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DOSSIER ÜBER EINEN LAIRD

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Es würde offensichtlich ein langer Abend werden, und Bond fand, dass er May, seine fähige und treue Haushälterin, nicht überraschen sollte, indem er unvermittelt und mitten in der Nacht in seine Wohnung in der King’s Road zurückkehrte.

Bevor M mit den Einzelheiten des Dossiers, das voller Geheimnisse vor ihnen lag, loslegen konnte, bat Bond um die Erlaubnis, das Büro für einen Moment verlassen zu dürfen.

M schenkte ihm einen seiner verärgerten, altmodischen Blicke, bekundete aber widerwillig mit einem Nicken seine Zustimmung, dass Bond von seinem eigenen Büro aus ungestört ein Telefonat führen könne.

Letztendlich war es dann doch leichter für Bond, seine eigene Nummer an Miss Moneypennys Apparat zu wählen. May hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, die Bürozeiten ihres Arbeitgebers zu begreifen, und fragte nur, ob er etwas Besonderes zu essen haben wolle, wenn er nach Hause komme. Bond erwiderte, dass er nichts gegen ein paar nette geräucherte Schellfische einzuwenden hätte – falls sie noch welche da hätte. Da May in Fragen der Küchenausstattung eine streng konservative Einstellung pflegte, hätte sie nie im Leben eine Gefriertruhe in ihrem Reich zugelassen. Bond war diesbezüglich ihrer Meinung, auch wenn es manchmal angenehm war, Delikatessen in Reichweite zu haben, also hatten sie einen Kompromiss gemacht. Bond hatte sie taktvoll dazu überredet, den Kauf eines großen Bosch-Kühlschranks mit einem geräumigen Tiefkühlfach zu gestatten, das May dann die Eiskiste getauft hatte. Nun glaubte sie, dass vielleicht noch ein paar geräucherte Schellfische in der »Eiskiste« sein könnten und fügte hinzu: »Ich werde sehen, was ich tun kann, Mr James, aber kommen Sie nicht allzu spät zurück.« Wenn sie in der richtigen Stimmung war, hatte May die Angewohnheit, Bond so zu behandeln wie ein Kindermädchen seine kleinen Schützlinge.

Die Tatsache, dass Bond das Büro nur für ein paar Minuten verlassen hatte, besänftigte M, der seine Pfeife neu gestopft hatte und die Dossiers studierte. In bissigem Ton fragte er, ob es 007 gelungen sei, die Angelegenheit so zu regeln, dass sie nicht noch einmal unterbrechen mussten.

»Ja, Sir«, antwortete Bond ruhig. »Ich bin bereit für den Laird von Murcaldy, Rob Roy und sogar Bonnie Prince Charlie, wenn Sie das wünschen.«

»Das ist nicht zum Lachen, 007«, sagte M streng. »Die Murik-Familie ist eine adlige Linie. Es gab einen Laird von Murcaldy bei Dunbar und einen weiteren bei Culloden Moor. Allerdings ist es möglich, dass die wahre Linie mit dem Großvater des aktuellen Lairds ausstarb. Das muss noch bewiesen oder sogar richtig getestet werden, aber das ist eine Angelegenheit, die den Lord Lyon King of Arms beschäftigt.« Er blätterte ein wenig im ersten Dossier. »Anton Muriks Großvater war ein bekannter Abenteurer – ein Reisender. Im Jahr 1890 war er für über drei Monate in Mitteleuropa verschollen – es hieß, er sei auf der Suche nach seinem Bruder gewesen, der wegen irgendeines Vergehens enterbt worden war. Ihre Eltern waren tot, und die Dorfbewohner glaubten, dass Angus Murik – so lautete sein Name – vorhatte, mit seinem Bruder zurückzukehren und das schwarze Schaf der Familie zurück in die Herde zu holen. Doch stattdessen kehrte er mit einer Ehefrau zurück. Den Aufzeichnungen zufolge handelte es sich um eine Ausländerin. Sie war schwanger, und es gab außerdem schriftliche Dokumente, die darauf hindeuteten, dass der verlorene Laird gar nicht Angus, sondern dessen Bruder Hamish war. Man vermutete auch, dass das Kind, das später Antons Vater werden sollte, unehelich geboren wurde, da es keinerlei Aufzeichnungen über eine Eheschließung gab.«

Bond schnaubte. »Aber das würde die Blutlinie doch sicher nur schwächen und nicht komplett zerstören.«

»Normalerweise schon«, fuhr M fort. »Doch Anton wurde zusätzlich unter ungewöhnlichen Umständen geboren. Sein Vater war ein wilder Bursche, der sich im Alter von achtzehn ebenfalls auf Reisen begab. Er kehrte nie zurück. Es gibt einen vollständig erhaltenen Brief, in dem steht, dass er in Palermo eine Engländerin von guter Herkunft geheiratet hätte. Doch kurz darauf traf eine junge hochschwangere Frau in Murik Castle ein und verkündete die Neuigkeit, dass ihr Ehemann, der Erbe des Titels, während einer Expedition nach Sizilien von Banditen getötet worden sei.«

»Wann war das?« Für Bond klang das nach einer verwirrenden und seltsamen Geschichte.

»1920.« M nickte, als würde er Bonds Gedanken lesen. »Ja, und es existieren Zeitungsberichte über einen ›englischen‹ Herrn, der auf Sizilien ermordet wurde. Die Zeitungen behaupten allerdings, dass die Frau dieses Mannes ebenfalls bei dem Überfall ums Leben kam, obwohl die junge Frau darauf beharrte, dass ihr Dienstmädchen diejenige war, die starb. Die Gräber in Caltanissetta sind entsprechend beschriftet, aber Tagebücher und ein paar Erinnerungen besagen, dass die junge Frau, die sich als die Ehefrau des mutmaßlichen Lairds vorstellte, alles andere als eine englische Dame von guter Herkunft war. Es ist schwierig, Fakten von Fiktion zu trennen. Doch wir wissen mit Sicherheit, dass einige der älteren Leute auf dem Murik-Anwesen nach wie vor darauf bestehen, dass Anton nicht der wahre Laird ist – doch da sie natürlich wissen, mit wem sie sich gut stellen müssen, flüstern sie nur heimlich darüber und werden es weder Fremden noch einer Behörde gegenüber zugeben.«

»Aber das Baby wurde Anton getauft und übernahm den Titel?«

»Es wurde Anton Angus getauft und erhielt den Titel Laird von Murcaldy, ja«, bestätigte M mit kaum merklich verzogenen Lippen.

»Also müssen wir ihn wie einen schottischen Laird behandeln, egal was passiert. Ich vermute, er ist außerdem ein echter Kernphysiker? Müssen wir diesen Teil ernst nehmen?«

»Wir nehmen ihn sogar sehr ernst«, sagte M und wiederholte: »Sehr ernst. Es besteht absolut kein Zweifel, dass Anton Murik ein hochintelligenter Mann mit großem Einfluss ist. Sehen Sie sich nur mal die Zusammenfassung seines Werdegangs an.« Er reichte Bond die entsprechende Seite des Dossiers, und Bond überflog die Informationen schnell:

Anton Angus Murik. Geboren in Murik Castle, Murcaldy, Ross und Cromarty, Schottland, 18. Dezember 1920. Ausgebildet in Harrow und am St. John’s College, Cambridge. Bestnoten in Physik gefolgt von einem Stipendium und dann einem Doktorat. So gut, dass er unter Professor Lindemann – dem späteren Lord Cherwell – arbeiten durfte, dem wissenschaftlichen Berater Winston Churchills. Arbeitete auch am Manhattan-Projekt (der Entwicklung und Erprobung der ersten Atombombe) und ist Mitglied im Komitee für den friedlichen Einsatz von Atomenergie und der internationalen Kommission für Atomenergie …

Murik hatte sich erst vor zwei Jahren von dieser letzten Position zurückgezogen. Es folgte eine lange und beeindruckende Liste aus Firmen, mit denen Murik in Verbindung stand. Bond zog seine Augenbrauen immer höher, während er die Liste las. Unter anderem war Anton Murik der Vorsitzende von Micro-Modulators Ltd., Eldon Electronics Ltd., Micro Sea Scale Ltd. und Aldan Aerospace Inc. Außerdem war er Mitglied in zahllosen Gremien, die alle eine direkte Verbindung zu Atomkraft oder Elektronik hatten. Bond sah auch, dass die Firmen einige Spezialisten unter Vertrag hatten, die sich bestens mit der Entwicklung und dem Bau von einsatzfähigen Kernreaktoren auskannten.

»Erkennen Sie, was nicht zum Rest passt?«, fragte M durch eine Wolke aus Pfeifenrauch.

Bond schaute erneut auf die Liste. Ja, dort zwischen all den Elektronik- und Atomenergiefirmen und den Luft- und Raumfahrtkonzernen befand sich ein seltsamer Eintrag mit der Bezeichnung Roussillon Fashions. Bond las den Eintrag laut vor.

»Ja. Eine verdammte Kleiderfabrik«, schnaubte M.

Bond lächelte in sich hinein. »Ich glaube, es ist ein wenig mehr als nur eine Kleiderfabrik, Sir. Roussillon ist eines der führenden Modehäuser der Welt. Sie haben Zweigstellen in London, Paris, Rom, New York, die ganze Palette. Fragen Sie jede beliebige Frau mit einem Sinn für Mode. Ich schätze, Roussillon rangiert unter den fünf größten Modehäusern der Welt.«

M schnaubte wieder. »Und sie verlangen zweifellos auch die höchsten Preise. Nun ja, Anton Murik besitzt einen Hauptanteil an dieser Firma.«

»Ich vermute, er zieht nicht einfach nur gerne schicke teure Frauenkleider an oder so was in der Art?« Bond grinste.

»Seien Sie nicht so frivol, 007. Sie müssen den finanziellen Aspekt bedenken.«

»Tja, er muss Multimillionär sein«, sagte Bond fast zu sich selbst. Solche Dinge beeindruckten ihn selten, aber allein anhand der Liste vor ihm auf dem Tisch konnte er erkennen, dass Dr. Anton Murik über beträchtliche Macht verfügte. »Wie in aller Welt hat es ein Mann mit diesen Qualifikationen geschafft, aus dem internationalen Komitee für Atomenergie geworfen zu werden, Sir?«

M zögerte nicht. »Zum einen ist er in Bezug auf Geschäftsangelegenheiten absolut skrupellos. Er hat sich bei einigen seiner Geschäfte mit den hier aufgeführten Firmen recht nah am Rand der Legalität bewegt. Mindestens zwei seiner Vorsitze erhielt er, indem er fast wortwörtlich über die Leichen anderer Männer ging.«

»Die meisten guten Geschäftsmänner neigen zur Skrupellosigkeit …«, begann Bond, aber M hob eine Hand.

»Da war noch etwas anderes«, sagte er. »Anton Murik ist in gewisser Hinsicht ein Fanatiker und neigt dazu, sich der Meinung der Leute anzuschließen, die gegen den Einsatz von Kernenergie und die Gefahren bei der Entsorgung von Atommüll protestieren. Er hat eine Kampagne gegen die Benutzung von bereits in Betrieb genommenen oder kurz vor der Inbetriebnahme stehenden Kernreaktoren ins Rollen gebracht. Weltweit. Sehen Sie, 007, der Mann behauptet, den ultimativen Reaktor entwickelt zu haben – ein Modell, das nicht nur Energie liefert, sondern auch den Abfall sicher entsorgt und keine Fehlfunktionen erleiden kann. Er nennt ihn den Murik-Ultrasicher-Reaktor.«

»Und seine Kollegen haben ihm das nicht abgenommen?«

»›Nicht abgenommen‹ ist eine Untertreibung. Seine Kollegen sagen, dass es in der Bauweise des Ultrasicher-Reaktors grobe Fehler gibt. Manche gehen sogar so weit, zu behaupten, dass das gesamte Ding potenziell hundert Mal gefährlicher ist als die derzeitigen Modelle – die Schnellbrutreaktoren, Siedewasserreaktoren, Druckwasserreaktoren, die gas- und graphitmoderierten Reaktoren und Schnellbrüter, die mit flüssigem Metall gekühlt werden. Murik wollte Fördergelder von der Kommission, um seinen eigenen Reaktor zu bauen und zu beweisen, dass seine Kollegen unrecht haben.«

»Also drehten sie ihm den Geldhahn zu.«

M bestätigte, dass sie genau das getan hatten, und Bond lachte erneut und wies darauf hin, dass etwas so Unbedeutendes wie Geld für einen Multimillionär keine Rolle spielen dürfte. »Murik könnte doch sicher einfach seinen eigenen Reaktor bauen – in seinem Garten hinterm Haus. Platz genug scheint dort ja zu sein.«

M seufzte. »Wir reden hier von mehreren Milliarden Dollar, Milliarden Pfund Sterling, James. Anton Murik hat sich mit seinen Kollegen gestritten. Offenbar gab es ein paar heftige Auseinandersetzungen und Andeutungen, dass der Mann alles andere als zurechnungsfähig ist.« Er berührte seine Stirn mit einem seiner Zeigefinger. »Das ist auch der Grund, warum mich die Tatsache, dass er Kontakt zu einem Burschen wie Franco hat, so beunruhigt. Und es ist der Grund, warum ich auf keinen Fall zulassen werde, dass Sie sich unvorbereitet in diesen Auftrag stürzen. Ich könnte natürlich falschliegen, aber ich glaube wirklich nicht, dass eine Woche oder so einen großen Unterschied machen wird. Vor allem wenn ich Sie in dieser Zeit zu einem idealen Maulwurf machen und Sie in Muriks Gefolge unterbringen kann. Und abgesehen davon«, M machte sich daran, wieder in seinem eigenen Dossier zu blättern, »denke ich, dass es besser wäre, wenn Sie Anton Murik in seinem eigenen Haushalt begegnen.« Er zog mehrere Fotos aus den Tiefen der dicken Aktenmappe.

»Dann werden Sie Duggans Anfrage also offiziell ablehnen?« Bond konzentrierte sich nun voll und ganz auf den vor ihm liegenden Auftrag. Die lange Zeit der Untätigkeit spielte für ihn keine große Rolle. Mit seiner Arbeit war es wie mit Schwimmen oder Tauchen: Sobald man die Grundlagen beherrschte, kam die Professionalität im Handumdrehen zurück, wenn sich etwas Wichtiges ergab. Welchen Plan Franco oder Dr. Anton auch ausheckten, Bond würde nun keine Ruhe mehr geben, bis er diesen Auftrag beendet hatte, egal als wie gefährlich oder anstrengend oder langweilig er sich herausstellen mochte.

M schnaubte. »Duggan hat zwei gute Leute im Einsatz. Sie haben bereits vier Mal versucht, sich an Francos Fersen zu heften – also haben sie darin jede Menge Übung. Das sollte sie irgendwann zu Meistern ihres Fachs machen. Ich vertraue darauf, dass sie den Ort, von dem aus er das Land verlässt, dieses Mal ausfindig machen werden. Wir werden Franco beschatten lassen, wenn der richtige Moment dafür gekommen ist. Ihre Aufgabe ist zu wichtig …« Er musste den fragenden Ausdruck auf Bonds Gesicht gesehen haben. »Und sagen Sie mir nicht, dass ich Sie in den Zuständigkeitsbereich des MI5 schicke. Das weiß ich, und Sie wissen es ebenfalls, aber ich habe so ein Gefühl, dass das nicht lange anhalten wird. Sie werden Schottland verlassen, sobald das, was immer sie da zusammenbrauen, anfängt zu kochen. Und nun schauen wir uns ein paar hübsche Bilder an.«

Zuerst erklärte er das Offensichtliche. Da er ein Schloss und ein riesiges Anwesen besaß, hatte der Laird von Murcaldy jede Menge Angestellte, auf die er jederzeit zurückgreifen konnte. »Er hat dort oben Wildhüter, Aufseher und jede nur vorstellbare Art von Bediensteten, von Fahrern bis hin zu Wachen. Was also den Laird angeht, hat er kein wirkliches Sicherheitsproblem. Es gibt allerdings noch einen zentralen Familienkern. Zuallererst ist da der Doktor selbst.«

Das Foto zeigte ein kampflustiges Gesicht, das dem des verstorbenen Lord Beaverbrook ähnelte, nur dass es keine Lachfalten um den Mund herum hatte. Eine Bulldogge von einem Mann mit kalten Augen, die auf jemanden oder etwas – mit Sicherheit nicht auf die Kamera – leicht rechts von ihm gerichtet waren. Der Mund war eine harte, unnachgiebige Linie, und die Ohren, die sehr flach an seinem Kopf anlagen, verliehen ihm eine seltsame, symmetrische Kontur. Fotos konnten trügerisch sein – Bond wusste das nur zu gut –, aber dieser Mann, der von einem schnellen Klicken und dem Schließen einer Blende auf das Papier gebannt worden war, hätte der Sohn eines Pfarrers sein können. Er hatte dieses leicht puritanische Aussehen – ein Verfechter von Disziplin, einer, der wusste, was er wollte, und seinen Willen durchsetzen würde, egal was ihm im Weg stand. Bond fühlte sich ein wenig unwohl. Er würde nicht offen zugeben, dass er beim Anblick eines Fotos etwas so Heftiges wie Angst empfand, aber das Bild machte deutlich, dass der Laird von Murcaldy eine Gewalt war: eine Macht.

Der nächste Abzug zeigte eine Frau, die vermutlich Anfang vierzig war, sehr gut aussah und scharfe, klassische Züge sowie dunkles, hochtoupiertes Haar hatte. Ihre Augen waren groß, aber nicht unschuldig – fand Bond. Selbst auf diesem Bild schienen sie eine Fülle an weltlichem Wissen zu enthalten, und der Mund war zwar groß, wirkte aber nicht unproportional. Die Mundwinkel waren leicht nach oben gezogen, wodurch die Gesichtszüge ein wenig milder schienen.

»Miss Mary-Jane Mashkin«, sagte M, als würde das alles erklären.

Bond warf seinem Vorgesetzten einen fragenden Blick zu. Das Komma aus Haaren hing über seine rechte Augenbraue, als wollte es ein Fragezeichen bilden.

»Seine graue Eminenz, wie manche behaupten.« M paffte an seiner Pfeife, als wäre er ein wenig peinlich berührt. »Zweifellos Muriks Geliebte. Sie war zehn Jahre lang seine Sekretärin. Sie ist Muriks starker rechter Arm und seine persönliche Beraterin. Sie ist ausgebildete Physikerin. Universität von Cambridge, genau wie der Laird, allerdings nicht sein Maßstab, wie es scheint. Sie fungiert für ihn als Gastgeberin und lebt in Murik Castle. Sie reist mit ihm, isst mit ihm … und macht auch sonst alles mit ihm.«

Bond überlegte, dass er mit seiner Einschätzung bezüglich des Puritanismus falschgelegen haben könnte, revidierte den Gedanken dann aber. Es war durchaus möglich, dass Anton Murik ein starkes Moralempfinden im Hinblick auf die Handlungen anderer Personen hatte, während er sich selbst von derartigen Einschränkungen ausschloss. So etwas kam ständig vor. Zum Beispiel bei den Leuten, die gegen Fernsehsendungen und Filme protestierten und sich dabei einbildeten, dass sie selbst gegenüber moralischen Gefahren immun waren.

»Ich vermute, dass er sich in vielen Angelegenheiten von ihr beraten lässt, aber ich bezweifle, dass sie ihn bei sehr wichtigen Entscheidungen beeinflussen kann.« M schob ein drittes Foto in Bonds Richtung.

Es zeigte eine weitere Frau. Sie war sehr viel jünger und, sofern das Bild die Realität widerspiegelte, absolut umwerfend. Dichtes blondes glattes Haar rahmte ihr Gesicht ein, das an die junge Lauren Bacall erinnerte. Es wies die gleichen hohen Wangenknochen und verführerischen dunklen Augen auf, und der Mund war aufgrund der Sinnlichkeit der Unterlippe bemerkenswert. Die Brauen über den Augen waren natürlich geformt und sahen wie eine Art verlängerter Zirkumflex aus. Bond gestattete sich ein fast unhörbares leises Pfeifen.

M unterband diese reflexartige Reaktion sofort: »Anton Muriks Mündel. Miss Lavender Peacock. Die Art ihrer Beziehung ist nicht bekannt. Sie wurde 1970 sein Mündel, vollkommen legal – im Gerichtsbeschluss heißt es, sie sei die Tochter eines Cousins zweiten Grades. Ihr Vater und ihre Mutter kamen bei einem Flugzeugunglück ums Leben. Es gibt ein wenig Geld – ein paar Tausend –, das Miss Peacock erhält, sobald sie ihr siebenundzwanzigstes Lebensjahr erreicht. Das wird nächstes Jahr der Fall sein.«

Bond stellte laut fest, dass Lavender Peacock eine beeindruckende Frau sei, er aber auch glaube, sie von irgendwoher zu kennen – und das liege nicht nur an ihrer Ähnlichkeit mit der jungen Bacall.

»Schon möglich, 007. Dieses Mädchen wird allerdings an einer kurzen Leine gehalten. In manchen Angelegenheiten ist der Laird sehr altmodisch. Lavender Peacock wird wie ein zerbrechliches Porzellanpüppchen behandelt. Sie hatte als Kind Privatlehrer und durfte nur ins Ausland reisen, wenn Murik und ein paar zuverlässige Wachhunde sie begleiteten. Diese Mashkin hat sie ein wenig herumgeschleppt, und Sie könnten ihr Bild in Verbindung mit dieser Kleiderfirma gesehen haben. Von Zeit zu Zeit erlaubt der Laird ihr, als Modell zu arbeiten – aber nur zu ganz besonderen Anlässen und immer in Begleitung der Wachhunde.«

»Wachhunde?« Der Ausdruck machte Bond stutzig.

M stand auf und ging zum Fenster. Er schaute auf den Park hinaus, der nur noch undeutlich zu erkennen war, während die Sonne langsam unterging und die Lichter der Stadt nach und nach angingen.

»Wachhunde?«, wiederholte M. »Oh ja, hauptsächlich Frauen aus dem Umfeld der Mashkin und der Kleiderfirma.« Er drehte sich nicht zu Bond um. »Murik hat immer ein paar junge schottische Schlägertypen in der Nähe. Eine Art Leibwächter. Sie wissen ja, wie diese Leute sind. Sie sollen nicht nur sein Mündel, sondern die ganze Familie bewachen. Es gibt einen, der eine besondere Stellung innehat. Er ist so etwas wie der Leiter der Truppe. Wir haben kein Foto von ihm, aber ich habe eine Beschreibung erhalten. Er heißt Caber.«

Eine lange Stille entstand. Schließlich holte Bond tief Luft. Er hatte sich das Triptychon aus Fotos vor sich auf dem Tisch angesehen. »Ich soll mich also bei dieser kleinen Gruppe einschmeicheln, herausfinden, warum Franco ihnen so viel Aufmerksamkeit widmet, und mich im Großen und Ganzen unentbehrlich machen?«

»Ich denke, das wäre die geeignete Vorgehensweise.« M wandte sich vom Fenster ab. »Wir müssen das Spiel eine ganze Weile lang mitspielen, 007. Tatsächlich sogar sehr lange. Ich habe große Vorbehalte gegen Dr. Anton Murik. Er würde ohne zu zögern töten, wenn es für das Gelingen irgendeines Plans nötig wäre, von dem er besessen ist. Und wir wissen alle, dass er derzeit von dem Geschäft seines Ultrasicher-Kernreaktors besessen ist. Vielleicht steckt irgendein hirnrissiger Plan dahinter, bei dem er in eins von Francos Unternehmen investiert und damit großen Profit einstreicht – eine schnelle Nummer: genug Geld, um der Kommission für Atomenergie zu beweisen, dass sie falschliegt. Wer weiß? Es wird Ihre Aufgabe sein, das herauszufinden, James. Ihre Aufgabe und meine Verantwortung.«

»Vorschläge, wie ich das anstellen soll, wären mir willkommen«, begann Bond, doch als M gerade etwas erwidern wollte, klingelte das rote Telefon auf seinem Schreibtisch.

Für ein paar Minuten saß Bond schweigend da und lauschte Ms Seite der Unterhaltung mit Sir Richard Duggan. Als das Telefonat beendet war, lehnte sich M mit einem dünnen Lächeln zurück. »Damit wäre das also erledigt. Ich habe den MI5 darüber informiert, dass Sie bereit sind, einzuspringen und jeder Information nachzugehen, die sie mit uns teilen wollen, Duggan hat die Einzelheiten über seine Überwachungsleute hier drinnen zusammengefasst.« Er tippte mit den Knöcheln einer Hand auf die MI5-Akte. »Das übliche abenteuerliche Zeug, das sie zu mögen scheinen.«

»Und Franco?«

»Befindet sich definitiv auf Murik Castle. Sie haben es bestätigt. Keine Sorge, James, wenn er plötzlich abreist, werde ich jemanden auf ihn ansetzen, damit Sie Ihre Tarnung nicht aufgeben müssen.«

»Da wir gerade von Tarnung sprechen …«, begann Bond.

»Dazu komme ich gleich. Wie gelangen Sie in den Familienkreis? Nun, ich denke, Sie benutzen Ihren eigenen Namen, aber mit einer leicht abgeänderten Vita. Das können wir alles hier zusammenbasteln. Ein Söldner, denke ich. Sie haben gehört, was Ross über Muriks zweite Leidenschaft im Leben gesagt hat – Pferderennen. Tja, wie Sie wissen, laufen einige seiner Pferde nächste Woche in Ascot. Tatsächlich war das Pferd, das er für den Gold Cup angemeldet hat, erst einmal bei den drei großen Rennen dabei. Es heißt China Blue. Unser Freund, der Laird von Murcaldy, scheint ihnen gern beim Trainieren und Laufen zuzusehen – er genießt das ganze Drumherum mit den Rennstrecken und Trainern.«

»Nur zum Spaß«, sagte Bond, und M schaute ihn einen Augenblick lang merkwürdig an.

»Ich schätze schon«, erwiderte M schließlich. »Aber Muriks Besuch in Ascot nächste Woche sollte uns die Gelegenheit liefern. Sofern es keine kurzfristige Planänderung gibt, sollten Sie wohl in der Lage sein, am Tag des Gold Cups den Kontakt herzustellen. Damit bleibt uns noch genug Zeit, um Sie ausreichend vorzubereiten und anständig auszurüsten, was?«

James Bond 16: Kernschmelze

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