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Der Aufschrei des Herzens
Ja, es hatte geregnet, aber vom bevorstehenden Hagel ahnten wir nichts.
Das Wetter spielte einfach verrückt. Zehn Meilen vor uns schüttete einer dieser überraschenden Wolkenbrüche (hier im Westen der USA typisch!) tausend eisige Golfbälle auf den Highway 395. Wir befanden uns nach einem Angeltrip auf dem Rückweg von Bridgeport nach Hause und wollten ein bisschen Zeit aufholen. Mein Freund Frank saß am Steuer und drückte ordentlich auf die Tube seines 81er Ford E – einem alten Schlitten, wie Kirchengemeinden oder Kidnapper sie gern fahren.
Als wir um eine Kurve bogen, war der Hagel plötzlich da. Wir fuhren zu schnell, um noch reagieren zu können. „Aaahh … was ist denn dieses weiße Zeug da vorn? … Hagel etwa?“ Aber da begannen wir uns schon um die eigene Achse zu drehen, elegant wie ein Eiskunstläufer. Dann schlitterten wir über die großen Eismurmeln auf die Gegenfahrbahn und schließlich in den Entwässerungsgraben auf der anderen Seite. Ein Bild, wie es die Nilpferdballerinas aus Fantasia abgeben – Giganten, die in elegantem Schwung der Katastrophe entgegenwirbeln. Und Sie haben jetzt länger gebraucht, um meine Schilderung zu lesen, als die ganze Sache gedauert hat.
Ich stemmte die Hände aufs Armaturenbrett, um mich gegen den bevorstehenden Aufprall zu wappnen, und betete das Einzige, was ich in dem Moment beten konnte und musste: „Jesus!“
Dann hingen wir schon kopfüber in den Sitzen (Sicherheitsgurte funktionieren tatsächlich), Öl tropfte durch Löcher im Armaturenbrett, die Scheibenwischer quietschten rhythmisch auf der Windschutzscheibe. (Wer denkt schon daran, den Scheibenwischer auszumachen, wenn er sich gerade mit dem Wagen überschlagen hat?) Franks und mein benommenes Schweigen löste sich in spontanem Gelächter, in dem sich eine alberne, schwindlige Erleichterung Luft machte, die dem Beinahe-Frontalzusammenstoß folgt.
Manche Gebete sprechen sich wie von selbst; sie sind ein „Schrei aus tiefstem Herzen“. Für Gebete dieser Art braucht man kein Training. Tausende solcher Herzensschreie zu Gott habe ich schon ausgestoßen; ich bin sicher, Sie auch. Zum Beispiel, wenn das Telefon klingelt und die Nachricht alles andere als gut ist und Ihnen nichts anderes mehr einfällt, als zu stammeln: „Vater … Vater … Vater“ – und darin der ganze Aufschrei Ihres Herzens liegt. Das sind ganz wunderbare Gebete, sie kommen aus tiefster Seele, oft ganz unwillkürlich, und sie sind in Gottes liebenden Ohren immer willkommen. Die Psalmen sind voller Beispiele für diese Art von Gebet aus spontanem Gefühlsüberschwang:
Mit lauter Stimme rufe ich zu Gott,
ja, ich schreie zu ihm!
Mit lauter Stimme rufe ich,
damit er mir ein offenes Ohr schenkt (Psalm 77,2).
Höre, o Gott, mein lautes Flehen, achte auf mein Gebet!
Aus weiter Ferne, wie vom Ende der Erde, rufe ich zu dir,
denn mein Herz ist mutlos geworden.
Ach führe mich doch auf jenen Felsen,
der für mich zu hoch ist!
Denn du bist für mich zu einer Zuflucht geworden,
zum starken Turm, der mich schützt vor dem Feind (Psalm 61,2-4).
Wie lange noch, Herr, willst du mich vergessen? Etwa für immer?
Wie lange noch willst du dich vor mir verbergen?
Wie lange noch muss ich unter tiefer Traurigkeit leiden
und den ganzen Tag Kummer in meinem Herzen tragen?
Wie lange noch darf mein Feind auf mich herabsehen? (Psalm 13,2-3).
Schwingt da nicht tief innen etwas in uns mit, wenn wir diese Worte der Psalmdichter lesen? Unsere Seele antwortet Ja. Das ist uns vertraut. Das sind Worte, die uns aus der Seele sprechen. Worte wie „Kummer“ und „mein Herz ist mutlos“ und „Zuflucht“ spielen wie ein Geigenbogen auf den Saiten unseres Herzens. Oder auch: „Wie lange …?“ Da entringt sich mir unwillkürlich ein tiefer Seufzer, von dem ich nicht wusste, dass er in mir steckt; mir war gar nicht bewusst, dass ich den Atem angehalten hatte. „Wie lange?“ – auf diese Worte stößt man oft in den Psalmen. Sie entsprechen der menschlichen Situation nur allzu sehr.
Wenn ich ehrlich sein soll: Die Aufrichtigkeit dieser Gebete ist für mich einer der stärksten Beweise für die Wahrheit der biblischen Botschaft. Sehen Sie: Wenn jemand versuchen wollte, eine neue Religion zu begründen und die Welt von der Wahrheit seiner Sache überzeugen müsste, er würde wohl kaum so unverblümt reden, wie die Bibel es tut. Hier wird nichts für die Öffentlichkeit geschönt. Und das ist ein großes Geschenk für uns; es gibt uns die Erlaubnis, Gefühle zu haben, und alle dürfen wir zu Gott bringen: „Schüttet ihm euer Herz aus! Gott ist unsere Zuflucht“ (Psalm 62,9).
Der Aufschrei des Herzens erfolgt unwillkürlich, wenn wir ihn zulassen. Gebete dieser Art finde ich in mir, wenn ich morgens aufwache. „O Gott, komm mir zu Hilfe. Hilf mir heute, Herr.“ Manchmal ist es nur ein einziges Wort, das mein Herz wiederholt: Jesus, Jesus, Jesus. Wenn wir es zulassen, strömt dieses unwillkürliche Gebet aus uns heraus. Stellen wir also den Zensor ab; lassen wir unser Herz und unsere Seele sprechen. Die Psalmen Davids sprechen eine solche unredigierte, unzensierte Sprache. Und welche Bandbreite an Emotionen sich da findet! In einem Moment jubelt er: „Dich, Herr, liebe ich von Herzen!“, und im nächsten kommt schon: „Warum hast du mich verlassen?“
Dich, Herr, will ich loben von ganzem Herzen,
von all deinen Wundern will ich erzählen.
Über dich will ich mich freuen und jubeln,
zur Ehre deines Namens ein Lied singen, du Höchster! (Psalm 9,2-3).
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber keine Rettung ist in Sicht,
ich rufe, aber jede Hilfe ist weit entfernt! (Psalm 22,2).
Man fragt sich fast, ob hier ein und dieselbe Person spricht; ich ertappe mich dabei, dass ich einen Seitenblick auf den Anfang werfe, ob es tatsächlich immer noch David ist, der hier spricht. Ja, er ist es. Gerade noch sprudeln Freude, Jubel und Überschwang nur so aus ihm heraus; im nächsten Moment hören wir eine Klage aus tiefster Verzweiflung:
Tiefe Freude hast du mir gegeben.
Sie ist viel größer als die Freude derer,
die Korn und Wein im Überfluss geerntet haben! (Psalm 4,8).
Herr, … ich bin kraftlos wie ein welkes Blatt.
Heile mich, denn der Schreck sitzt mir in allen Gliedern.
Ich habe allen Mut verloren.
Und du, Herr, wie lange willst du dir das noch ansehen? (Psalm 6,3-4).
Heute besingt er die großen Taten Gottes; morgen verfasst er Klagelieder voller Kummer und Herzeleid:
Wie kostbar, o Gott, ist deine Gnade!
Menschen suchen Zuflucht im Schatten deiner Flügel.
Sie dürfen den Reichtum deines Hauses genießen,
und aus einem Strom der Freude gibst du ihnen zu trinken (Psalm 36,8-9).
Mein Herz bebt, Todesangst überfällt mich.
Furcht und Zittern setzt mir zu,
das Grauen droht mich zu ersticken (Psalm 55,5-6).
Davids anschauliches Bekenntnis seiner Schuld und der verheerenden Auswirkungen der Sünde gehört zu den ergreifendsten Texten der Weltliteratur:
Weil du zornig auf mich bist,
gibt es keine heile Stelle mehr an meinem Körper.
Wegen meiner Sünden ist nichts mehr an mir gesund.
Meine Schuld ist mir über den Kopf gewachsen,
sie ist eine drückende Last, zu schwer für mich zu tragen.
Meine Wunden eitern und verbreiten einen üblen Geruch –
dass es dahin kam, war meine eigene Torheit.
Ich bin gekrümmt und gebeugt,
in düsterer Trauer schleppe ich mich durch den Tag.
In meinen Hüften brennt der Schmerz,
keine heile Stelle gibt es mehr an mir.
Ich bin zerschlagen, am Ende meiner Kräfte.
Oft lässt die Qual meines Herzens mich nur noch schreien.
Herr, du weißt, wonach ich mich sehne,
mein Seufzen bleibt dir nicht verborgen.
Mein Herz pocht, meine Kraft hat mich verlassen,
mein Augenlicht ist fast erloschen (Psalm 38,4-11).
Aber auch diese Demut und Zerknirschtheit sind nicht von Dauer; schon bald beschwört er Gott, den Untergang seiner Feinde zu bewerkstelligen:
Wenn Gott Vergeltung übt,
wird sich jeder freuen,
der nach Gottes Willen lebt.
Ja, er wird seine Füße baden
im Blut dieser gottlosen Verbrecher! (Psalm 58,11).
Starker Tobak. David lässt sich offensichtlich nicht davon einschüchtern, dass die ganze Welt seine geistlichen Tagebücher lesen wird; er versteckt sich nicht. Er segelt ganz unbekümmert über die sieben Weltmeere der menschlichen Gefühle – und das in seinem Gebet. In den meisten Gemeinden würde man das wohl kaum durchgehen lassen. Der Mann scheint unausgeglichen, unzuverlässig, instabil; jeder normale Kirchenvorstand würde ihm einen Besuch beim Therapeuten empfehlen.
Aber erinnern wir uns: Die Bibel nennt David einen „Mann nach Gottes Herzen“. Gott war es, der ihn zum König salben ließ; Gott sorgte dafür, dass seine Gebete in der Heiligen Schrift überliefert wurden. Diese Psalmen sind der Kirche gegeben, damit sie unser Gebetbuch sind, unsere Fibel des Betens – und sie sind wunderschön. Sie versichern uns nicht nur, dass Gott sehr wohl in der Lage ist, mit der ganzen Bandbreite unserer Emotionen zurechtzukommen; nein, Gott lädt uns durch diese Texte geradezu dazu ein, ihm das alles zu bringen.
Es gab noch jemanden, der diese Lektion sehr gut gelernt hat; ein Mann aus der davidischen Linie, der seine Gebetsfibel offensichtlich gründlich studiert hat. Die ungezügelte Kraft der Psalmen klingt uns auch aus den Gebeten von Jesus entgegen. So beschreibt eine versteckte Bemerkung im Hebräerbrief, wie Jesus betet: „Als Christus hier auf der Erde war – ein Mensch von Fleisch und Blut –, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen gebetet und zu dem gefleht, der ihn aus der Gewalt des Todes befreien konnte“ (Hebräer 5,7).
„Mit lautem Schreien und unter Tränen“. Wenn ich bete, klingt es anders; lautes Schreien vermeide ich und Tränen fließen auch nur höchst selten. Aber hier haben wir Jesus – den besten Menschen, den es je gab, „menschlicher als die Menschheit“, wie G. K. Chesterton gesagt hat.8 Und so hat er gebetet. Ich glaube nicht, dass Gethsemane die einzige Gelegenheit war, bei der die Jünger miterlebt haben, dass er so gebetet hat. Wir haben auch den Bericht über Jesus am Grab des Lazarus. Aber natürlich denken wir zuerst an den Ölgarten und das nächtliche Gebet, das Jesus dort an seinen Vater richtet:
Jesus kam nun mit seinen Jüngern an eine Stelle am Ölberg, die Getsemane genannt wird. Dort sagte er zu ihnen: „Setzt euch hier und wartet! Ich gehe noch ein Stück weiter, um zu beten.“ Petrus jedoch und die beiden Söhne des Zebedäus nahm er mit. Traurigkeit und Angst wollten ihn überwältigen, und er sagte zu ihnen: „Meine Seele ist zu Tode betrübt. Bleibt hier und wacht mit mir!“
Er selbst ging noch ein paar Schritte weiter, warf sich zu Boden, mit dem Gesicht zur Erde, und betete: „Mein Vater, wenn es möglich ist, lass diesen bitteren Kelch an mir vorübergehen! Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ …
Der Kampf wurde so heftig, und Jesus betete mit solcher Anspannung, dass sein Schweiß wie Blut auf die Erde tropfte (Matthäus 26,36-39; Lukas 22,44).
Es ist mir fast peinlich, wie „formell“ mein Gebetsleben dagegen geworden ist, wie vorsichtig. Wenn ich die Psalmen lese oder Jesus anschaue, wird mir klar: Ich erlaube mir gar nicht, wirklich alle meine emotionalen Höhen und Tiefen im Gebet vor Gott auszubreiten – als müsse ich Gott vielleicht vor den enormen Abgründen meiner Gefühlswellen in Schutz nehmen. Aber auch in meinem Leben gab es Zeiten, in denen meine Gebete eher so klangen wie die von David oder von Jesus.
Ein sehr guter Freund von mir kam bei einem Unfall ums Leben. In der folgenden Zeit waren meine Gebete nicht vorsichtig, zurückhaltend. Einmal habe ich ein Loch in die Küchenwand getreten, während ich betete. Aus Sorge, das ganze Haus würde einfallen, wenn ich weitermachte, habe ich mir einen Baseballschläger aus der Garage geholt und beim Beten auf einen großen Plastikmülleimer eingedroschen: „Was denkst du dir dabei?“ Ich habe geschrien, die Tränen flossen in Strömen. „Wie konntest du das zulassen?“ (Bei geschlossener Tür, wohlgemerkt, um die Nachbarn nicht zu alarmieren.) Es waren ohne Zweifel die ehrlichsten Gebete meines Lebens.
E. M. Bounds, der legendäre Gebetskämpfer aus dem 19. Jahrhundert, schrieb: „Der ganze Mensch muss beten. Der ganze Mensch – Leben, Herz, Temperament, Geist, alles betet mit … es braucht wirklich das ganze Herz, wenn man wirksam beten will.“9 In jenen Gebeten in der Garage steckte wirklich „der ganze Mensch“. Sie waren der Aufschrei meines Herzens.
Aber im Lauf der Jahre wurde mein Gebetsstil lascher. Ich wurde … ja was? Ehrfurchtsvoller? Vorsichtiger? Es scheint mir fast albern, das hier zu schreiben, aber ich betete nicht mehr laut und ungestüm und auch nicht mehr tränenreich. Aber dann wurde mir klar: Wenn Gott mit Davids Gefühlsausbrüchen zurechtgekommen war, konnte er es mit meinen wohl auch. (Unter uns, ich glaube, viele von uns denken, sie sollten besser das meiste von dem verstecken, was wirklich in ihnen los ist, wenn sie zu Gott kommen. So wie Kinder, wenn die Mutter ruft, versuchen, den Unfug zu vertuschen, den sie angestellt haben, auch wenn Mama schon längst die zerrissenen Hosen gesehen hat. Als ob Gott nicht schon längst wüsste …)
Also fing ich an, wieder unzensiert zu beten, meine Worte einfach aus dem Herzen kommen zu lassen. Und das war ein wirklich guter Schritt. Nicht nur deswegen, weil ich mich wieder sehr viel mehr mit Gott verbunden fühlte, von Herz zu Herz, sozusagen, sondern auch, weil meine Gebete eine neue Vollmacht hatten. Die Väter nannten so etwas „Salbung“; das Wort bedeutet so viel wie Vehemenz, Wucht, Durchschlagskraft, Schmackes. Diese Gebete hatten Schmackes.
Jetzt muss ich aber rasch noch eines hinzufügen: Der Aufschrei des Herzens muss durchaus nicht nur aus Verzweiflung und Kummer erwachsen. Nein, Sorgen und Probleme sind nicht der Hauptanlass für diese Art des Betens. Freude und Jubel können ebenfalls lautstarken Ausdruck finden:
Ihr Völker auf der ganzen Welt, klatscht in die Hände!
Lobt Gott und lasst euren Jubel laut hören! (Psalm 47,2).
Jubel soll über meine Lippen kommen,
wenn ich ein Lied für dich anstimme.
Auch meine Seele, die du erlöst hast, jubelt dir zu (Psalm 71,23).
Kommt, lasst uns dem Herrn zujubeln,
ihm laut unsere Freude zeigen,
dem Fels, bei dem wir Rettung finden (Psalm 95,1).
In vielen Psalmen finden wir den Aufruf, einen „fröhlichen Lärm“ für Gott zu machen, mit „Jubelschall“ seinen Ruhm zu verkünden. Klingen Ihre Gebete danach? Wir dürfen ruhig ein wenig lautstark sein; es bringt uns dem Beten von Jesus näher.
Vielleicht beten Sie ja bereits so – etwa, wenn plötzlich eine wirklich gute Nachricht eintrifft; wenn die gefürchtete Diagnose sich nicht bestätigt; wenn der Karrieresprung gelungen ist; wenn Sie eine Skipiste hinuntersausen, ihr Segelboot durch die Wellen gleitet oder Sie auf der Achterbahn auf Talfahrt gehen. Yippie! Ein Juchzer. Ihnen war nur noch nicht klar, dass der Gott galt. Aber auch das war ein Aufschrei des Herzens und Gott freut das. Ich bin mir sicher: Gott samt all seinen Engeln stimmen aus vollem Herzen ein.
Seit Stacy und ich die vorsichtigen, gemäßigten Gebete einer gesitteten Gemeinde hinter uns gelassen haben, ist die Dezibelzahl, die aus unserem Haus dringt, wenn wir worshippen, in den letzten Jahren beständig gestiegen. Beim Lobpreis drehen wir voll auf; und spontane Juchhus, Begeisterungsrufe und Hallelujas sind an der Tagesordnung. (Die Nachbarn müssen denken, wir sind übergeschnappt.)
Den Aufschrei des Herzens kann man nicht „organisieren“, man muss ihn nicht üben, nicht einmal lernen. Er braucht keine religiöse Sprache. Man muss nicht knien, nicht die Augen schließen (und das ist sehr gut so, denn ich bete meistens im Auto oder wenn ich in der Natur unterwegs bin). Nichts an diesem Gebet muss korrekt sein; im Gegenteil: Tun Sie besser alles, was Sie können, um das Formale und Korrekte hinter sich zu lassen.
Alles, was Sie tun müssen, ist: es zulassen. Dieses Gebet steckt bereits in Ihrem tiefsten Herzen.
Und jetzt noch ein warnendes Wort: Seien wir wachsam, dass unser Herzensaufschrei – besonders, wenn er aus großer Not heraus erfolgt – sich nicht unbemerkt in einen Pakt mit Verzweiflung oder Verlassenheit verwandelt, indem wir den Lügen zustimmen, die der Feind uns einflüstert. „Vater, ich fühle mich verlassen“ darf nicht zur Überzeugung werden: „Ja, ich bin verlassen.“ Es erleichtert unser Herz, wenn wir unserem Kummer Luft machen; aber in diesen postmodernen Zeiten, wo das Nebenmotiv von Leid und Trostlosigkeit anscheinend unsere Hauptmelodie geworden ist, setzen wir uns allzu schnell auf der Insel der Verzweifelten fest und nennen das dann „Authentizität“. Die Gefühle sind da, ohne Frage, und sie sind wichtig. Aber Gefühle sind kein sicherer Hafen für unsere Seele. Gerade in Zeiten voller Leid und Sorgen ist der Feind immer auf dem Plan und versucht uns dazu zu bringen, dass wir seinen Lügen zustimmen: Du bist verlassen.
Das Kind, das im Dunkeln weint, fühlt sich gleich besser, wenn die Mutter kommt und das Licht anschaltet. Was sich eben noch so real und unentrinnbar anfühlte, löst sich auf. Nehmen wir unsere Verletzungen, unseren Schmerz ernst, ja, aber nicht auf eine Weise, die verhindert, dass Gott das Licht anschalten und uns in seine Nähe ziehen kann. Sehen wir uns an, wie David die aufgewühlte See seiner eigenen Seele beschwichtigt:
Tränen sind meine einzige Speise Tag und Nacht.
Ständig fragt man mich: „Wo ist denn nun dein Gott?“
Ich erinnere mich an frühere Zeiten,
lasse meinen Gedanken und Gefühlen freien Lauf:
Wie schön war es doch,
als ich mein Volk zu Gottes Heiligtum führte,
begleitet von Jubel und Dank,
im feierlichen Festzug mit vielen Menschen!
Warum bist du so bedrückt, meine Seele?
Warum stöhnst du so verzweifelt?
Warte nur zuversichtlich auf Gott!
Denn ganz gewiss werde ich ihm noch dafür danken,
dass er mir sein Angesicht wieder zuwendet und mir hilft (Psalm 42,4-6).
David spricht aus, wie es ihm geht; er schüttet sein ganzes Herz ehrlich und rückhaltlos aus; aber er erlaubt sich nicht, in seinem Kummer zu ertrinken. Beeindruckt es Sie nicht auch, wie David seiner Seele zuredet („Warum bist du so bedrückt, meine Seele?“)? Das hilft mir, mich etwas normaler zu fühlen, wenn ich Selbstgespräche führe. David erinnert seine eigene Seele, dass die Situation nicht immer so hoffnungslos war wie gerade jetzt – und ist das nicht genau der Punkt, an dem wir in Gefahr stehen, den fatalen Schritt in die falsche Richtung zu tun? Wenn wir im Dunkeln sitzen, haben wir sehr schnell das Gefühl, dass wir da schon immer waren. Aber das ist nicht wahr! David erinnert sich selbst daran, dass er in der Vergangenheit Gottes zuverlässige Hilfe erfahren hat. Gott wird auch diesmal verlässlich zu ihm stehen. Der Psalmbeter drängt sich geradezu selbst dazu, seine Hoffnung auf Gott zu setzen, denn der Morgen wird kommen.
Der Aufschrei des Herzens ist eine wunderbare und kostbare Weise zu beten. Aber sie birgt eine Gefahr (so wie Liebe und Freundschaft auch Gefahren bergen): Ehrlich und offen auszusprechen, wie uns zumute ist, kann sich in einen Strudel verwandeln, der uns verschlingt. Ich möchte verhindern, dass Sie Lügen zustimmen, wenn Sie vor Gott die ganze Bandbreite ihrer emotionalen Seite zur Sprache bringen. „Ich fühle mich verlassen!“ ist etwas ganz, ganz anderes als: „Ich bin wirklich verlassen!“ – „Ich fühle mich am Ende“ ist nicht dasselbe wie „Ich bin am Ende“.
David verhindert, dass seine Seele Schiffbruch erleidet: Er lenkt seine Aufmerksamkeit von den Trümmern in seinem Leben in eine viel heilsamere Richtung. Er lenkt seinen Blick auf Gott.
Ich habe gesagt, die Psalmen sind unsere Fibel, was das Gebet betrifft. Und genau so meine ich es auch: Mit einer Fibel beginnt man – man lernt das Alphabet und dann gibt es noch sehr viel mehr zu lernen. Es gibt weit wirksamere Weisen zu beten. Wir leben an einem ganz anderen Punkt der Geschichte als David und seine Zeitgenossen; seit die Psalmen gedichtet wurden, hat sich die Welt gewaltig verändert. Die Inkarnation hat sich ereignet – Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt. Das Kreuz ist Realität geworden, ebenso die Auferstehung. Gigantische Kräfte haben Himmel und Erde erschüttert und diese Ereignisse stellen uns und unser Beten in ein völlig anderes Umfeld.
Der Aufschrei des Herzens ist eine Form des Gebets, eine wunderschöne Art zu beten. Aber es gibt andere, weitaus zielgerichtetere Arten zu beten. Da greifen wir zu Schwert und Schild und beginnen den Lauf der Ereignisse zu verändern – durch kraftvolles, entschlossenes Gebet um göttliches Eingreifen, das Gebet der Intervention. Ein Gebet, das Waldbrände zum Stehen bringt, das Dürren beendet und den Regen herbeizwingt. Sehen wir uns an, was es damit auf sich hat.