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Der alte Jolyon geht in die Oper

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Um fünf Uhr am Tag danach saß der alte Jolyon alleine da, mit einer Zigarre zwischen den Lippen und einer Tasse Tee auf dem Tisch neben sich. Er war müde, und noch bevor er die Zigarre zu Ende geraucht hatte, schlief er ein. Eine Fliege landete auf seinen Haaren, sein Atem klang schwer in der schläfrigen Stille, seine Oberlippe bewegte sich unter seinem weißen Schnurrbart im Rhythmus seines Atems. Die Zigarre glitt ihm aus den Fingern seiner von Venen durchzogenen, faltigen Hand und fiel in den leeren Kamin, wo sie herunterbrannte.

Das dunkle kleine Arbeitszimmer mit Buntglasfenstern, die dafür sorgten, dass niemand von außen hineinschauen konnte, war ausgestattet mit reichlich dunkelgrünem Samt und Mahagoni, das mit vielen Schnitzereien verziert war – eine Einrichtung, über die der alte Jolyon zu sagen pflegte: »Würde mich nicht wundern, wenn sie mal eine ordentliche Summe einbringt!«

Es war ein schöner Gedanke, dass er nach seinem Tod für Dinge mehr bekommen könnte, als er gegeben hatte.

Inmitten der satten Brauntöne, die typisch für die Hinterzimmer der Wohnsitze der Forsytes waren, wurde die Rembrandt’sche ­Ästhetik seines großen Kopfes mit dem weißen Haar vor dem Kissen seines hochlehnigen Sessels durch den Schnurrbart zerstört, der seinem Gesicht etwas Militärisches verlieh. Eine alte Uhr, die er schon vor seiner Heirat vor vierzig Jahren besessen hatte, führte eifersüchtig wachend mit ihrem Ticken Buch über die Sekunden, die ihrem alten Herrn für immer entglitten.

Er hatte dieses Zimmer nie gemocht, hatte es die ganzen Jahre über kaum betreten, außer um Zigarren aus dem japanischen Schränkchen in der Ecke zu holen, und nun rächte sich der Raum dafür.

Seine Schläfen, die sich wie Dächer über die darunterliegenden Vertiefungen wölbten, seine Wangenknochen und sein Kinn, all das trat im Schlaf stärker hervor, und so hatte sich auf sein Gesicht das Geständnis gelegt, dass er ein alter Mann war.

Er wachte auf. June war weg! James hatte gesagt, er würde einsam sein. James war schon immer ein jämmerlicher Wicht gewesen. Er dachte mit Genugtuung daran, dass er dieses Haus über James’ Kopf hinweg gekauft hatte.

Geschah ihm nur recht, wenn er sich so an dem Preis festbeißen musste. Für den Kerl drehte sich immer alles nur ums Geld. Aber hatte er wirklich zu viel bezahlt? Es musste noch viel daran gemacht werden – und er würde wohl sein gesamtes Geld brauchen, ehe er die Sache mit June geregelt hatte. Er hätte die Verlobung niemals erlauben dürfen. Sie hatte diesen Bosinney bei Baynes kennengelernt, Baynes und Bildeboy, die Architekten. Soweit er wusste, war dieser Baynes, den er kannte – er hatte was von einer alten Frau -, der angeheiratete Onkel des jungen Mannes. Von da an war sie ihm immer hinterhergelaufen. Und wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte sie nichts und niemand mehr aufhalten. Immer bandelte sie mit irgendwelchen Versagern an. Der Kerl hatte kein Geld, aber sie musste sich ja unbedingt mit ihm verloben – ein weltfremder Springinsfeld, der sich noch in Schwierigkeiten ohne Ende bringen würde.

Sie war eines Tages auf ihre direkte, unbekümmerte Art zu ihm gekommen und hatte es ihm gesagt. Und als ob das ein Trost wäre, hatte sie hinzugefügt: »Er ist einfach großartig, er hat sich schon oft eine ganze Woche lang nur von Kakao ernährt!«

»Und du sollst dich jetzt auch nur von Kakao ernähren, oder was?«

»Aber nein, es läuft doch jetzt für ihn.«

Der alte Jolyon hatte die Zigarre unter seinem weißen Schnurrbart, der an den Enden braun vom Kaffee war, weggenommen und sie angesehen, das kleine Ding, das sein Herz so fest im Griff hatte. Er wusste besser Bescheid darüber, was es bedeutete, wenn es geschäftlich für jemanden »lief«, als seine Enkelin. Doch sie hatte seine Knie mit ihren Händen umfasst und rieb ihr Kinn daran und machte dabei ein Geräusch wie eine schnurrende Katze. Und während er die Asche von der Zigarre klopfte, war es in seiner aufgebrachten Verzweiflung aus ihm herausgebrochen:

»Ihr seid doch alle gleich: Ihr gebt keine Ruhe, bis ihr habt, was ihr wollt. Wenn du dich unbedingt ins Unglück stürzen musst, dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich wasche meine Hände in Unschuld.«

Also hatte er seine Hände in Unschuld gewaschen und die Bedingung gestellt, dass sie nicht heiraten sollten, bevor Bosinney nicht mindestens vierhundert im Jahr verdiente.

»Ich werde dir nicht sehr viel geben können«, hatte er zu ihr gesagt - Worte, die June nicht zum ersten Mal hörte. »Vielleicht kann ja dieser Wie-heißt-er-nochmal den Kakao beisteuern.«

Er hatte sie kaum noch zu Gesicht bekommen, seitdem die Sache angefangen hatte. Das war nicht gut! Er hatte definitiv nicht vor, ihr viel Geld zu geben, damit dann ein Kerl, über den er nichts wusste, untätig vor sich hin leben konnte. So etwas hatte er schon erlebt, da kam nie etwas Gutes bei raus.

Das Schlimmste war, dass er keine Hoffnung hatte, sie umstimmen zu können. Sie war stur wie ein Esel, schon als Kind. Er wusste nicht, wo das enden sollte.

Sie mussten sich nach der Decke strecken. Er würde nicht nachgeben, ehe der junge Bosinney ein eigenes Einkommen hatte. Dass June mit dem Kerl Ärger haben würde, war klar wie Kloßbrühe; der hatte von Geld so viel Ahnung wie eine Kuh. Und die Tanten des jungen Mannes in Wales, die sie nun so eilig besuchen mussten, waren bestimmt alte Hexen.

Und regungslos starrte der alte Jolyon an die Wand. Wären seine Augen nicht offen gewesen, hätte man meinen können, er schläft … Was für ein Vorschlag, diesen jungen Flegel Soames um Rat zu fragen! Er war schon immer so ein eingebildeter Stiesel gewesen! Als nächstes würde er sich noch als Mann von Besitz mit einem Haus auf dem Land niederlassen! Ein Besitzstreber! Pah! Wie sein Vater war er immerzu auf der Suche nach Schnäppchen, ein kaltblütiger junger Lump!

Er stand auf, ging zum Schränkchen und fing an, seine Zigarrenkiste systematisch mit neuen Zigarren aufzufüllen. Für den Preis waren sie nicht schlecht, aber man bekam ja heute nirgendwo mehr gute Zigarren, nichts, was an die Qualität jener alten Superfinos von Hanson und Bridger rankam. Das waren Zigarren!

Wie ein zarter Duft trug ihn dieser Gedanke zurück zu jenen wundervollen Nächten in Richmond, als er nach dem Abendessen rauchend mit Nicholas Treffry und Traquair und Jack Herring und Anthony Thornworthy auf der Terrasse des Crown and Sceptre gesessen hatte. Wie gut seine Zigarren damals doch waren! Der arme alte Nick – tot, und Jack Herring – tot, und Traquair – tot, an dieser Frau gestorben, und Thornworthy – schrecklich zittrig und schwach auf den Beinen (kein Wunder bei seinem Appetit).

Von allen Freunden aus diesen Tagen schien nur noch er selbst ­übrig zu sein, außer natürlich Swithin, und der war so monströs dick, dass mit ihm nichts anzufangen war.

Kaum zu glauben, dass das schon so lange her war, er fühlte sich doch noch jung! Von all seinen Gedanken, als er dort stand und seine Zigarren zählte, war dies der schmerzlichste, der bitterste. Sein Haar war weiß und er war einsam, doch im Herzen war er noch jung und grün hinter den Ohren. Und jene Sonntagnachmittage im Hampstead Heath, an denen der junge Jolyon und er einen Spaziergang gemacht hatten, entlang der Spaniard’s Road zum Highgate Cemetery und von dort nach Child’s Hill und wieder zurück durch den Park, um dann im Jack Straw’s Castle essen zu gehen – wie vorzüglich seine Zigarren damals doch gewesen waren! Und das ­Wetter! Jetzt gab es ja gar kein richtiges Wetter mehr.

Als June noch ein kleiner Knirps von fünf Jahren war und er jeden zweiten Sonntag mit ihr in den Zoo ging, weg von der Gesellschaft jener zwei guten Frauen, ihrer Mutter und ihrer Großmutter, und er ganz oben beim Bärengehege Brötchen auf seinen Regenschirm pikste, um ihre Lieblingsbären anzulocken, wie gut seine Zigarren da doch waren!

Zigarren! Er hatte es noch nicht einmal geschafft, seinen Gaumen zu überdauern – den berühmten Gaumen, auf den die Männer vor gut dreißig Jahren schworen. Und wenn sie von ihm sprachen, sagten sie: »Forsyte hat den besten Gaumen in ganz London!« Den Gaumen, dem er gewissermaßen seinen Wohlstand verdankte – den Wohlstand der gefeierten Teemänner, Forsyte und Treffry, deren Tee wie kein anderer ein romantisches Aroma hatte, den Zauber einer sehr außergewöhnlichen Authentizität. Um das Haus von Forsyte und Treffry im Zentrum herrschte eine Atmosphäre von Unternehmertum und etwas Geheimnisvollem, von besonderen Geschäften auf besonderen Schiffen in besonderen Häfen mit besonderen Menschen aus dem Orient.

Er hatte gearbeitet in diesem Geschäft! Damals hat man noch richtig gearbeitet! Diese jungen Spunde wussten doch kaum, was das überhaupt hieß! Er hatte auf jedes Detail geachtet, über alle Abläufe Bescheid gewusst, hatte dafür manchmal ganze Nächte durchgearbeitet. Und er hatte seine Händler immer selbst ausgesucht, darauf war er stolz gewesen. Seine Menschenkenntnis, so sagte er immer, war der Schlüssel zu seinem Erfolg gewesen, und von diesem meisterhaften Talent des Auswählens Gebrauch zu machen, war das Einzige, was ihm wirklich Spaß gemacht hatte. Das war keine Karriere für einen Mann seiner Fähigkeiten gewesen. Selbst jetzt noch, wo das Geschäft in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung umgewandelt worden war und der Erfolg nachließ (er hatte seine Anteile schon vor Längerem verkauft), grämte es ihn sehr, wenn er an diese Zeit zurückdachte. Wie viel weiter er es doch hätte bringen können! Er wäre ein großartiger Jurist gewesen! Er hatte sogar darüber nachgedacht, für das Parlament zu kandidieren. Hatte nicht Nicholas Treffry so oft zu ihm gesagt: »Du könntest alles, Jo, wenn du nur nicht so v-verdammt vorsichtig wärst!« Der gute alte Nick! So ein guter Mensch, aber auch so ungestüm! Der berüchtigte Treffry! Er hatte nie vorsichtig gelebt. Jetzt war er tot. Der alte Jolyon zählte mit ruhiger Hand seine Zigarren und es kam ihm der Gedanke, ob er selbst vielleicht zu vorsichtig gewesen war.

Er steckte die Zigarrenkiste in die Brusttasche seines Mantels, knöpfte die Tasche zu und ging die lange Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf, wobei er das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte und sich am Geländer stützte. Das Haus war zu groß. Nach Junes Heirat, sollte sie diesen Typen jemals heiraten, was anzunehmen war, würde er es vermieten und sich eine Wohnung suchen. Wozu sollte er länger ein halbes Dutzend Bedienstete durchfüttern?

Ein Butler kam auf sein Läuten hin – ein großer, bärtiger Mann mit leisem Gang und einer besonderen Begabung fürs Stillsein. Der alte Jolyon ordnete ihm an, seinen feinen Anzug bereitzulegen, er wolle im Klub zu Abend essen.

Seit wann sei die Kutsche, die Miss June zum Bahnhof gebracht hatte, wieder zurück? Seit zwei? Dann solle er um halb sieben vorfahren!

Der Klub, den der alte Jolyon um Punkt sieben betrat, war eines jener politischen Etablissements der gehobenen Mittelschicht, die schon bessere Zeiten gesehen hatten. Obwohl darüber geredet wurde, vielleicht auch weil darüber geredet wurde, ließ er eine enttäuschende Vitalität erkennen. Die Menschen hatten es satt, immerzu davon zu reden, dass der Disunion am Ende war. Der alte Jolyon sagte das auch immer, ignorierte dabei aber die Tatsache auf eine Weise, die wahre Klubmitglieder ernsthaft verärgerte.

»Warum bist du da noch Mitglied?«, fragte Swithin ihn oft voller Ärger. »Warum trittst du nicht dem Polyglot bei? Nirgendwo sonst in London bekommt man einen Wein wie unseren Heidsieck unter zwanzig Shilling die Flasche.« Und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Es gibt nur noch fünfhundert Dutzend davon. Ich werde ihn jeden Abend meines Lebens trinken.«

»Ich denke drüber nach«, antwortete der alte Jolyon darauf immer. Aber wenn er dann darüber nachdachte, kam ihm immer die Sache mit der Eintrittsgebühr von fünfzig Guineen und dass er vier oder fünf Jahre auf eine Mitgliedschaft warten müsste.

Er war zu alt, um ein Liberaler zu sein, glaubte schon lange nicht mehr an die politischen Doktrinen seines Klubs, bezeichnete sie bekanntermaßen als »armseligen Mist«, und es gefiel ihm, den Prinzipien, die seinen eigenen so sehr widersprachen, zum Trotz, Mitglied zu bleiben. Er hatte den Ort schon immer verachtet, seit er dem Klub vor vielen Jahren beigetreten war, nachdem sie ihn im Hotch Potch nicht gewollt hatten, weil er »ein Geschäftsmann« war. Als ob er nicht ebenso viel wert wäre wie jeder Einzelne von denen! Klar, dass er den Klub verachtete, der ihn dann nahm. Die Mitglieder waren eine armselige Truppe, viele von ihnen arbeiteten in der City – Börsenmakler, Juristen, Auktionatoren und was nicht sonst noch alles! Wie die meisten mit einem starken Charakter, aber nicht allzu viel Originalität, hielt der alte Jolyon wenig von der Klasse, zu der er selbst gehörte. Er befolgte brav ihre Regeln, sowohl die gesellschaftlichen als auch andere, und hielt sie dabei insgeheim für einen gewöhnlichen Haufen.

Die Jahre und die Philosophie, ihm war beides zu eigen, hatten die Erinnerung an seine Niederlage im Hotch Potch verblassen lassen. In seinen Gedanken bewahrte er ihn nun als die Königin aller Klubs. Er hätte all die Jahre Mitglied sein können, wenn sein Antragsteller, Jack Herring, nicht so schludrig gearbeitet hätte. Ihnen war ja gar nicht bewusst gewesen, was sein Ausschluss bedeutete. Seinen Sohn Jo hatten sie doch auch sofort aufgenommen, und soweit er wusste, war der Junge immer noch Mitglied; er hatte vor acht Jahren einen von dort abgeschickten Brief von ihm bekommen.

Er war seit Monaten nicht in der Nähe des Disunions gewesen. Das Gebäude war auf die Weise bunt geschmückt worden, auf die alte Häuser und alte Schiffe aufgehübscht werden, wenn sie dringend verkauft werden sollen.

Widerliche Farbe, das Raucherzimmer, dachte er. Das Esszimmer ist gut!

Sein dunkler Schokoladenton, aufgelockert durch helles Grün, gefiel ihm.

Er bestellte sein Essen und nahm in genau der Ecke Platz, vielleicht sogar an genau dem Tisch (die Dinge veränderten sich nicht wirklich im Disunion, in einem Klub von fast schon radikalen Prinzipien), an dem er und der junge Jolyon vor fünfundzwanzig Jahren immer gesessen hatten, wenn er mit diesem während der Ferien ins Drury Lane gegangen war.

Der Junge hatte das Theater geliebt. Der alte Jolyon dachte daran, wie er ihm immer gegenübergesessen und seine Aufregung hinter einer betonten, aber durchschaubaren Nonchalance versteckt ­hatte.

Er bestellte auch das gleiche Essen, das der Junge immer gewählt hatte – Suppe, jungen Hering, Kotelett und ein Törtchen. Ach! Wenn er ihm jetzt doch nur gegenübersitzen könnte!

Sie hatten sich seit vierzehn Jahren nicht mehr gesehen. Und nicht zum ersten Mal im Laufe dieser vierzehn Jahre fragte sich der alte Jolyon, ob er vielleicht Mitschuld hatte an der Situation seines Sohnes. Eine unglückliche Affäre mit der affektiert-koketten Danae Thornworthy (jetzt Danae Pellew), der Tochter von Anthony Thornworthy, hatte ihn in seinem Kummer in die tröstenden Arme von Junes Mutter getrieben. Vielleicht hätte er sich ihrer Heirat in den Weg stellen sollen. Sie waren zu jung, aber nachdem er gesehen hatte, wie empfänglich Jo war, hatte er es nur allzu eilig gehabt, ihn verheiratet zu wissen. Und nach vier Jahren war es dann zum großen Krach gekommen. Natürlich konnte er das Verhalten seines Sohnes dabei unmöglich billigen. Die Vernunft und die Erziehung – jene Kombination zweier maßgebender Faktoren, auf der seine Prinzipien beruhten – sagten ihm, dass es unmöglich war, und sein Herz blutete. Die harte Unbarmherzigkeit jener Angelegenheit ließ kein Mitleid für Herzen zu. Da war June, das Energiebündel mit flammendem Haar, das ihn ganz für sich eingenommen, sich um ihn gewunden und geschlungen hatte – um sein Herz, das zum Spielzeug und Zufluchtsort kleiner, hilfloser Dinger bestimmt war. Durch die für ihn typische Einsicht erkannte er, dass er sich von einem der beiden trennen musste. In einer solchen Situation brachten Halbheiten nichts. Darin bestand die Tragik dieser Sache. Und das kleine, hilflose Ding siegte. Er wollte nicht auf zwei Hochzeiten tanzen, und so sagte er seinem Sohn Lebewohl. Dieses Lebewohl hatte bis jetzt gegolten.

Er hatte vorgeschlagen, dem jungen Jolyon weiterhin einen geringeren Zuschuss zu zahlen, doch dies wurde abgelehnt. Womöglich hatte ihn das mehr verletzt als alles andere, denn nun blieb ihm kein Weg mehr, seine eingepferchte Zuneigung zum Ausdruck zu bringen. Und es war zu einem so spürbaren und vollständigen Bruch zwischen ihnen gekommen, wie es nur die Übertragung von Vermögen, die Annahme oder Ablehnung dieses Vermögens, verursachen kann.

Sein Essen schmeckte fad. Der Champagner war trocken und bitter, nicht wie der Veuve Clicquot alter Tage.

Während er seine Tasse Kaffee trank, beschloss er, in die Oper zu gehen. Deshalb las er in der Times – er misstraute allen anderen Zeitungen – das Programm für jenen Abend. Es lief »Fidelio«.

Zum Glück keines dieser neumodischen deutschen Märchenspiele von diesem Wagner.

Er setzte seinen alten Klappzylinder auf, der mit seiner durch Gebrauch abgeflachten Krempe und seiner immensen Größe wie ein Sinnbild besserer Zeiten aussah, zog ein altes Paar sehr dünne, lavendelblaue Ziegenlederhandschuhe hervor, die stark nach Juchtenleder rochen, da er sie stets in der Nähe seiner Zigarrenkiste in der Tasche seines Mantels aufbewahrte, und stieg in eine Kutsche.

Die Droschke ratterte fröhlich die Straßen entlang. Der alte ­Jolyon war überrascht, wie ungewohnt belebt sie waren.

Die Hotels müssen ein unglaubliches Geschäft machen, dachte er. Vor ein paar Jahren hatte es noch keines dieser großen Hotels gegeben. Er dachte mit Zufriedenheit an ein Grundstück, das er in der Gegend besaß. Bestimmt schoss sein Wert in die Höhe! Was für ein Verkehr!

Doch das brachte ihn dazu, sich einer dieser seltsamen unpersönlichen Spekulationen hinzugeben, wie es doch so untypisch für einen Forsyte war und worin zum Teil seine Vormachtstellung unter ihnen begründet war. Wie winzig doch die Menschen waren und wie viele es doch gab! Und was würde wohl aus ihnen allen werden?

Er stolperte, als er aus der Kutsche stieg, gab dem Fahrer den exakten Fahrpreis, ging hinauf zur Kasse, um seine Karte zu kaufen, und stand dann mit seinem Geldbeutel in der Hand da – er hatte sein Geld immer in einem Geldbeutel dabei. Die Angewohnheit, es lose in die Taschen zu stecken, wie es heute so viele junge Männer tun, hatte er nie gutgeheißen. Der Kartenverkäufer streckte den Kopf heraus wie ein alter Hund aus seiner Hundehütte.

»Na, so was«, sagte er überrascht, »Jolyon Forsyte! Sie sind es wirklich! Ich habe Sie seit Jahren nicht mehr gesehen, Sir. Meine Güte! Die Zeiten haben sich geändert. Sie und Ihr Bruder und dieser Auktionator – Mr Traquair und Mr Nicholas Treffry, Sie hatten doch immer sechs oder sieben Parkettplätze hier jede Saison. Und wie geht es Ihnen, Sir? Wir werden ja nicht jünger!«

Eine tiefe Wärme legte sich in die Augen des alten Jolyon; er zahlte seinen Guinea. Sie hatten ihn nicht vergessen. Er ging zu den Klängen der Ouvertüre hinein wie ein altes Kriegspferd in die Schlacht.

Er faltete seinen Zylinder zusammen und setzte sich, zog seine lavendelblauen Handschuhe genau wie früher aus und hob sein Opernglas für einen langen Blick durch das Haus. Dann legte er es wieder auf seinem gefalteten Hut ab und richtete seinen Blick auf den Vorhang. Schmerzlicher als je zuvor spürte er, dass es mit ihm aus und vorbei war. Wo waren nur all die Frauen, die schönen Frauen, von denen hier immer so viele gewesen waren? Wo war das altbekannte Gefühl in seinem Herzen, das immer da gewesen war, wenn er auf einen jener großartigen Sänger gewartet hatte? Wo war dieses berauschende Gefühl, so voller Leben zu sein und das alles genießen zu können?

Er war der größte Operngänger seiner Zeiten gewesen! Jetzt gab es keine Oper mehr! Dieser Wagner hatte alles zugrunde gerichtet. Es gab weder Melodien noch Stimmen, die diese hätten singen können. Ach! Die wunderbaren Sänger! Alle weg! Er saß da und verfolgte die Darstellung der altbekannten Szenen, ein benommenes Gefühl in seinem Herzen.

Von der silbernen Locke über seinem Ohr bis zur Haltung seines Fußes im Lacklederschuh mit Elastikeinsatz war nichts an dem alten Jolyon unbeholfen oder schwach. Er saß so aufrecht – oder zumindest fast so aufrecht – wie zu jenen guten alten Zeiten, als er jeden Abend hierherkam. Er sah noch genauso gut – oder zumindest fast genauso gut. Doch wie sehr er sich doch müde und desillusioniert fühlte!

Er hatte sein ganzes Leben lang alles genossen, auch Unvollkommenes – und es hatte viel Unvollkommenes gegeben. Er hatte es alles in Maßen genossen, um sich jung zu halten. Doch nun hatte ihn seine Fähigkeit zu genießen im Stich gelassen, seine Philosophie, und was zurückblieb, war dieses schreckliche Gefühl, dass alles aus und vorbei war. Noch nicht einmal der Gefangenenchor oder die Arie des Florestan konnten das schwermütige Gefühl seiner Einsamkeit vertreiben.

Wenn doch nur Jo hier bei ihm wäre! Der Junge musste inzwischen vierzig sein. Er hatte vierzehn Lebensjahre seines einzigen Sohnes untätig verstreichen lassen. Und Jo war kein Ausgestoßener der Gesellschaft mehr. Er war verheiratet. Der alte Jolyon hatte sich nicht zurückhalten können, seine Zustimmung diesbezüglich durch einen Scheck an seinen Sohn über fünfhundert Pfund zum Ausdruck zu bringen. Der Scheck war in einem Brief vom Hotch Potch mit folgenden Worten zurückgesendet worden:

Liebster Vater,

dein großzügiges Geschenk war willkommen als Zeichen, dass du schlechter von mir denken könntest. Ich sende es dir wieder zurück, doch solltest du es für richtig halten, es für unseren kleinen Mann (wir nennen ihn Jolly) anzulegen, der unseren Vornamen trägt und, mit deiner Erlaubnis, unseren Nachnamen, würde ich mich sehr freuen.

Ich hoffe von ganzem Herzen, dass du so gesund wie eh und je bist.

Dein dich liebender Sohn

Jo

Der Brief war wie der Junge. Er war immer ein liebenswerter Kerl gewesen. Der alte Jolyon hatte ihm dies geantwortet:

Mein lieber Jo,

ich habe die Summe (fünfhundert Pfund) deinem Jungen gutgeschrieben, unter dem Namen Jolyon Forsyte, und sie wird ordnungsgemäß mit fünf Prozent verzinst werden. Ich hoffe, dir geht es gut. Noch bin ich gesundheitlich fit wie eh und je.

Liebe Grüße

dein dich liebender Vater

Jolyon Forsyte

Und jedes Jahr am ersten Januar zahlte er hundert Pfund und die Zinsen dazu. Die Summe wurde immer beträchtlicher – nächstes Neujahr würden es fünfzehnhundert Pfund und noch was sein! Und es lässt sich kaum sagen, wie viel Zufriedenheit ihm diese jährliche Einzahlung gegeben hatte. Doch der Briefkontakt hatte geendet.

Trotz seiner Liebe zu seinem Sohn, trotz eines gewissen Instinkts, der teilweise angeboren war, teilweise, wie bei tausenden anderen seiner Klasse, das Ergebnis ständigen Abwickelns und Beobachtens von Geschäften und durch den er Verhalten eher anhand von Resultaten als anhand von Prinzipien beurteilte, empfand er tief in seinem Herzen eine Art Unbehagen. Sein Sohn hätte unter den gegebenen Umständen vor die Hunde gehen müssen. Dieses Gesetz war in all den Romanen, in all den Predigten und in all den Dramen, die er jemals gelesen, gehört oder gesehen hatte, festgelegt.

Irgendetwas fühlte sich irgendwie falsch für ihn an, als er den Scheck zurückerhielt. Warum war sein Sohn nicht vor die Hunde gegangen? Andererseits, wer konnte das schon sagen?

Er hatte natürlich gehört – um genau zu sein, hatte er sich persönlich bemüht, dies herauszufinden -, dass Jo in St. John’s Wood wohnte, dass er ein kleines Häuschen mit Garten in der Wistaria Avenue hatte und seine Frau mit zu gesellschaftlichen Anlässen nahm – zweifelsohne in seltsamen gesellschaftlichen Kreisen. Und dass sie zwei Kinder hatten – den kleinen Jungen, den sie Jolly nannten (in Anbetracht der eher weniger heiteren Umstände erschien ihm dieser Name zynisch, und der alte Jolyon fürchtete und verabscheute Zynismus), und ein Mädchen namens Holly, das nach der Heirat geboren worden war. Wer konnte schon sagen, wie die Verhältnisse seines Sohnes wirklich waren? Er hatte die Einkunft, die er von seinem Großvater mütterlicherseits geerbt hatte, in Kapital umgewandelt und bei Lloyd’s als Versicherungsgeber angefangen. Außerdem malte er auch – Aquarelle. Der alte Jolyon wusste das, weil er sich hin und wieder heimlich eines seiner Bilder gekauft hatte, nachdem er zufällig seinen Namen unten auf einem Bild der Themse in einem Schaufenster entdeckt hatte. Er bewahrte sie in einer Schublade verschlossen auf.

In dem großen Opernhaus überkam ihn eine schreckliche Sehnsucht, seinen Sohn zu sehen. Er erinnerte sich an die Zeiten, als er ihn immer in seinem braunen Leinenanzug unter seinen Beinen vor und zurück rutschen hatte lassen, die Zeiten, als er neben dem Pony des Jungen hergelaufen war und ihm das Reiten beigebracht hatte, den Tag, an dem er ihn zum ersten Mal in die Schule gebracht hatte. Er war ein liebevoller, liebenswerter kleiner Kerl gewesen! Als er dann nach Eton ging, hatte er vielleicht etwas zu viel von dieser erstrebenswerten Art übernommen, die man, wie der alte Jolyon wusste, nur an solchen Orten und nur zu einem hohen Preis bekommen konnte. Aber er war immer ein angenehmer Zeitgenosse gewesen, immer ein guter Kamerad, selbst nach Cambridge – vielleicht ein wenig abgehoben aufgrund der Vorteile, die er genossen hatte. Was seine Meinung zu den Privatschulen und Unis des Landes anging, war der alte Jolyon niemals ins Schwanken geraten. Er hielt rührend an seiner bewundernden und zugleich misstrau­ischen Haltung gegenüber einem System fest, das für die Elite des Landes gemacht war und zu dessen Privilegierten er selbst nicht gehört hatte … Nun, wo June weggefahren war und ihn verlassen hatte ‒ oder so gut wie verlassen ‒ wäre es tröstlich gewesen, seinen Sohn wiederzusehen. Voller Schuldgefühl wegen dieses Verrats an seiner Familie, seinen Prinzipien, seiner Klasse richtete der alte Jolyon seinen Blick auf den Sänger. Ein erbärmliches Etwas – ein elendes erbärmliches Etwas! Und der Florestan war zum Einschlafen!

Die Oper war zu Ende. Die waren ja heutzutage leicht zufriedenzustellen!

Im Gedränge der Straße schnappte er einem korpulenten und sehr viel jüngeren Mann eine Droschke, die dieser bereits als seine betrachtete, direkt vor der Nase weg. Sein Weg führte durch die Pall Mall, und statt dann durch den Green Park weiterzufahren, bog sein Fahrer an der Ecke in die St. James’s Street ab.

Der alte Jolyon streckte seine Hand durch die Klappe (Umwege konnte er nicht ausstehen), doch dann sah er beim Abbiegen ihnen gegenüber das Hotch Potch, und die Sehnsucht, die er den ganzen Abend still in sich getragen hatte, siegte. Er befahl dem Kutscher zu stoppen. Er wollte hineingehen und fragen, ob Jo noch immer Mitglied sei.

Er ging hinein. Die Halle sah noch genauso aus wie damals, als er immer mit Jack Herring dort gegessen hatte; sie hatten den besten Koch in ganz London. Er sah sich mit diesem scharfsinnigen, direkten Blick um, dank dessen er schon immer besser bedient wurde als die meisten anderen Männer.

»Ist Mr Jolyon Forsyte noch Mitglied hier?«

»Ja, Sir. Er ist gerade im Klub, Sir. Ihr Name?«

Der alte Jolyon war überrascht. »Ich bin sein Vater«, antwortete er. Dann stellte er sich mit dem Rücken zum Kamin.

Der junge Jolyon hatte seinen Hut aufgesetzt und wollte gerade den Klub verlassen, als er beim Durchqueren der Halle dem Por­tier begegnete. Er war nicht mehr jung, sein Haar wurde schon grau und auf seinem Gesicht – das Ebenbild seines Vaters in schmal, mit dem gleichen großen, weit herabhängenden Schnurrbart – hatte das Leben deutlich seine Spuren hinterlassen. Er wurde blass. Diese Begegnung war schrecklich nach all den Jahren, denn nichts auf der Welt war so schlimm wie eine Szene. Sie standen voreinander und gaben sich wortlos die Hand. Dann sagte sein Vater mit einem Zittern in der Stimme: »Wie geht es dir, Junge?«

Der Sohn antwortete: »Wie geht es dir, Papa?«

Die Hand des alten Jolyon zitterte in dem dünnen, lavendelblauen Handschuh.

»Wenn du in meine Richtung musst, kann ich dich mitnehmen.«

Und als ob sie den anderen jeden Abend nach Hause brächten, gingen sie hinaus und stiegen in die Droschke.

Dem alten Jolyon kam es vor, als sei sein Sohn gewachsen. »­Irgendwie mehr ein richtiger Mann«, bemerkte er für sich. Über das von Natur aus liebenswürdige Gesicht seines Sohnes hatte sich eine zynische Maske gelegt, als ob er das Gefühl gehabt hätte, die Umstände seines Lebens bedürfen einer Rüstung. Seine Züge waren ohne Zweifel die eines Forsyte, doch sein Gesichtsausdruck war eher so nach innen gekehrt wie der eines Studenten oder Philosophen. Er hatte sich mit Sicherheit gezwungenermaßen sehr viel mit seinem Innenleben beschäftigen müssen während jener fünfzehn Jahre.

Für den jungen Jolyon war der Anblick seines Vaters im ersten Moment zweifelsohne ein Schock gewesen – er sah so alt und erschöpft aus. Doch als sie dann in der Droschke saßen, kam es ihm so vor, als habe er sich kaum verändert. Er hatte noch immer diesen ruhigen Blick, an den er sich so gut erinnerte, noch immer scharfe Augen und eine aufrechte Haltung.

»Du siehst gut aus, Papa.«

»Ach, es geht so«, antwortete der alte Jolyon.

Ihn quälte eine Sorge, die er meinte, aussprechen zu müssen. Jetzt, wo er seinen Sohn so wiederbekommen hatte, hatte er das Gefühl, ihn nach seiner finanziellen Lage fragen zu müssen.

»Jo«, sagte er, »ich wüsste gern, wie deine Situation ist. Ich nehme an, du hast Schulden?«

Er formulierte es so, um es seinem Sohn leichter zu machen, es zuzugeben. Der junge Jolyon antwortete mit seiner ironisch klingenden Stimme: »Nein! Ich habe keine Schulden!«

Der alte Jolyon merkte, dass er verärgert war, und berührte seine Hand. Das Risiko war er eingegangen. Dennoch hatte es sich gelohnt, und Jo war ihm noch nie lange böse gewesen. Sie fuhren weiter bis Stanhope Gate, ohne dass einer der beiden noch etwas sagte. Der alte Jolyon lud ihn ein, mit hineinzukommen, aber der junge Jolyon schüttelte den Kopf.

»June ist nicht da«, beeilte sich sein Vater zu sagen. »Sie ist für einen Besuch verreist. Du weißt wahrscheinlich, dass sie verlobt ist, oder?«

»Schon?«, murmelte der junge Jolyon.

Der alte Jolyon stieg aus, und als er den Fahrer bezahlte, verwechselte er zum ersten Mal in seinem Leben einen Sovereign mit einem Shilling. Der Kutscher steckte die Münze zwischen die Zähne, gab dem Pferd verstohlen einen Peitschenhieb und fuhr schnell davon.

Der alte Jolyon drehte den Schlüssel sachte im Schloss, öffnete die Tür und winkte ihn herein. Sein Sohn sah, wie er mit gewichtigem Ausdruck seinen Mantel aufhängte, einem Ausdruck wie dem eines Jungen, der Kirschen stehlen wollte.

Die Esszimmertür stand offen, das Gaslicht brannte schwach. Auf einem Teebrett zischte ein Spirituskocher und dicht neben ihm schlief eine zynisch dreinblickende Katze auf dem Esstisch. Der alte Jolyon verscheuchte sie. Durch den Zwischenfall konnte er etwas an Emotionen herauslassen. Er wedelte mit seinem Zylinder hinter ihr her.

»Sie hat Flöhe«, sagte er und folgte ihr aus dem Zimmer. In der Eingangshalle rief er noch ein paar Mal »Sch!« durch die Tür, die zum Keller führte, als ob er der Katze beim Verschwinden helfen wollte, bis durch einen seltsamen Zufall der Butler unten auftauchte.

»Sie können zu Bett gehen, Parfitt«, sagte der alte Jolyon. »Ich schließe dann ab und mache das Licht aus.«

Als er wieder ins Esszimmer zurückging, schlich sich die Katze unglücklicherweise an ihm vorbei, den Schwanz in die Höhe gestreckt, als ob sie zeigen wolle, dass sie das Manöver mit dem Butler von vornherein durchschaut hatte … Die häuslichen Kriegslisten des alten Jolyon hatten noch nie funktioniert.

Der junge Jolyon konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Mit Ironie kannte er sich nur zu gut aus, und alles an diesem Abend erschien ihm ironisch. Die Sache mit der Katze, die Nachricht von der Verlobung seiner eigenen Tochter. Also hatte er nicht mehr Anteil an ihr als an der Katze! Die poetische Gerechtigkeit der Sache gefiel ihm.

»Wie sieht June denn jetzt aus?«, fragte er.

»Sie ist ein kleines Ding«, erwiderte der alte Jolyon. »Alle meinen, sie käme nach mir, aber das ist Unsinn. Sie kommt eher nach deiner Mutter – die gleichen Augen und Haare.«

»Ah, und ist sie hübsch?«

Der alte Jolyon war zu sehr Forsyte, um frei heraus seine Anerkennung zu zeigen, besonders wenn es um etwas ging, für das er aufrichtige Bewunderung empfand.

»Schlecht sieht sie nicht aus – hat ein echtes Forsyte-Kinn. Es wird einsam sein hier ohne sie, Jo.«

Der Ausdruck im Gesicht seines Vaters erschreckte ihn erneut, so wie es sein Anblick im ersten Moment getan hatte.

»Was wirst du dann mit dir anfangen, Papa? Ihre Welt dreht sich jetzt wahrscheinlich nur um ihn, oder?«

»Mit mir anfangen?«, wiederholte der alte Jolyon mit einem verärgerten Zittern in der Stimme. »Es wird einfach furchtbar sein, allein hier zu leben. Ich weiß nicht, wie das noch enden soll. Ich wünschte bei Gott …« Er hielt inne, um sich zu fangen, und fügte dann hinzu: »Die Frage ist, was mache ich dann mit diesem Haus?«

Der junge Jolyon sah sich im Zimmer um. Es war seltsam groß und düster, geschmückt mit den riesigen Stillleben, an die er sich noch aus seiner Kindheit erinnerte – schlafende Hunde, deren Schnauzen auf einem Bund Karotten ruhten, zusammen mit Zwiebeln und Trauben, die etwas überrascht nebeneinanderlagen. Das Haus war kostspielig und brachte mehr Ärgernis als Nutzen, doch er konnte sich seinen Vater in keiner kleineren Wohnung vorstellen. Und umso mehr wirkte das alles ironisch.

In seinem großen Sessel mit Lesepult saß der alte Jolyon, Gallionsfigur seiner Familie, seiner Klasse und seiner Weltanschauung, mit seinem weißen Haar und der hohen, gewölbten Stirn, Verfechter von Mäßigung, Ordnung und Liebe zu Besitz. Der einsamste alte Mann in ganz London.

Da saß er im düsteren Komfort seines Zimmers, eine Marionette in den Händen großer Mächte, die sich unbeeindruckt von Familie oder Klasse oder Weltanschauung wie Maschinen in schrecklichen Schritten auf unergründliche Ziele zubewegten. So erschien es dem jungen Jolyon als neutralem Betrachter.

Armer alter Papa! Das war also das Ende, das Ziel, auf das er mit so bewundernswerter Mäßigung hingelebt hatte! Einsam zu sein und immer älter zu werden und sich dabei so sehr nach jemandem zum Reden zu sehnen!

Der alte Jolyon wiederum sah seinen Sohn an. Er wollte über so vieles reden, über das er all die Jahre nicht hatte reden können. June hatte er unmöglich ernsthaft anvertrauen können, dass er überzeugt war, dass der Wert von Grundstücken in Soho steigen würde. Oder dass es ihm Unbehagen bereitete, dass Pippin, der Verwalter der New Colliery Company, deren Vorsitzender er so lange gewesen war, nie auch nur einen Ton von sich gab. Oder wie sehr es ihn aufregte, dass die American Golgothas immerzu sanken. Es war nicht einmal möglich gewesen, darüber zu reden, wie er am besten durch irgendeine finanzielle Vereinbarung jene Erbschaftssteuern umgehen konnte, die mit seinem Tod anfallen würden. Unter dem Einfluss einer Tasse Tee, in der er endlos zu rühren schien, fing er dann doch endlich an zu reden. Damit eröffnete sich eine neue Perspektive in seinem Leben, ein gelobtes Land der Gespräche, das ihm ein schützender Hafen inmitten der Wogen von Erwartungen und Reue sein konnte, wo er seine Seele mit dem Opium des Planens von Möglichkeiten zur Abrundung seines Vermögens zur Ruhe kommen lassen und den einzigen Teil von ihm, der auch nach seinem Tod noch da sein würde, unsterblich machen konnte.

Der junge Jolyon war ein guter Zuhörer, das war seine Stärke. Er blickte seinen Vater unentwegt an und stellte hin und wieder eine Frage.

Die Uhr schlug eins, bevor der alte Jolyon zu Ende geredet hatte, und mit dem Klang der Uhr kehrten seine Prinzipien wieder zurück. Überrascht holte er seine Uhr hervor: »Ich muss ins Bett, Jo«, sagte er.

Der junge Jolyon stand auf und streckte seinem Vater die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. Das alte Gesicht sah wieder erschöpft und eingefallen aus, er hielt den Blick geflissentlich abgewandt.

»Mach’s gut, Junge. Pass auf dich auf.«

Ein Augenblick verging, dann drehte sich der junge Jolyon um und ging zur Tür hinaus. Er konnte kaum sehen, sein Lächeln zitterte. Nie zuvor in all den fünfzehn Jahren, seit er das erste Mal gemerkt hatte, dass das Leben keine einfache Angelegenheit war, hatte er es so unwahrscheinlich kompliziert gefunden.

Die Forsyte Saga

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