Читать книгу Ein Bild vom Wesen der Natur - John Collins - Страница 5
I. Der Wald
ОглавлениеEin Ausflug in einem Wald ist wie eintauchen in einem anderen Organismus. Im Wald sind wir Einverleibt in etwas Fremdes und doch erzeugt diese Umgebung in uns ein Wohlgefühl der Zugehörigkeit. Wir spüren die Vitalität einer geheimnisvollen organisch gewordenen Wesenheit. Während unserer Natur-Abwesenheit, haben wir uns zu Fremdlingen entwickelt. Wir sind den einst verlorenen Kindern ähnlich, die im späteren Leben an den Ort ihres Ursprungs zurückgekehrt sind. Der Waldgeruch hat herbe und milde Nuancen und wir riechen, wenn wir die frische kühle Luft des Waldes einatmen, eine Umgebung die uns im Inneren vertraut erscheint. Es ist die Urvertrautheit bei sich selbst zu sein. Noch sind unsere Schritte ein wenig ungeübt. Und ohne es zu Wissen, wird jeder Schritt den wir machen von vielen Augen genau beobachtet. Wir sind es nicht gewohnt auf unebenen, weichen und feuchten Böden zu gehen. Hier und da stolpern wir über die hervorstehenden Äste und verletzen uns an ihnen. Gelegentlich rutschen wir aus und fallen tollpatschig hin. Beim Vorbeistreifen spüren wir den Pieks der Brombeerbüsche, wenn sich ein Dorn in unsere Haut hineingebohrt hat. Vielleicht will uns der Wald sagen: „Bei uns seid ihr willkommen, solange uns euer Verhalten passt. Hütet Euch jedoch vor unvorsichtigen Fehltritten. Eineinziger kann zum Zorn der Gemeinschaft führen.“ Wir sollten nicht nachtragend sein - auch dann nicht, wenn vielleicht mal ein Insekt zugebissen oder gestochen hat. Ähnlich wie der Wald, haben auch wir Menschen sehr effektive Eintritts- und Schutzbarrieren, die auch uns vor ungebetene Gäste oder besser gesagt; Eindringlingen bewahren. An vorderster Front stehen die Eigenschaften unserer Haut und Schleimhäute die uns vor krankmachenden Einflüssen schützen. Im Körperinneren hält sich eine komplexe Armada von Abwehrmechanismen zur Verfügung. So wiederholen sich die Prinzipien des Lebens innerhalb der Natur in unterschiedlichster Art und Weise. Ob der moderne Mensch im Wald tatsächlich noch willkommen ist, scheint allerdings fraglich zu sein. In einem intakten natürlichen Wald, fällt mir keine nützliche Funktion ein die wir Menschen noch hätten. (Die Maßnahmen im Wirtschaftsforst sind lediglich ein notwendiger Kompromiss). Insofern, sind wir eher geduldete als willkommene Fremdlinge. Wenn wir lediglich harmlose Fremdlinge bleiben und uns nicht wie Eindringlinge verhalten, ist nichts dagegen einzuwenden, den Wald hin und wieder aufzusuchen.
Langsam gewöhnen wir uns an die Gegebenheiten des Waldes. Allmählich erwacht in uns ein Gespür für die Erscheinungen der Natur. Das Belebte und das Unbelebte, die vielfältigen Formen und Farben, das Licht und die Schatten, die Bewegungen die wir wahrnehmen, die Luft die wir atmen, alles wirkt zusammen und reflektiert die Einheit einer abgestimmten Harmonie des Werdens und Vergehens. Uns wird bewusst, wie nahe lebendig sein, sterben und Tod beieinander liegen, denn diese sind unabdingbare Voraussetzungen für das gestaltete Leben im großen Kreislauf der irdischen Natur. Es sind zusammenwirkende Energien, die auch in uns Menschen wirken. Wie ein Schlüssel öffnet der Wald unsere innere Welt und vereint sie mit der Natur. In uns erwacht die Bewusstheit ein Teil dieser Vollkommenheit zu sein. Wir lernen die Zusammenhänge kennen und spüren die wohltuende Vielfalt in einer unfassbaren Einheit. Die Augen die uns immer noch im Visier haben erkennen wir nun auch. Es sind die uns misstrauisch beobachtende große und kleine Waldbewohner. Wie verschmolzen sind sie eingepasst in ihrer heimatlichen Umgebung. Überall im Wald wiederholen sich ihre Formen und Farben tausendfach. Wenn sie sich bewegen, so scheinen sie sich aus ihrer unmittelbaren Umgebung wie aus dem Nichts zu lösen. Zwischen dem Gesträuch sind die dunklen Augen eines scheuen Rehs auf uns gerichtet. Einen kurzen Moment verharrt es noch und dann springt es davon. Bis dahin genauso unsichtbar, lösen sich zwei weitere Rehe aus ihrer Deckung und springen hinterher. Geschmeidig gleiten sie nahezu geräuschlos durch den Wald. Nirgendwo stoßen sie an und nirgendwo stolpern sie drüber. Wie lebendige Puzzelteile passen sie perfekt in das Gefüge ihrer Umgebung und sind für die Fortbewegung in dieser Umwelt ideal gestaltet. Wer weiß, vielleicht sind wir irgendwann schon mal an irgendwelche unauffälligen Erdhügel vorbeigegangen, ohne es bemerkt zu haben, dass diese in Wirklichkeit keine Erdhügel, sondern Wildschweine waren. Regungslos verharren sie in ihrer vertrauten Umgebung. Ihre Borsten haben den Anschein von dürr gewordenen Gräsern die im Spiel des Lichtes, des Schattens und der Farben des Waldes verschmelzen. So bleiben diese Tiere für uns Spaziergänger nahezu unsichtbar. Und wenn man doch einmal das seltene Glück hatte Wildschweine zu Gesicht zu bekommen - vielleicht sogar Auge in Auge blickend -, dann wird man sich immer wieder gerne an diesen seltenen Augenblick erinnern. Es kann auch vorkommen, dass uns ein kleines, plötzlich hochspringendes Erdklümpchen überrascht und sich so als Kröte enttarnt. Unzählige Staren können sich auf einen einzigen Baum versammelt haben. Von den Bewegungen der Blätter sind sie kaum zu unterscheiden. Lediglich ihr lautes Geschrei verrät dass sie tatsächlich da sind.
Für den Frieden im Wald ist es sicher besser, wenn dieser Ort vor Besucheranstürmen bewahrt bliebe. Auch ohne unseren Besuch sind die Tiere aufgrund des Straßenverkehrs und den Forstarbeiten im Übermaß belastet. Die Förster und Jäger wären wenig erfreut, wenn zu viele „Naturfreunde“ den Wald durchkämmen würden. Und so befindet sich der heutige Mensch in einer ambivalenten Situation. Auf der einen Seite sollte er sein Dasein in enger Verbundenheit mit der Natur gestalten. Mit den Früchten des Waldes (Kräuter, Pilze, Beeren, Nüsse und Knollen) könnten wir unseren Tisch jeden Tag reichlich decken. Die tägliche Bewegung beim Sammeln quer durch das Unterholz, käme unserer Gesundheit zugute. Andererseits, wäre dieses Verhalten in größerem Stil, eher unzuträglich für den Frieden im Wald. Wer den Wald nicht kennt und wie heutzutage üblich, die Küchen- und vielleicht auch Heilkräuter sich im Supermarkt bzw. aus der Apotheke besorgt; wer sich von der Natur distanziert und so den Wald - unbeabsichtigt - in Ruhe lässt, ist solch ein Mensch, der womöglich nicht einmal weiß die Natur zu schätzen, am Ende der wahre „Naturfreund“? Als der Menschen vor einigen Jahrtausenden den Wald als ursprüngliche Heimat verließ, wurde diese Distanziertheit tatsächlich allmählich zu seinem Schicksaal. Für das Ökosystem Wald, ist ein Sechsfamilienhaus in der Stadt eine geringere Belastung als sechs idyllische Einfamilienhäuser auf dem Lande. Die Urbanisierung ist ein notwendiger Kompromiss der menschlichen (Über-)Bevölkerung. Der Rückzug aus der Natur hat uns Menschen verändert. Diese Veränderungen gehen einher mit den erforderlichen Anpassungsprozessen in der Zivilisation. Die Entwicklung unserer Zivilisation ist ein menschlicher Prozess, d.h. sie wird fortschreiten und ob wir es wollen oder nicht, wird sie jeden Einzelnen von uns mitnehmen. Im Denken und Handeln haben wir uns von unserem inneren Naturwesen schon lange verabschiedet. Als menschliche Wesen haben wir die Gestalt des Kulturwesens angenommen. Aber auch diese Umgestaltung ist nicht vollendet – im Übrigen wird sie, solange es uns Menschen gibt, niemals vollendet sein. Die aktive Zivilisation - die menschliche Kultur - hat kein endgültiges Ziel.
Der wirtschaftliche Einfluss den der Wald unterliegt ist deutlich sichtbar. Glücklicherweise gibt es jedoch zwischen den forstwirtschaftlichen Aktivitäten lange Perioden in denen der Wald sich wieder regenerieren kann. Und so ist der Wald eines der wenigen Refugien unserer kultivierten Landschaft in dem sich das Leben noch einigermaßen natur- und artgemäß gestalten kann. Wenn Flora und Fauna über genügend geeigneten Lebensraum verfügen, dann sind ihre Verkörperungen in exakter Weise aufeinander angepasst. In dieser Gemeinschaft sind alle Aufgaben und Funktionen aufeinander abgestimmt. Diese enge Verflechtung kann nur dann gedeihen, wenn jedes Lebewesen das Gesamtprogramm der Natur und des Lebens in sich trägt. Es sind Informationen die alle Lebewesen in sich haben – übrigens auch wir Menschen. Wir moderne Zivilisationsmenschen sind Lebewesen die es gewohnt sind auf glatten Linoleumböden zu gehen. Überhaupt meiden wir das Gehen so gut es geht. Stattdessen nehmen wir auch für kurze Entfernungen viel lieber das Auto. Selbst gewöhnliche Treppen sehen wir als Unbequemlichkeit und bevorzugen Rolltreppen sowie Aufzüge. Wenn Körperteile die wir nicht mehr benötigen im Laufe der Zeit verkümmern, wie mögen wohl die Füße eines Menschen in fünfzigtausend Jahren aussehen? Ob diese Körperteile als Füße noch erkennbar sein werden? Oder wird bis dahin nur noch ein kümmerliches Restgebilde aus vergangenen Zeiten übrig geblieben sein? Als solches hätten die Füße des zukünftigen Menschen ihre natürlichen Funktionen verloren. In einer zunehmend virtuellen Welt spielt die körperliche Fortbewegung ohnehin eine untergeordnete Rolle. Mit der Assistenz von Robotern ließe sich ein bequemes und bewegungsarmes „menschliche“ Leben durchaus führen. Falls dieser zukünftige Mensch sich ausnahmsweise doch mal selbstständig fortbewegen müsste, so wäre er auf angepasster Prothesentechnik angewiesen. Wie die Füße, würden auch die übrigen Körperteile langsam verkümmern und irgendwann möglicherweise ganz verschwinden. Die Menschheit von heute wäre mitverantwortlich, wenn sich das Menschsein in dieser oder ähnlicher Weise verändern würde. Wenn eines Tages nicht mehr unsere Körperlichkeit, sondern die Technik den unmittelbaren Kontakt mit der Natur hätte. Glücklicherweise haben wir noch halbwegs geländegängige Füße. Auch insgesamt ist der Mensch mit der Natur noch einigermaßen kompatibel. Sicher bedeutet Mensch sein; Mensch in der Gesellschaft zu sein. Um im Prozess der menschlichen Entwicklung unser Menschsein zu wahren, muss jedoch auch die Verbindung zur Natur gewahrt bleiben. Denn von der Natur erhalten wir die Beständigkeit, die zur Bewältigung der anstrengenden gesellschaftlichen Veränderungen erforderlich ist.