Ruhepause bekam, obwohl sie es liebte, für ihre Gäste zu kochen.
Ihr Restaurant existiert schon lange nicht mehr, aber die Legende lebt in Jims Worten weiter:
Well, the clock says it’s time to close, now
I know I have to go, now
But I’d really like to stay here, all night
Let me sleep all night in your soul kitchen
Warm my mind near your gentle stove
Turn me out and I wander, baby
Stumblin’ in the neon grove
(Nun, die Uhr sagt, es ist jetzt Zeit zu schließen
Ich weiß, dass ich jetzt gehen muss
Aber ich würde gern die ganze Nacht hierbleiben
Lass mich die ganze Nacht in deiner Seelenküche schlafen
Meinen Geist an deinem gütigen Herd erwärmen
Wirf mich raus und ich irre umher, Baby
Stolpere in den Neonwald.)
„Lass uns heute abend ins Venice West Cafe gehen“, schlug Morrison vor, als wir aufstanden, um das Lokal zu verlassen. Er nahm einen letzten tiefen Schluck von seinem Carta Blanca und ich starrte aus dem Fenster auf einige vorbeigehende Mädchen.
„Klar“, sagte ich, in Gedanken an die Mädchen da draußen vertieft, „da bin ich noch nie gewesen.“ Als kein Girl mehr zu sehen war, fuhr ich fort: „Werden dort noch immer Gedichte vorgetragen?“
„Ich weiß nicht, aber das kriegen wir raus.“
An einem der ersten Julitage war ich wieder mit Jim zusammen und fuhr ihn in Venice mit meinem Singer Gazelle herum, einem europäischen Wagen, den ich gegen den Ford eingetauscht hatte. Das Auto sah genauso aus wie ein Hillman Minx und hatte zudem noch ein wesentlich besseres Benzin-Kilometer-Verhältnis. Da Benzin nur 35 Cents pro Gallone kostete, kam ich mit Benzin im Wert von einem Dollar durch die ganze Stadt. Mein Dad kam mit mir zum Autohändler, weil ich noch nie zuvor einen Wagen mit Schaltgetriebe gefahren hatte. Nachdem ich es geschafft hatte, aus dem Gebrauchtwagenplatz herauszuruckeln, fragte Dad nochmals, ob ich ihn nicht besser fahren lassen wollte.
Ich kratzte 29 Dollar zusammen und ließ den Wagen bei Earl Scheib nach dem Stones-Song „Paint It Black“ schwarz spritzen. Die Arbeit wurde so nachlässig ausgeführt, dass sie sogar die Reifen schwarz besprühten, aber mir gefiel das Blitzen des Hochglanzes sehr.
Jim besaß kein Auto, aber er hatte einige interessante Freunde. Sie waren alle ein oder zwei Jahre älter und ich bewunderte sie. Wir besuchten Felix Venables Haus bei den Kanälen, einer etwas schäbigeren Ausgabe von Venedig, die ihre besten Tage in den 20er Jahren gesehen hatte, inklusive herumwatschelnder Enten. Heute watscheln immer noch Enten dort herum. Felix sah wie ein gealterter Surfer aus, der zuviel Zeit in Mexiko verbracht hatte, aber er war sehr freundlich, liebte es zu feiern und lebte mit einer Frau zusammen, die mich sehr antörnte. Sie war älter als ich – hübsches Gesicht und gute Figur.
Einige Stunden später schauten wir bei Dennis Jacobs rein, einem weiteren Filmstudenten. Dennis lebte in einem Dachappartement in der Brooks Street, einen halben Block vom Ozean entfernt. Sein Lieblingsthema war der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche. Ich nahm mir eines von Nietzsches Büchern, „Die Geburt der Tragödie“, und las einige Absätze, während Jim und Dennis miteinander redeten. Ich konnte nicht begreifen, warum irgendjemand so ein zweideutiges Geschwätz in Buchform überhaupt liest. Dennis schien verrückt zu sein, aber seine Lust am Leben war ansteckend.
Äußerlich gesehen war Jim ein relativ normaler Collegestudent. Er war von einer unbestimmbaren Aggressivität gegenüber dem Leben und den Frauen erfüllt. Er wollte auch unbedingt über alles Bescheid wissen, was mit Konzerten und Plattenaufnahmen für unsere Band zu tun hatte.
Nach einigen Stunden mit ihm, wobei er einen Joint nach dem anderen rauchte und die Philosophie kritisierte, kam seine andere Seite zum Vorschein. Manchmal war ich ziemlich erschrocken und fragte mich, gottverdammt, wie weit will dieser Typ es eigentlich noch treiben? Morrison kannte eine Seite des Lebens, von der ich keine Ahnung hatte. Seine Neugier war unersättlich und Bücher verschlang er förmlich. Ich kapierte nicht einmal die Hälfte von den Dingen, auf die er sich bezog, aber die Leidenschaft, mit der er sie vortrug, war mir immer bewusst.
„John, hast du jemals darüber nachgedacht, was eigentlich auf der anderen Seite ist?“ fragte er dann mit einem eigenartigen Glimmern in den Augen.
„Was genau meinst du mit ‚andere Seite‘?“
„Weißt du … die Leere, den Abgrund.“
„Klar, ich hab’ drüber nachgedacht, aber nicht oft.“ Ich lachte verlegen, um die gespannte Stimmung zu entschärfen.
Dann vertiefte er sich wieder in einen düsteren Monolog, zitierte Dichter wie Rimbaud und Blake.
„Der Weg des Exzesses führt zum Palast der Weisheit“, wiederholte er immer und immer wieder.
Das Zusammentreffen mit Jim war der Tod meiner Unschuld. Glücklicherweise gab es die Musik als stabilisierenden Faktor für uns. Ich behaupte, dass er meine Fähigkeiten als Musiker anerkannte, so wie ich seine Intelligenz bewunderte.
„Was meintest du neulich abends mit dem Satz, dass der Gitarrist draußen spiele?“, fragte er mich, als wir eines Abends in Richtung Hollywood fuhren.
„Er war so weit von der Akkordstruktur entfernt, dass er gerade noch eben hineinpasste. Mit anderen Worten: er spielte wirklich frei. Man will so weit außerhalb des Laufs spielen, dass es sich wirklich losgelöst anhört, aber auch nicht zu weit, sonst klingt es, als hätte man seine Akkordwechsel verpasst. Man tänzelt in etwa nur wenig über die Bandbreite hinaus. Wie Coltrane und Miles. Sie haben ein Recht darauf, weit über das Maß hinauszugehen, weil sie es sich verdient haben. Schließlich haben sie einige wundervolle Mainstream-Platten gemacht.“ Jim tat so, als hätte er es kapiert. Als ich dann über Coltranes Platten sprach und sie als „Klangschichten des Unterbewussten“ bezeichnete, hörte Jim aufmerksam zu und zog Parallelen zur Literatur.
„Ja, genau. Wie Rimbaud und die ‚Unordnung der Sinne‘! Hey, bringst du mich heute abend zum Trip? Allen Ginsberg soll da aufkreuzen.“ „Einverstanden. Weißt du … falls Jazz und Poesie zusammenkommen sollen … sind’s vermutlich wir!“
„Wetten?“ fiel Jim mir ins Wort.
„Was?“
Jim fischte einen Quarter aus der Tasche, schnippte ihn in die Luft und ließ ihn in den Mund fallen.
„Hast du den verschluckt?“
„Japp!“
„Du bist bescheuert.“
„Japp. Huhu!”