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eins Ins kalte Wasser

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Plötzlich erkannte er, dass er die Welt entweder mit den Augen eines armen, beraubten Opfers sehen konnte oder aber als Abenteurer auf der Suche nach einem Schatz.

Paulo Coelho, Der Alchimist1

Es fällt mir echt schwer zu erzählen, wie lächerlich mein erster Job war.

Ich war zweiundzwanzig und die Tinte auf meinem Diplomzeugnis (von einer renommierten Uni) war noch nicht getrocknet, da stieg ich in die Welt der Erwerbstätigen ein als … Botenjunge. Ohne Witz! Der Job war wirklich nicht besonders anspruchsvoll. Um ehrlich zu sein hat mich die geisttötende Banalität meiner Arbeit ziemlich deprimiert. Und damit ihr euch ein Bild davon machen könnt, hier meine übliche Besorgungsliste für die (äußerst) wohlhabende Familie, die mich bezahlte:

 eine Kiste Cola light

 drei Kisten Mineralwasser

 zwölf Dosen Katzenfutter, ausgenommen die Geschmacksrichtungen Garnele und Leber (Ihre Katze, Taco, hatte mich bereits mehrfach zurückgeschickt, um diese Sorten umzutauschen. Überhaupt: Wer nennt seine Katze schon Taco?)

 zwei Kanister destilliertes Wasser

 griechischer Naturjoghurt

 Vollkorncracker

 Mittagessen von irgendeinem Schnellimbiss für die achtzehn Bediensteten (bitte dreimal prüfen, ob im Salat für Angie Sonnenblumenkerne sind und dass Lynns Smoothie nicht wieder fehlt; alle Dressings bitte extra)

 Pakete zur Post bringen und eine Kiste Wein bei einem Vorstandskollegen in der Stadt abliefern

Ich kam mir vor wie der letzte Trottel. Und während ich in der Stadt herumfuhr, mich durch die Radiosender zappte und mir die Stunden wie Ewigkeiten vorkamen, fragte ich mich manchmal: Was mache ich eigentlich gerade mit meinem Leben? Meine Freunde, die Wirtschaftsfächer studiert hatten, hatten Jobs bei Musikwerbeagenturen oder Wirtschaftsprüfungsunternehmen ergattert; einer arbeitete auch für eine neu gegründete Technologie-Firma. Ein Kommilitone, der wie ich Englisch studiert hatte, saß an der Rezeption eines mondänen Hotels. Aber wenn wir uns freitagabends um den Tisch in unserer Stammkneipe versammelten, war ich mir manchmal nicht mehr sicher, ob meine ehemaligen Mitstudenten wirklich mehr Erfolg hatten als ich. Auch von ihnen waren viele enttäuscht.

Die Wochenenden vergingen wie im Flug, und jeden Montag ging ich wieder meinem langweiligen Job nach, damit ich Miete und Lebensmittel bezahlen konnte. Woche für Woche für Woche. Ich fühlte mich wie im Hamsterrad, wie bei einer endlosen Prüfung im Wassertreten, um in den Pool der Erwachsenen aufgenommen zu werden.

Vielleicht sollte ich lieber von meinem zweiten Unijahr erzählen, von der guten alten Zeit, als die Vögel noch sangen, jeden Tag die Sonne schien und jeder ein Lachen auf den Lippen hatte. Oder von der Zeit, in der wir uns für ein Studienfach entscheiden mussten. Eine Entscheidung, die mich an den Berufsinformationstag an der Schule erinnerte: Jeder musste angeben, was er einmal werden wollte. Ich wählte Englische Literatur als Hauptfach, weil ich Geschichten liebe und gern kreativ bin und weil ich gern Schriftsteller werden will.

Noch immer nervt es mich, wie andere reagieren, wenn ich sage, dass ich Literatur studiert habe: „Oh“, bedauern sie mich, als hätte ich von einem Todesfall erzählt, und dann: „Was willst du denn damit anfangen?“ Am liebsten würde ich zurückschießen: „Jedenfalls nicht für den Rest meines Lebens in einem stinkigen Büro hocken, du Verräter!“ Aber jetzt, zwei Jahre später, bin ich nicht mehr ganz so fest davon überzeugt, dass ich die richtige Wahl getroffen habe. Und ich frage mich: Habe ich mit meinem Studium nur Zeit verschwendet? Was meinst du, Dad?

Der Diplombetriebswirt, der gestern Abend an meinem Tisch bediente, und der Architekt, der mich neulich im Taxi chauffiert hat, stellen sich genau dieselbe Frage. Und so wird es ernst mit der großen Schlacht um das eigene Herz; mit dem Kampf, ein Leben zu finden, das sich lohnt; mit dem Kampf darum, das eigene Herz nicht zu verraten, während man danach sucht, was dem Leben Sinn geben kann.

Atme also tief durch und tritt einen Schritt vom Abgrund zurück. Jeder Schritt ins Unbekannte fühlt sich anfangs an, als befände man sich im freien Fall. Ich kenne diese Gefühle auch. Das Studium oder die Ausbildung sind nur ein Durchgangsstadium. Aber wohin?

Wenn du deine Studienjahre richtig einordnen willst, stell dir ein paar einfache Fragen: Bist du nichts weiter als eine Arbeitskraft, ein Karrieretyp in einem endlosen Wirtschaftskreislauf? Oder bist du ein menschliches Wesen mit einem Herzen in der Brust, das dir sagt: Es gibt ein Leben voller Sinn und Bedeutung, und genau dafür wurdest du erschaffen? Denn weißt du, Sam, die Frage, wer wir sind und wozu wir hier sind, ist viel entscheidender als die Frage, wie man einen tollen Job an Land zieht und das große Geld macht. Du willst ja nicht in einem Leben enden, das du hasst.

Vor einiger Zeit habe ich einmal einen Zahnarzt beraten. Er war etwa Ende vierzig, erfolgreich, wohnte in einem schicken Haus, leistete sich exklusive Urlaube – und war depressiv. Nach langem Schweigen sagte er: „Als ich studiert habe, hatte ich keine Ahnung, was ich wollte; ich war noch ein anderer Mensch, als ich mich für dieses Leben entschied.“

Aber die Ansicht, dass man mit achtzehn eine klare Vorstellung davon haben sollte, wer man ist und was man für den Rest seines Lebens tun will, ist verrückt. In dem Alter hat man noch gar nicht richtig angefangen, über sein Leben nachzudenken. Man ist noch viel zu sehr in seine Familie und Kultur verstrickt, als dass man seine Welt klar sehen könnte. Es ist schon ein Erfolg, wenn man rechtzeitig aufwacht, um es zur ersten Vorlesung oder zum ersten Tag als Azubi zu schaffen. Auch noch daran zu denken, dass man seine Wäsche waschen muss, ist ein persönlicher Triumph.

In meinem ersten Jahr an der Uni kam ich mir vor wie in einem riesigen Ferienlager. Alle waren noch ganz benommen von dem Hochgefühl, überhaupt dort zu sein, und genossen das Abenteuer und die Freiheit der neuen Situation. Meistens kam es uns nicht so vor, als seien wir dort, um fleißig zu sein. Wir scherten uns nicht um Hausaufgaben, genossen den Strand, verbrachten halbe Nächte mit Partys und verrückten Spielen und flirteten mit den hübschen Mädels. Manche von uns fingen an zu rauchen, andere hatten eine Freundin nach der anderen. Wir dachten nur an eines: Wir waren frei. Frei von der Welt unserer Kindheit und Jugend, frei von den Regeln der Eltern. Frei von allem, was wir in der Schule gewesen waren und was wir dort angestellt hatten. Und wir hatten alle Zeit der Welt, um uns in unserer neuen Welt zurechtzufinden. Es herrschte wirklich eine ganz besondere Stimmung.

Und das ist okay. Erstsemester sind Erstsemester. Aber man darf von diesen Grünschnäbeln nicht verlangen, dass sie schon die Richtung ihres Lebens festlegen. Sie haben noch eine Welt voller Entdeckungen und ein paar unsanfte Landungen in der Wirklichkeit vor sich, bis es so weit ist. Jetzt beginnt erst einmal eine Zeit des Erkundens und der Verwandlung; es geht darum zu entdecken, wer wir sind, was wir lieben und wo unser Platz in der Welt wohl sein könnte. Unsere Träume und Sehnsüchte müssen erwachen, wachsen und reifen. Wir müssen erwachen, wachsen und reifen, damit wir fähig sind, gut mit unseren Träumen und Sehnsüchten umzugehen. Der junge Mann, der ich mit achtzehn war, war meilenweit entfernt von dem, der ich mit dreißig wurde, und Lichtjahre von dem entfernt, der ich heute mit dreiundfünfzig bin. Und das ist kein Grund, sich zu schämen. Es ist einfach der Lauf der Dinge, für jeden von uns. Wer hat sich ausgedacht, dass man an dem Tag, an dem man seinen Abschluss in der Hand hat, ein voll ausgereifter Erwachsener ist, der in ein wunderbares und vollständig entwickeltes Leben aufbricht? Das ist ebenso verrückt wie frustrierend.

Und es ist eine Lüge. Ich denke, es ist angemessener, wenn man sich die Studien- und Ausbildungszeit als Reise durch unerschlossenes Gebiet vorstellt, in dem es atemberaubende Schönheit ebenso gibt wie Gefahren – und wohl auch ein paar Sümpfe. Damit kommst du weiter, als wenn du eine klar definierte Schnellstraße erwartest: Studium, Arbeit, Leben, fertig.

Man kann auf zwei unterschiedliche Weisen an seine Zukunftsplanung herangehen. Plan A umfasst nichts als „Basteln am Lebenslauf“. Entscheide dich für ein Berufsfeld, dem du dein Leben widmen willst, absolviere die vorgeschriebene Ausbildung oder Kurse, die dich darauf vorbereiten, und klettere dann so rasch wie möglich die Karriereleiter hoch.

Ich verstehe durchaus, dass das seinen Reiz hat, denn es erscheint sinnvoll und verspricht Ergebnisse – zumindest auf dem Papier. Unis und Ausbilder werben gern mit den Karrierechancen ihrer Absolventen, und Eltern lieben diese Versprechen. Aber in Cafés arbeiten erschreckend viele enttäuschte BWLer. „Verfolge diesen Plan, und du erhältst jenes Leben.“ – Es kann einen ganz schön schockieren, wenn das nicht aufgeht. Es hinterlässt das Gefühl, verraten worden zu sein, wenn man sich auf diese Annahme verlassen hat. Und das gilt insbesondere in unserer unberechenbaren globalen Wirtschaft.

Plan A ignoriert einen entscheidenden Aspekt der Wirklichkeit: Einige Leute landen gar nicht in dem Berufsfeld, das sie studiert oder wofür sie eine Ausbildung gemacht haben. Selbst einer meiner Freunde, der Arzt ist, hat seine medizinische Laufbahn aufgegeben und arbeitet nun für eine gemeinnützige Organisation. Ich habe zunächst Schauspiel studiert und später Psychologie draufgesetzt. Mom hat Soziologie studiert. Heute sind wir Autoren. Das Leben folgt nicht immer einem sauberen, exakten und geradlinigen Pfad. Und vor allem: Menschen tun es nicht.

Ich lese gerade ein Buch, das mich begeistert: Ich schraube, also bin ich2. Der Autor, ein junger Mann, hat an der University of Chicago in politischer Philosophie promoviert, hatte dann einen Traumjob in der Geschäftsleitung eines Washingtoner Think Tanks, bis er feststellte, dass er permanent müde und erschöpft war. Nach sechs Monaten hat er gekündigt und sich seinen Traum erfüllt. Jetzt hat er ein Motorradgeschäft.

Die Zeiten haben sich geändert. Mein Vater gehörte noch zu der Generation, die ihren Abschluss machte, eine Stelle fand und dann ihr Leben lang bei einer Firma blieb. Aber heute übt deine Generation im Lauf ihres Lebens etwa neun unterschiedliche Berufe aus – nicht nur Jobs, sondern Berufe.

Das stimmt. Wir sind nicht unsere Großväter, und wir wollen es auch nicht sein. Für den Rest unseres Lebens an ein- und demselben Schreibtisch zu sitzen, hat für uns nicht den Reiz, den es für eine Generation hatte, die Kriege und schlimme Wirtschaftskrisen miterlebt hat. Aber wenn tatsächlich viele nie in dem Bereich arbeiten, in dem sie sich haben ausbilden lassen, dann spräche das auch gegen den Ansatz: „Mache das, was dich begeistert.“ Dann hieße das ja, man sei verurteilt, nie das zu tun, was einen begeistert.

Im Gegenteil. Du solltest das machen, was dich begeistert, weil du dich in diesem Gebiet entfalten kannst und das Beste aus dir herausholen wirst. Und weil Versprechen nach dem Motto: „Dieser Abschluss garantiert jene Karriere“ heute eine erkennbar kurze Halbwertszeit aufweisen. Und das bringt uns zu Plan B: Erkundung und Verwandlung.

Plan B geht davon aus, dass das Studium oder die Ausbildung am besten dazu genutzt werden, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und einen Menschen herauszubilden, der verschiedene berufliche Aufgaben bewältigen kann. Dieser Ansatz entspricht viel eher dem, was wir wirklich sind, und der Weise, wie wir funktionieren (was nahelegt, dass es der viel bessere Weg ist).

Ich verstehe schon, dass für bestimmte Berufe ein hohes Maß an Spezialisierung nötig ist. Neurochirurgen brauchen die entsprechenden medizinischen Vorbereitungskurse, und Biochemiker müssen die mathematischen Grundlagen beherrschen und sollten ihre Zeit nicht mit Plato oder Dickens verschwenden. Aber: Diese Chirurgen und Chemiker sind immer zuerst Menschen. Und welche beruflichen Chancen ihnen auch offenstehen mögen, ihre erste und wichtigste Aufgabe ist die, Menschen zu werden, denen man Macht und Einfluss anvertrauen kann. Medizinische Fakultäten haben das bereits vor längerer Zeit verstanden. Hier hat man erkannt, dass Ärzte nicht nur gute Kenntnisse von der menschlichen Anatomie brauchen, sondern auch ein echtes Verständnis für Menschen – vor allem für leidende Menschen. Wenn sie ihr eigenes Menschsein im Interesse einer steilen Karriere vernachlässigen, dann werden sie nicht die Ärzte sein, zu denen Menschen gern gehen.

Unsere erste und wichtigste Aufgabe besteht darin, unser Menschsein auszubilden, nicht nur unsere Arbeitskraft – und Menschen brauchen Sinn, um gut zu gedeihen.

Meine Generation hungert geradezu nach Sinn. Und zwar in allem. Man kann ja kaum noch etwas finden, was sich Unternehmen heute nicht auf die Fahnen schreiben, um das Bedürfnis nach Sinn zu befriedigen. Eine Schuhkette wirbt damit, dass sie für jedes gekaufte Paar Schuhe ein Paar an Bedürftige spendet. (Ich habe etliche Paare dort gekauft; nach kaum einem Monat stanken sie so, dass ich sie nicht mehr tragen konnte.) Jedes Café, das was auf sich hält, von den unbedeutendsten bis zu den Branchenriesen, weiß, dass die Leute heute fair gehandelten Kaffee wollen, keine Produkte aus Sklavenarbeit. Und die Kakaohersteller ebenfalls. Modeketten haben verstanden, dass sie Leute in die Läden ziehen, indem sie nicht mit Ausbeuterbetrieben zusammenarbeiten und hohe moralische Standards publik machen. Ich wünschte nur, mehr würden sich auch tatsächlich daran halten, was sie vorgeben. Die Leute bezahlen für „unblutige Diamanten“. Jetzt ist auch immer mehr ethisch vertretbare Ernährung auf dem Vormarsch, die sich für artgerechte Tierhaltung einsetzt oder ganz auf Tierisches verzichtet. Bald haben wir wohl jeden Zentimeter unseres Alltags abgedeckt. Das ist meine Generation.

Vor ein paar Jahren lasen wir Bücher über Hilfsorganisationen, den Kampf gegen moderne Sklaverei und die Schrecken moderner Massentierhaltung. Wir beschäftigten uns damit, was in unserer Welt falsch läuft und wie wir die Dinge ändern könnten. William Strauss und Neill Howe haben unsere Generation eine „Generation von Helden“ genannt.3 Wir wollen die Welt verändern. Umweltschutz, Hilfe für die Armen, Gerechtigkeit, was immer dir noch einfällt – das alles ist uns wichtig. Wir wollen eine Revolution anstoßen. Und wenn wir die nicht haben können, füllen wir unser Leben mit Kleinst-Revolutionen, die uns für einen Augenblick beleben wie ein Espresso. Und man hält uns jede Menge dieser Kleinrevolutionen vor Augen, als läge darin die Antwort für unsere tiefe Sehnsucht. Das ist oft nicht mehr als geschicktes Marketing; aber es spricht etwas sehr Echtes in uns an.

Du stehst jetzt am Beginn einer neuen Phase in deinem Leben als Mann: Du wirst zum Kämpfer. Die meisten Revolutionen der Geschichte sind von jungen Männern ausgegangen. Es steckt eine tiefe Leidenschaft in uns, Tyrannen zu stürzen, Unterdrückung zu beenden und für eine bessere Welt zu kämpfen. Wir wollen an etwas Großem beteiligt sein.

Und warum hat Gott unser Herz mit diesem Verlangen geschaffen? Ist es nicht faszinierend, dass es dir und vielen in deiner Generation ein Herzensanliegen ist, die Welt zu verändern? Soll dieser Wunsch in dir einfach absterben? Bloß nicht!

Ich weiß, dass die Älteren euch manchmal über ihre Lesebrille hinweg anschauen und etwas geringschätzig vom „Idealismus der Jugend“ murmeln und dass es an der Zeit wäre, sich mit der Wirklichkeit abzufinden. Aber das ist nicht meine Sicht der Dinge. Und ich glaube, es ist auch nicht Gottes Sicht. Dieser Rat kommt von Leuten, die ihr eigenes Herz und ihre Seele haben verkümmern lassen, um in der Welt voranzukommen. Im christlichen Glauben geht es ganz zentral um Revolution – ja, er ist eine einzige Revolution; und das ist der Grund, warum Gott junge Männer und junge Frauen mit dieser Leidenschaft begabt, die Welt zu verändern. Gott hat dir dieses Herzensanliegen eingepflanzt, damit du die Freude erfährst, sowohl an seiner Revolution beteiligt zu sein als auch deine ganz eigene Rolle darin zu entdecken.

Die Welt ist voll von Unrecht, das korrigiert werden muss. Wohin man auch guckt, sieht man, dass die Erde verwundet ist, Kinder missbraucht werden, die Sklaverei zunimmt und die Wahrheit selbst am Boden liegt. Dies ist eine Zeit für Revolutionen. Und zu den erstaunlichsten Aspekten des christlichen Glaubens gehört die Vorstellung, dass du in deine Zeit hineingeboren wurdest, um darin die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Was könnte uns mehr begeistern? Frederick Buechner war überzeugt: „Der Platz, an den Gott dich ruft, ist der Platz, an dem deine tiefste Freude und der tiefe Hunger der Welt zusammentreffen.“4 Was könnte uns mehr Hoffnung geben?

Eine der glücklichsten Phasen meines Lebens war die Zeit Anfang zwanzig. Deine Mutter und ich hatten direkt nach dem Uniabschluss eine Theatergruppe gegründet – nicht, weil wir vorhatten, Hollywoodstars zu werden und Maseratis zu fahren, sondern weil wir die Welt verändern wollten! Während der Olympischen Spiele 1984 machten wir in Los Angeles Straßentheater. Den Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz tauchten wir überall dort auf, wo wir Zuschauer anziehen konnten, um kurze, lebendige Szenen über Jesus, sein Leben und seine Bedeutung für uns aufzuführen. Wir waren begeistert.

Das ist richtig cool; genau das, was ich suche – und was auch alle meine Freunde suchen. Ihr konntet tatsächlich für etwas leben, das euch begeistert hat. Konntet ihr auch davon leben?

Das nicht gerade. Jedenfalls noch ein paar Jahre lang nicht. Ich habe als Hausmeister in unserer Gemeinde gearbeitet, und Mom hatte einen Job als Büroleiterin einer kleinen Technologiefirma. Ich verbrachte meine Tage mit Staubsagen, Toilettenputzen und Mülleimerleeren; sie steckte bis zum Hals in ausstehenden Rechnungen und Arbeitsverträgen.

Es ist wichtig, dass du dir dies klarmachst: Deine Leidenschaft, der Ort, der dir Sinn gibt – das, was in der Kirche früher deine „Berufung“ genannt wurde –, muss nicht unbedingt das sein, womit du dein Geld verdienst. Jesus war Zimmermann. Paulus nähte Zelte. Vielleicht kommt einmal die Zeit, in der du von dem, was dich begeistert, auch die Rechnungen bezahlen kannst. Dann wärst du der reichste Mann der Welt. Aber so viele Leute geben ihre Träume auf, weil sie diese beiden Dinge nicht auseinanderhalten. Sie überschlagen, welchen Marktwert ihre Leidenschaften wohl hätten – oder irgendein Lehrer malt ihnen vor Augen, wie unwahrscheinlich es ist, mit dem, was sie gern tun, einen Lebensunterhalt verdienen zu können –, und dann geben sie ihre Visionen auf für ein „vorhersehbareres“ Leben. Das sie am Ende verständlicherweise hassen. Dann entwickeln sie die verschiedensten Süchte und landen beim Therapeuten. Ich habe ja selbst als Therapeut mein Geld verdient und versucht, solchen Leuten aus ihrer Verzweiflung herauszuhelfen. Die Schlange vor meiner Tür riss nicht ab.

Du bist nicht nur eine „Arbeitskraft“, ein Angestellter, einer, der Karriere macht. Du bist ein Mensch mit Leidenschaften und Sehnsüchten. Und so hat dich Gott geschaffen. Du bist aber auch ein junger Mann, der noch in Gottes Werkstatt geformt wird und auf dem Weg dahin ist, ein echter Mann zu werden. Was immer sonst noch in einem Leben los sein mag, jeder junge Mann ist auf dem Weg dahin, ein Mann zu werden. Das ist die große Aufgabe, der tiefe Strom, die Arbeit, die viel wichtiger ist als eine Karriere – ob man nun in die Entwicklungshilfe geht oder einen Marketing-job in einer Großstadt bekommt. Du musst noch einige Löwen erlegen, um zu wissen, dass du ein Mann bist und dass Gott dir Träume anvertrauen kann, die auch wahr werden. Würde es die Dinge verändern, wenn du diese Zeit einfach als Training für dein Kämpferherz betrachtest?

Vielleicht ja. Aber meine Generation hört nicht gern etwas von Warten und Geduld. Gleich jetzt könnte ich von meinem Smartphone aus eine Überweisung machen, dabei die neuesten Schlagzeilen überfliegen, nach der Definition eines Begriffs suchen und ihn dann in jede beliebige Sprache übersetzen lassen (und mir auch noch per Knopfdruck die Aussprache anhören), einem Freund simsen und mir ein Video herunterladen. Alles in wenigen Sekunden. Und du verlangst, dass ich auf etwas warten soll? Wie viele Jahre soll das denn dauern?

Jetzt spricht das Kind in dir, der Junge. Der Junge hat die Dinge gern einfach, und er hat sie gern sofort. Es wird dich sehr voranbringen, wenn du lernst wahrzunehmen, wann der Junge in dir am Zug ist – nicht, um ihn fertigzumachen, sondern um dich bewusst für den Weg in Richtung Mannsein zu entscheiden. Ich liebe einen Satz aus dem Film Königreich der Himmel; Balian, der Schmied, hat ihn in die Balken seiner Werkstatt geschnitzt. Er lautet: „Ein Mann, der die Welt nicht besser macht – ist der ein Mann?“5 Das ist sein Leitwort, der Polarstern, der ihm die Richtung weist, während er sich damit abmüht, aus dem Jungen, der er war, einen Mann zu schmieden. Der Junge möchte spielen; er möchte, dass das Leben vor allem Erholung ist; der Mann strebt nach etwas Höherem, Größerem, und deswegen akzeptiert er diesen Umwandlungsprozess. Bei Dostojewski heißt das: „… fünf oder sechs Jahre der brausenden Jugend einem schwierigen Studium, den Wissenschaften, zu opfern, sei es auch nur, um die eigene Kraft zu verzehnfachen, um derselben Wahrheit, derselben heroischen Hingabe leben zu können, die man so lieb gewonnen hat und nach der man sich sehnt …“6 Das ist gewiss ein Opfer. Aber diese zehnfache Kraft ist es wert.

Wenn ich ganz ehrlich bin, dann ist es mir ein bisschen peinlich, wie die Leute in meinem Alter Arbeit verstehen – mich eingeschlossen. Im Geschichtsunterricht habe ich gehört, dass sich die jungen Männer vor der industriellen Revolution nicht zu gut dafür waren, als Lehrjungen zu beginnen und sich dann hochzuarbeiten. Aber die Dinge haben sich verändert und verändern sich heute so rasch, dass wir nicht mehr in einen ganz bestimmten Berufsweg investieren, weil es den Beruf vielleicht schon nicht mehr gibt, wenn wir am Ziel sind. Ich weiß es nicht. Andererseits: Jeden Schritt, den man beruflich unternimmt, im Nachhinein anzuzweifeln, ist ja fast wie eine Garantie, am Ende nirgendwo anzukommen.

Ich möchte aber nicht im Nirgendwo landen; ich möchte Sinn und ein Ziel. Ich will wissen, dass ich in eine Sache investiere, die sich lohnt und die meinen Einsatz wert ist. Habe ich also meine Studienzeit verschwendet, weil ich eine Sache verfolgt habe, die mich nicht ernähren kann? Sollte ich nicht endlich diese Spur verfolgen, die Sinn und Bedeutung verspricht? Ich würde meinen stupiden Job auf der Stelle aufgeben, wenn es etwas Sinnvolles und Erfüllendes gäbe. Aber wie finde ich das? Wenn diese Möglichkeit nur leeres Gerede ist, ist das schwer zu ertragen.

Erkundung und Verwandlung, mein Junge. Es gibt ein Leben, das du lieben kannst. Aber es erfordert Mut, Ausdauer und ein wenig Klugheit, um dahin zu kommen. Es erfordert ein Kämpferherz. Du steckst mittendrin herauszufinden, wer du bist, was du bist, warum du hier bist, worum es in der Welt eigentlich geht und was Gott wohl vorhat – was er mit dir vorhat – und wie er das bewerkstelligt. Ich selbst kann sagen: Ich liebe das, was ich tue, von ganzem Herzen; meine Arbeit ist meine Leidenschaft. Und ich erlebe dazu noch die große Freude zu wissen, dass meine Arbeit in dieser Welt Auswirkungen hat. Die allermeiste Zeit liebe ich mein Leben. Man kann ein Leben finden, das man liebt. Du kannst es ebenfalls. Aber dieses Leben lag nicht an dem Tag fix und fertig für mich parat, an dem ich mein Studium beendet hatte. Es musste noch eine Menge in mir passieren, bevor Gott mir das Leben anvertrauen konnte, das ich heute lebe.

Das klingt alles ein wenig nach: „Warte. Arbeite. Vielleicht kommt eines Tages das wirkliche Leben vorbei.“

Da spricht wieder der Junge – er hört nur einen Teil von dem, was ich sage. Ich speise dich nicht mit solchen hohlen Empfehlungen ab. Wir finden gerade heraus, worum es in dieser Phase deines Lebens geht.

Über unsere Gesellschaft gibt es etwas Wichtiges zu wissen. Der Autor Robert Bly nennt sie die „kindliche Gesellschaft“. Darin werden Menschen nicht so sehr von Älteren, sondern vielmehr von Gleichaltrigen geprägt. Bly spricht auch von der „vaterlosen Gesellschaft“. Kinder kommen immer früher in die Pubertät (heute kleiden sich schon zwölfjährige Mädchen wie früher Zwanzigjährige); gleichzeitig verlängert sich die Pubertät bis in das frühe Erwachsenenleben hinein. Man will nicht mehr erwachsen werden, sondern in einer ewigen Jugend verharren. Frauen von fünfundfünfzig erscheinen in Bars im Outfit von Teenagern. Ich würde dann immer am liebsten hingehen und sagen: „Sie sind fünfundfünfzig – verhalten Sie sich doch um Himmels willen wie eine erwachsene Frau.“ Die kindliche Gesellschaft betet die Jugendlichkeit an und lehnt die Härten des Erwachsenendaseins ab. Es ist eine Welt der ewigen Erstsemester – wie dein Ferienlager. Bly fasst das kurz und knapp zusammen: „Heranwachsende … verspüren keinen Antrieb, erwachsen zu werden.“7

Na ja, wenn ich mir die Jungs so anschaue, die ich kenne – Michael, Sky, Julian, also eigentlich alle: Sie sind im Herzen goldrichtig, und das mag ich an ihnen. Aber du hast wohl recht: Ich spüre, dass in uns noch eine Menge „kleiner Junge“ steckt. Der kleine Junge kann uns ja auch Staunen und Kreativität und spontane Freude schenken; aber er verliert auch schnell den Mut, will das Leben hier und jetzt. Er ist die Seite in uns, die uns dazu bringt, uns eher zu betrinken und Videospiele zu spielen, als uns dafür einzusetzen, aus unserem Leben etwas zu machen.

Genauso ist es. Du stehst also vor einer Entscheidung, die Mut braucht: dich auf das wilde, unberechenbare Abenteuer einzulassen, ein echter Mann zu werden.

Die Stunden, die ich mit meiner Hausmeistertätigkeit verbracht habe, waren nicht umsonst. Ich habe so viel dabei gelernt – dass es Zufriedenheit schenkt, den Tag mit guter Arbeit zu verbringen oder schwierige Situationen durchzustehen, um gute Ergebnisse zu erzielen. Ich erlebte, wie hart Ausdauer sein kann – aber sie macht dich stark, wie Joggen oder Hanteltraining. Ich habe auch gelernt, mit den verschiedensten Menschen und mit ihren Eigenarten umzugehen. Es liegt eine eigene Schönheit darin, dieses Abenteuer zu akzeptieren. Sie befreit dich vom Druck des „Ichwill-alles-und-zwar-sofort“.

Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Aber meinst du damit auch: „Der Weg ist das Ziel“? Dieses Mantra hilft mir überhaupt nicht weiter. Es klingt eher nach Verdrängung als nach der Wahrheit.

Nein, ich bin kein Anhänger von „Der Weg ist das Ziel“. Das haben Leute erfunden, die nie ihren eigenen Weg gefunden haben und eine Rechtfertigung für ihre Ziellosigkeit brauchten. Es ist ein pubertäres Hirngespinst. Der Weg ist der Weg; das Ziel ist das Ziel. Eine Reise nach Singapur ist etwas anderes als ein Aufenthalt in dieser Stadt. Während des Fluges muss man sich die Hoffnung auf diese Stadt – die Träume und Wünsche – vor Augen halten. So viele Flugstunden können schon brutal sein; man hat das Gefühl, in einer endlosen Reise gefangen zu sein und nie anzukommen. Das Herz sinkt im Sturzflug nach unten, und die einzige Hoffnung, die noch bleibt, ist die, dass bald mal wieder jemand mit Getränken vorbeikommt.

Natürlich hast du einen Weg vor dir. Aber dieser Weg hat ein Ziel: ein echter Mann zu sein, also über die Weisheit und innere Stärke zu verfügen, eine Frau zu lieben, und zwar dein Leben lang, ein guter Vater zu sein, eine Bewegung anzuführen, über ein Königreich zu herrschen und die Welt zu verändern. Du bist noch in der Ausbildung zum Kämpfer (und gleichzeitig in der Phase des Liebhabers; darauf kommen wir gleich). Dieser Abschnitt deines Lebens hat etwa mit siebzehn oder achtzehn begonnen, und er stellt jetzt deine Hauptaufgabe dar. Der Kämpfer erlernt die Kunst, an seinen Träumen festzuhalten. Und er akzeptiert die Strapazen, die es mit sich bringt, ein Mann zu werden, dem man diese Träume anvertrauen kann. Die Begeisterung des Jungen ist undiszipliniert und richtungslos; ja, er verliert leicht den Mut und auch den Weg.

Zu den großen Gegnern, die deine Generation besiegen muss, gehört das Anspruchsdenken. Ihr wart die Kinder, die in jedem Fall eine Urkunde erhielten – ob sie nun gewonnen oder verloren oder überhaupt nicht am Wettkampf teilgenommen hatten. Und dafür muss meine Generation sich bei euch entschuldigen. Wir hatten so viel Angst davor, es genauso miserabel zu machen wie unsere eigenen Eltern, sodass wir zu nachgiebig waren und die Spielregeln verweichlicht haben. Wir haben uns zu viel um euer Selbstwertgefühl gesorgt und zu wenig um eure Arbeitsmoral. Ein Junge mit diesem Anspruchsdenken glaubt, das Leben müsse leicht sein, alle Träume sollten wahr werden und jeder bekommt einen Pokal, egal, was er leistet. Und dieser Junge ist ernsthaft schockiert, wenn er – oft sehr schmerzhaft – feststellen muss, dass die Welt ihm keinen Penny schuldet.

Das erinnert mich an Santiago aus Der Alchimist von Paulo Coelho. Es gehört zu den Büchern, die mich richtig begeistern; ich habe es schon ein paar Mal gelesen. Santiago ist ein junger Mann mit einem Traum von einem vergrabenen Schatz. Er lernt, auf sein Herz zu hören und nach Hinweisen Ausschau zu halten, während er seinem Traum folgt. Das ist tatsächlich im Wesentlichen die Handlung. Es ist eine Geschichte darüber, wie jemand seinen Träumen auf der Spur ist, Zweifel und Rückschläge überwindet, Liebe und Gefahr durchlebt und am Ende seine Träume verwirklicht sieht.

Ich liebe diese Geschichte auch deswegen, weil ich möchte, dass sie wahr ist – für mich wahr wird. Dass es stimmt: Wenn ich meinem Traum folge, Hinweise beachte und Rückschläge überwinde, dann wird es in meinem Leben Abenteuer und Romantik geben, dann werde ich meinen Schatz finden. Ziemlich am Anfang des Buches schildert Coelho diese wunderbare Hoffnung, damit die Reise beginnen kann. In dem Moment, in dem Santiago sich entscheiden muss, ob er seinem Traum folgen will oder nicht, begegnet ihm Melchizedek, der „Weise“.

„Alle Menschen wissen zu Beginn ihrer Jugendzeit, welches ihre innere Bestimmung ist. In diesem Lebensabschnitt ist alles so einfach, und sie haben keine Angst, alles zu erträumen und sich zu wünschen, was sie in ihrem Leben gerne machen würden. Indessen, während die Zeit vergeht, versucht uns eine mysteriöse Kraft davon zu überzeugen, dass es unmöglich sei, den persönlichen Lebensweg zu verwirklichen.“

Kurz zuvor hatte Melchizedek gesagt:

„[Sie glauben] an die größte Lüge der Welt.“

„Welches ist denn die größte Lüge der Welt?“, fragte der Jüngling überrascht.

„Es ist diese: In einem bestimmten Moment unserer Existenz verlieren wir die Macht über unser Leben, und es wird dann vom Schicksal gelenkt. Das ist die größte Lüge der Welt!“8

Ich empfehle dieses Buch ständig weiter. Einige der besten Gespräche, die ich bisher geführt habe, hatte ich mit Freunden, meist spätabends, wenn wir einfach über unsere Träume geredet haben und davon, dass uns nichts davon abhalten könnte, nach Afrika zu gehen oder eine Firma zu gründen oder die erste Zeitung herauszubringen, die wirklich die Wahrheit berichtet. Wir saßen unter dem Sternenhimmel und hatten das Gefühl, nichts sei unmöglich. Das waren großartige Momente. Aber es ging uns wie Santiago, als er in Tangier beraubt wird: Wir vergessen dieses Gefühl, sobald die Sonne aufgeht, und Zweifel schleichen sich ein. Ich weiß nicht, wie viele von uns die Träume verfolgen, die sie in diesen Nächten so anschaulich beschrieben haben. Es tut mir so leid für meine Freunde. Ich wünsche es jedem von ihnen, dass er sich auf die Spur seiner Träume macht, bevor die Stimme der Bequemlichkeit oder der Angst die Träume „ändert“ (besser gesagt: besiegt). Sonst sind sie weiter auf der wilden Jagd nach allem und jedem in der verzweifelten Hoffnung, dass doch irgendwann das Glück kommt.

Später, als Santiago seinen Traum fast schon aufgeben will, schenkt uns Coelho eine weitere weise Einsicht: „Wir fürchten uns lediglich vor dem Verlust dessen, was wir besitzen, fürchten um unser Leben oder die Felder, die wir bestellt haben. Aber diese Angst vergeht, wenn wir begreifen, dass unsere Geschichte und die Geschichte der Erde von derselben Hand geschrieben wurden.“9

Dieser Satz ist einfach genial – und so beruhigend.

Ich liebe dieses Buch ebenfalls. Bestimmt begeistert dich Der Alchimist, weil die Geschichte eine tiefe Wahrheit bestätigt. Sie flüstert dir eine Verheißung zu, nach der sich unser Herz sehnt: Es ist möglich. Das Leben kann gelingen. Träume können wahr werden. Aber vergiss nicht: Du kennst Santiagos Geschichte nur von außen. Was glaubst du, wie sich das alles für ihn selbst angefühlt hat? Vielleicht ganz ähnlich wie das, was du im Moment erlebst: Manchmal bist du voller Hoffnung, manchmal durcheinander, gelegentlich orientierungslos und ein wenig entmutigt. Wir lieben Santiago, weil er ist wie wir. Und noch etwas: Zu Anfang der Geschichte ist Santiago ein Jugendlicher. Am Ende ist er zu einem jungen Mann geworden.

Diese Geschichten sind wie Landkarten. Der Blick von außen vermittelt eine Vorstellung von der Beschaffenheit des Geländes und hilft, sich zu orientieren; aber wenn man von der Karte wegschaut auf das, was direkt vor Augen liegt, dann sieht die Sache anders aus. Wie in der Redensart: „Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.“ Es ist wichtig, dass wir uns immer wieder bewusst machen: In einer großen Geschichte zu leben, daran teilzuhaben, sieht anders aus und fühlt sich auch ganz anders an, als wenn wir einfach von außen zusehen, wie diese Geschichte sich entfaltet. „Der Weg durch die Welt ist schwerer zu finden als der Weg darüber hinaus“, schrieb der Dichter Wallace Stevens.10 Eine zentrale Botschaft von großen Erzählungen – wie Der Alchimist, Der Hobbit, Die Aeneis und andere – lautet: Verzweifle nicht. Verlier nie den Mut. Hüte dein Herz. Der Kampf um ein Leben, das sich lohnt, ist weit mehr Handwerk als Wissenschaft. Es ist das Handwerk des Kämpfers.

Ich habe eine bemerkenswerte Dokumentation über die Jäger der Dorobo im Süden Kenias gesehen. Die Waffen, die sie verwenden, sind nicht stark genug, um große Tiere zu erlegen. Deshalb stehlen sie die Beute von Löwen. Mit erstaunlichem Mut und bewundernswertem Geschick tauchen sie direkt vor dem Rudel auf, das gerade den Fang verzehrt. Ihr unerschütterliches Selbstvertrauen schlägt die Löwen in die Flucht. Die nächste Szene zeigt die Jäger an einem Feuer, über dem sie eine Antilopenkeule braten, die sie lachend verzehren. Dann sagt einer: „Aber nicht jeder kämpft mit Löwen; manche Leute sind feige.“11

An diesem Feuer möchten wir auch sitzen – beim Festschmaus derjenigen, die etwas gewagt haben. Dazu braucht es Mut. Denn die Hauptursache dafür, dass Menschen aufgeben und ihre Träume verraten, ist Angst. Es braucht Ausdauer, denn nichts Wertvolles ist ohne irgendeine Form von Kampf zu bekommen. Und es braucht auch Klugheit. Die meisten Männer, die eigentlich noch kleine Jungen sind, ziehen mit einer kindlichen Naivität in die Welt aus, ignorieren die Löwen, scheitern bei dem Versuch, ihre Träume zu verwirklichen, und geben dann Gott und der Welt die Schuld dafür. In Wirklichkeit haben sie einfach darauf bestanden, das Leben müsse ein ewiges großes Ferienlager sein.

Du musst noch ein paar Löwen erlegen. Angst ist einer davon. Verzweiflung ein weiterer. Anspruchsdenken – dieses pubertäre Auf-etwas-Beharren – ein dritter. Entweder du erlegst sie, oder sie verspeisen dich und deine Träume zum Nachtisch.

Mut, Ausdauer, Klugheit – damit besiegt man Löwen. Wenn du das tust, dann wirst du eine Geschichte erleben, die es sich lohnt zu erzählen.

Kämpferherz

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