Читать книгу Der Brandkiller - Jonas Brix - Страница 8
IV
ОглавлениеUnterleutnant Bergfeld kannte natürlich nicht jeden Hof und jeden kleinen Nebenweg im Kreis Bernau, doch wenn man ihm die Lage eines Hauses ungefähr beschrieb, fand er es immer. Holbrechts Haus lag an der Chaussee zum Gorinsee, doch wo, das war in der hereingebrochenen Dunkelheit nicht zu sehen. Zweimal fuhr er an dem kleinen Nebenweg vorbei und musste dann sogar noch aussteigen, ehe er einen noch kleineren Weg entdeckte, von dem aus er durch die kahlen Flieder-, Holunder- und Seidelbastbäume drei Gebäude sah. Im Sommer waren sie wahrscheinlich hinter dem Grün der Blätter versteckt, und auch jetzt verdeckten zwei baumartige Rhododendron und einige Wacholder große Teile des Nebengebäudes. Er schaltete seine Taschenlampe an und orientierte sich.
Ein Hund schlug an, als er die schiefe Eingangspforte quietschend öffnete. Soweit er es orten konnte, kam das Gebell aus dem kleineren Nebengebäude, das rechtwinklig zum Vorderhaus stand. Im Hintergrund ragte eine große Scheune aus der Dunkelheit. Er ging um die Querseite herum und sah durch die Scheibe zwei alte Leute im Wohnzimmer sitzen. Der Mann hatte ein Bier vor sich, seine Frau schlief, es lief eine Sportsendung. Er hörte die laute Stimme des Reporters bis auf den Hof dringen.
Bergfeld klopfte an das Fenster und erst als er dachte, nun springt die Scheibe gleich in tausend Stücke, ruckte der Mann hoch und sah zum Fenster. Er kam an die Scheibe und sah ihn. Im Vorbeigehen rüttelte er seine Frau aus dem Schlaf, dann ging ein Licht über dem Eingang an und die Tür öffnete sich. „Ich wollte zu Jens Holbrecht, bin ich hier richtig?“ fragte Bergfeld.
„Zum wem?“ schrie der Mann. Er war mindestens Anfang achtzig.
„Zu Jens! Jens Holbrecht!“
„Der Jens ist da drüben.“ Er zeigte auf das Quergebäude. „Worum geht es denn?“ Der Mann bat ihn mit einer Handbewegung herein. Im Zimmer stand ein warmes, dumpfes Luftgemisch aus Muffigkeit und Arznei. Es war der Geruch alter Leute, den Bergfeld auch von seinen Eltern kannte. „Ich komme von der Kripo Bernau, es geht nur um eine Auskunft. Jens war Zeuge bei einem Streit.“
„Kripo? Bist du nicht der Abevau aus Klosterwalde?“ fragte der Alte und beugte sich vor. Er musste noch gute Augen haben.
„Ja, war ich mal“, sagte Bergfeld. „Ist Jens allein?“
Der Alte setzte sich wieder und ließ den Fernseher weiter so laut laufen. „Was denn sonst“, erwiderte er bitter. „Es sei denn, ein Kumpel kommt mal zum Saufen vorbei.“
„Jens – ist es Ihr Sohn?“ Bergfeld schrie fast.
„Nee, is unser Enkel. Seine Eltern haben sich vor langer Zeit getrennt. Meine Tochter ...“ Er machte eine resignierende Handbewegung.
„Ich wollte Sie nicht stören.“
„Nee, nee, tun Sie nich.“ Er blickte auf seine Frau, die unbeweglich auf der Couch saß und ihn schweigend beobachtete. „Und er hat wirklich nichts angestellt?“
„Nein, bestimmt nicht.“ Der Raum war überheizt und die Arzneiluft nahm ihm den Atem. So sah es aus, wenn alte Leute am Ende ihres Lebens standen. Was hatten sie früher an solchen und vielen anderen Winterabenden gemacht, ohne elektrisches Licht, ohne Radio oder Fernsehen? Wahrscheinlich hatten die meisten damals auf dem Land gar nicht die siebzig erreicht, auch wenn die Meinung umging, früher sei alles gesünder und echter gewesen. Methusalem. So ein Quatsch. Unter Bergfelds Vorfahren auf dem Dorf war nur eine Großmutter neunundachtzig geworden, alle anderen waren mit sechzig, fünfundsechzig verbraucht und gestorben. Oder viele der männlichen Vorfahren mit zwanzig oder fünfundzwanzig in diesen verdammten Kriegen gefallen. Und dieser Alte sah jetzt noch Sport, trotz Arznei und vielleicht Gicht. „Ja, wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich zu Jens rüber gehen.“ Ihm fiel das Hundegebell ein. „Was hat er denn für einen Hund?“
Der Alte erhob sich. „So’ne Promenadenmischung. Halber Schäferhund und schön wachsam. Aber nicht wirklich gefährlich, es sei denn, Sie greifen Jens an. Haben Sie denn Angst vor Hunden?“
„Normalerweise nicht. Ich habe selbst einen Rottweiler. Aber wenn sie ihren Hof und Hütte verteidigen, weiß man ja nie.“
„Ich komm’ mit.“
Er schlurfte vor ihm hinaus. Er war fast einen Kopf kleiner als Bergfeld und lief gebückt den beiden erleuchteten Fenstern entgegen. Die Vorhänge waren zugezogen, ein gelbes Licht warf langgezogene Vierecke in den Hof. Der Hund begann wieder zu bellen. Der Alte drückte die Klinke, die Tür war verschlossen und er bummerte dagegen. „Jens, mach’ auf. Besuch!“
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und Bergfeld musste sich zusammen nehmen. Zwar lag das Gesicht von Jens im Schatten, doch das schwache Hoflicht hob die eingepflanzten Hautteile und dunklen Stellen, die eckige, wie fahle Plastik wirkende Nase, die Hautwellen und Narben der Operation noch hervor.
Der Hund stand leise knurrend neben Jens Holbrecht und der Alte beruhigte ihn. „Kommen Sie rein“, sagte Jens und ging voraus. Der Alte brummelte einen Gruß und schlurfte zurück.
Als sie ins Zimmer traten, schien das gleichmäßig helle Licht das Gesicht ein wenig zu glätten. Die Narben ließen die Verbrennungen, die Schmerzen und die Operationen ahnen, doch sie wirkten nicht mehr so dämonisch wie im Halbdunkel. Jens deutete auf eine rote Sitzgarnitur. Dies hier war eine andere Welt, zwar auch bieder und solide, so, wie man sie eben in den Möbelgeschäften bekam, doch gegenüber dem Plüschzimmer der Großeltern erschien sie verhältnismäßig modern. Das ganze Zimmer war mit Holz ausgekleidet, auch die Decke. Saubere, sorgfältige Arbeit und Bergfeld überlegte sofort, ob diese Ausstattung zumindest für ein Zimmer seines Hauses auch etwas wäre. Hier war die Luft nicht dumpf und arzneibitter, hier hing Rauch in der Luft und leichter Biergeruch. Es erinnerte sofort an eine Kneipe; der volle Aschenbecher, ein halb gefülltes Bierglas und ein kleines Schnapsglas passten dazu.
„Sieht gut aus“, sagte Bergfeld und deutete auf die Holzpaneele. „Sauber, und vor allem: man braucht nicht alle paar Jahre neu zu tapezieren. Haben Sie das machen lassen?“
Jens Holbrecht schüttelte den Kopf und sein Gesicht verzog sich schief. Es sollte wohl ein erfreutes Lächeln sein. „Alles selbst gemacht. Ich arbeite im Holzkombinat, habe zwei Jahre Tischler gelernt, bis ... Jedenfalls reicht es für solche Arbeiten aus.“ Er deutete auf die Gläser, doch Bergfeld wehrte ab.
„Ich muss noch mit dem Auto fahren.“ Er räusperte sich. „Weshalb ich zu Ihnen komme, Herr Holbrecht: Es geht um den letzten Dienstagabend. Im Eichkater. Ich komme von der Kripo in Bernau.“ Er zeigte seinen Ausweis und Holbrecht studierte ihn gründlich. Bergfeld hatte das Gefühl, er sei neugierig und wolle sich einen Kripo-Ausweis einmal genau ansehen.
„Haben Sie nicht solche Marken, die Sie zeigen?“ Er imitierte eine Bewegung, als ziehe er eine Marke aus der Hosentasche. Dann gab er ihm den Ausweis zurück und stand auf, um den Ton des Fernsehers abzudrehen. Es war ein kleiner Schwarzweiß-Apparat und das Bild schwankte zwischen grießig und wellig. Draußen kam Wind auf.
„Nein, die haben wir schon lange nicht mehr“, sagte Bergfeld. „Wie lange weiß ich nicht, ich bin erst zwei Jahre dabei, war vorher Abevau in Klosterfelde.“
Wieder verzerrte sich das Gesicht. Es war schwer, sich an dieses Lächeln zu gewöhnen, das sich nur an einigen Stellen in Falten ausdrückte, die an dunklen Narben abrupt endeten. „Ich weiß, ich kenn’ Sie. Sie hätten mich vor ein paar Jahren mal fast erwischt, als ich abends mit dem Motorrad ohne Licht durch Klosterwalde gefahren bin. Nach einer Disko beim tapferen Schneiderlein.“ Der Hund, der neben seinem Herrchen saß und Bergfeld aufmerksam beobachtet hatte, legte sich hin. Offensichtlich war seine Prüfung abgeschlossen. Obwohl er nun den Kopf auf die Pfoten bettete und die Augen schloss, wusste Bergfeld genau, dass er weiter auf ihn achten würde.
„Als die Puhdys da waren?“ fragte Bergfeld. Sie waren einmal zu einem Rockabend in der Gaststätte 'Zum tapferen Schneiderlein' aufgetreten und Bergfeld hatte nie herausbekommen, wie es dem Wirt gelungen war, die berühmteste Rockgruppe der DDR in seinen kleinen Saal zu locken.
„Nee, leider. Es war eine andere Gruppe, die Dampflok, glaube ich.“ Daran konnte sich Bergfeld nicht erinnern. „Ja, und was wollen Sie nun von mir wissen?“
Bergfeld erklärte es ihm und bat ihn alles zu erzählen, was an dem Abend passiert sei. „Vor allem, worum es Müller und den anderen Männern bei dem Streit ging.“
„Streit – es war kein echter Streit, also mit Prügelei. Mehr so, wenn man besoffen ist, Sie wissen schon.“ Holbrecht zündete sich eine Zigarette an und Bergfeld wunderte sich, dass seine Hand zitterte. Er nahm einen Schluck Bier, goss aber keinen Klaren nach. Bergfeld konnte sich vorstellen, wie es in ihm aussah. Abend für Abend allein in der leeren Wohnung. Keine Frau. Die Enttäuschung, die Bitterkeit nach dem Unfall. Aber es war ja kein Unfall.
Holbrecht begann zu erzählen.
„Ich saß Dienstag im Eichkater, als drei Bekannte reinkamen, so gegen achtzehn Uhr. Zwei arbeiten bei der Melioration, der dicke Müller und Koller. Und der dritte arbeitet auch in Bernau, beim Rohrleitungsbau. Er heißt Gerhard Wengel.“ Er nahm einen Schluck Bier und füllte gleich wieder nach.
„Woher kennen Sie die Männer?“ fragte Bergfeld.
„Müller und Koller haben auch mal hier in Schönewald gewohnt, dann hat Müller eine Neubauwohnung gekriegt und ist mit seiner Frau nach Bernau gezogen, ist inzwischen aber geschieden. Und Koller ist in Prenden verheiratet. Und Wengel habe ich mal durch meinen Betrieb auf einer Baustelle kennen gelernt.“ Er überlegte. „Ich glaube, in Stolzenhagen, da hat seine Frau ein Haus geerbt. Mehr weiß ich nicht. Nur, dass die drei oft einen getrunken haben.“
„Sie haben die Männer also oft zusammen gesehen? In der Kneipe oder auch wo anders?“
„In der Kneipe, ein paarmal. Ich kenn’ sie schon seit Jahren.“
„Und gab es öfter Krach?“
„Nee. So das übliche, mal über Weiber, auch mal Politik. Wengel hat meist über die Russen gemeckert, Müller hat immer gesagt, das sind prima Kerle. Aber arme Schweine. Die werden in ihren Kasernen wie im Gefängnis gehalten. Die meisten würden wer weiß was gegeben, wenn sie hier in Deutschland bleiben könnten.“
„Und am Dienstag, worum ging es da?“
„Das habe ich nicht richtig mitbekommen. Irgend eine Abrechnung, Benzin und Wodka. Und russische Pralinen...“
„Russische Pralinen?“
„Naja, so Süßigkeiten. Und auch Kaviar. Sie haben doch so einen Sonderladen in ihrem Objekt, aber wohl noch was anderes.“ Holbrecht trank wieder, versank in Schweigen. Er rang mit sich. „Ich glaube, was ziemlich gefährliches, Makarow und auch Munition...“
Durch Bergfelds Kopf schossen wilde Gedanken. Makarow war die sowjetische Armeepistole, und mit der war der junge Mann erschossen worden. Er musste sich zusammen nehmen, um Gleichgültigkeit zu zeigen. Die Russen, heimlicher Handel, Waffen – das passte zusammen. Aber wofür die Waffen?
„Ja, also mehr weiß ich nicht. Die haben wohl irgendwelchen krummen Geschäfte gemacht, und da gab es wahrscheinlich Streit um die Bezahlung.“ Holbrecht lehnte sich zurück und sah ihn an. Das hieß wohl, mehr wolle er nicht sagen.
„Und das so offen in der Kneipe?“ fragte Bergfeld.
„Ja, das hat mich auch gewundert. Aber sie waren ja alle ein bisschen angesoffen. Und direkt neben uns hat keiner gesessen.“
„Warum haben Sie denn geschlichtet?“
„Geschlichtet, geschlichtet. Im Lokal waren die drei Soldaten vom Wachregiment, wenn die was mitgekriegt hätten. Sie wissen doch selbst, wenn jemand was politisches, ich meine, auch über die Russen sagt, wie schnell der dann in den Knast geht.“
„Uns geht es nicht um Kaviar oder Benzin – jedenfalls wussten wir das gar nicht.“ Bergfeld überlegte, ob er dem jungen Mann gegenüber offener sein sollte, als er durfte. „Und politisch, das interessiert mich nicht. Hier geht es um einen Mord. Jemand ist an dem Abend in der Nähe vom Eichkater erschossen worden.“
„Was?“ Holbrecht beugte sich vor. Sein Gesichtsausdruck ließ sich beim besten Willen nicht deuten. Nach einer Weile fragte er: „Und wer war es?“
„Den Täter suchen wir noch.“
„Ich meine, der Tote?“
„Auch das wissen wir nicht. Ist in Ihrem Bekanntenkreis seit einigen Tagen jemand vermisst?“
Holbrecht schüttelte den Kopf und goss sich Bier nach. „Erschossen – das muss doch jemand gehört haben.“
„Es war im Wald und könnte um die Zeit geschehen sein, als Sie aus dem Eichkater kamen. Wann waren Sie denn zu Hause?“
Holbrecht überlegte. „So gegen Mitternacht.“
„Aber so weit wir wissen, haben Sie die Gaststätte um einundzwanzig Uhr verlassen.“
„Ja?“ Wieder dachte Holbrecht nach. „Wir haben noch einige Zeit vor dem Lokal gequatscht, dann sind wir pinkeln gegangen, dann sind die anderen abgehauen und ich habe mit Müller gesprochen. Er fragte, ob ich beim Meliorationsbau anfangen wollte, da gibt es ganz gutes Geld. Und man ist fast immer draußen. Und dann bin ich auf der Wandlitzer Chaussee Richtung Bernau und den Lanker Weg ab nach Hause. Es kann auch was früher gewesen sein – ich habe nicht auf die Uhr gesehen. Bin gleich ins Bett.“
Die Zeitangaben konnten stimmen, wenn Bergfeld annahm, dass sich Holbrecht etwa um eine dreiviertel Stunde geirrt hatte. Es war ihm abzunehmen, dass er nicht auf die Uhrzeit geachtet hatte. Und wenn er etwas zu verbergen hätte, dann wären seine Zeitangaben zweifellos präziser und unverdächtiger gewesen.
„Und Ihnen ist auf der Fahrt nichts ausgefallen? Sie sind doch an der Siedlung Waldfrieden vorbeigefahren.“
„Ja, aber ich habe nichts gehört. Mit Helm, auf dem Motorrad...“
„Ich meine, nicht nur hören. Auch sehen. Autos, Männer, irgendjemand, der sich auffällig benahm?“
Holbrecht schüttelte den Kopf.
Bergfeld sah sich um. Eine viereckige Wanduhr zeigte zehn Minuten vor acht. Jetzt wollte er eigentlich schon zu Hause sein. Er erhob sich, deutete auf die Holzwände und sagte: „Gefällt mir sehr gut. Ich bin jetzt auch Hausbesitzer geworden und muss eine Menge renovieren. Würden Sie das auch bei mir machen können, in Klosterwalde?“
„Ja, natürlich. Ein Problem wäre nur das Holz.“
„Ich dachte, vielleicht haben Sie da irgend eine Quelle.“ Er griente Jens Holbrecht verschwörerisch an.
Der junge Mann versuchte, zurück zu lächeln. „Ich weiß nicht, ob man solche Geschäfte auch mit Polizisten machen darf.“
„Ich bin ja nicht immer im Dienst.“ Im Hinausgehen fiel sein Blick auf ein Foto, das in einem Bücherregal zwischen Bänden über Lastkraftwagen, Trecker und Feuerwehren stand. Es zeigte eine dicke Frau, deren Kinn irgendwo im Gewabbel unter dem kleinen Mund versteckt sein musste. Ihr hingen strähnige, schwarze Haare vom Kopf. Sie trug ein hellrotes, glänzendes Kleid, das ihre formlose Figur wie eine Wurstpelle umpresste. Dort, wo sich eigentlich der Busen wölben sollte, quoll etwas über einem fassähnlichen Bauch, das wie eine Ringwulst aussah. Es war das Bild einer grundhässlichen Frau, um deren Mundwinkel auch noch ein arroganter Zug lag.
„Meine Frau – wir waren über ein Jahr verheiratet“, sagte Holbrecht stolz. „Nun ist sie nach Bernau gezogen.“
„Geschieden?“
„Ja.“
Während der Fahrt nach Hause überlegte Bergfeld: kein Wunder, wenn dieser armer Hund sich kaputt säuft und raucht. Nicht mal solch eine Frau blieb bei ihm. Dabei hätte jeder normale Mann sich tot gesoffen, wäre er eine so offensichtlich ungepflegte und hässliche Frau nicht los geworden.
Er dachte an seine Marion und lächelte. Was hatte er da für ein Glück. Sie war immer noch ein attraktives Weib, vor allem aber hatte sie eine Figur, die keine Wünsche offen ließ. Ach Quatsch, sie weckte erst die wildesten Wünsche. Doch dieser angespannte
Zustand zwischen ihnen machte ihn deshalb um so nervöser und unglücklicher. Er musste sich wieder mit ihr versöhnen.
Als er nach Hause kam, wurde er nur von Bully begrüsst.
Die Dienstbesprechung am Montagmorgen fiel aus. Major Neuburger und Dienstellenleiter Oberstleutnant Kramer waren zu einer außerordentlichen Besprechung ins Präsidium Frankfurt befohlen worden.
Wagner vermutete, dass es mit der Demonstration am Sonnabend zusammen hing. „Bestimmt wird es neue Anweisungen vom Politbüro geben – in dieser oder anderer Richtung.“ Er grinste in ihre Runde, die aus Hauptmann Koppelt, Pogalla von der Kriminaltechnik, die Hauptmeister Windisch sowie Merkel, die Obermeister Miethe und Seilke und natürlich Unterleutnant Bergfeld bestand. Koppelt war schlecht gelaunt. Er hatte gestern von Neuburger den Befehl erhalten, noch eine Woche Dauerdienst zu machen. Er berichtete kurz, dass es am Wochenende eine Schlägerei gegeben habe, ein betrunkener Mann habe auf dem S-Bahnhof versucht, den Warteraum mit einer Eisenstange aufzubrechen, eine Frau war von ihrem Liebhaber und dessen Freund verprügelt und dann vergewaltigt worden und es hatte einen Einbruch in ein Einfamilienwohnhaus in Zerpenschleuse gegeben. „Wenn ihr nichts besonderes habt, verschwinde ich jetzt.“ Er nickte allen zu und verabschiedete sich mit einem: „Bis heute Abend.“
Dann klopfte es an die Tür. Ein junger Mann in Uniform trat ein, stand stramm und meldete in dienstlichem Ton: „Obermeister Diekelt. Ich soll mich beim Genossen Unterleutnant Bergfeld, Ermittlungsruppe Herbstmord, zum Dienst melden.“
Natürlich grinste Wagner wieder, sagte jedoch nichts. Sie kannten sich alle auf der Dienststelle, doch wollte er in solchen Situationen Disziplin nicht durch Zwischenbemerkungen untergraben.
Bergfeld nickte. Sie hießen also offiziell Ermittlungsgruppe Herbstmord. Neuburger musste gestern einiges entschieden und vorbereitet haben. „Wir besprechen gerade unseren heutigen Tageseinsatz, Sie können gleich daran teilnehmen. Übrigens: morgen kommen Sie in Zivilkleidung.“
Bergfeld war es Recht, dass die Besprechung mit Neuburger ausfiel und wahrscheinlich erst morgen stattfand. So langsam zeichnete sich zwar eine erste Spur ab, doch es waren noch mehrere Protokolle zu schreiben und Ermittlungen auszuwerten. Außerdem steckte der Autopsiebericht immer noch irgendwo auf dem Dienstweg, auch die Ergebnisse der Schusswaffen- und Blutuntersuchung sollten erst heute kommen. Dann wollte er zu Müllers Kollegen Koller und in die Wohnung des Verschwundenen.
Und außerdem hatte er Kopfschmerzen. Bis kurz nach Mitternacht hatte er gar nicht schlafen können und das Gespräch mit Holbrecht so genau wie möglich aufgezeichnet. Er lag schon im Bett, als seine Frau leise ins Schlafzimmer schlich. Morgens war er mit dröhnendem Kopf aufgewacht. Vielleicht kündigte sich da sogar eine Grippe an. Seine Frau war zu Hause geblieben („Wir hatten gestern noch eine Besprechung und fangen erst um neun Uhr an.“), so dass ihm Tausend Fragen auf dem Weg zum Dienst durch den Kopf schossen. Gab es schon einen Verdächtigen, war es eine Auseinandersetzung zwischen sowjetischen Soldaten, waren die Kneipengäste darin verwickelt, wo war Müller – und stimmte das, was Marion sagte? Vor allem die letzte Frage begann ihn immer stärker zu belasten.
Bergfeld begann die Morgenbesprechung mit einem Überblick über den Stand der Ermittlungen; er fiel kurz aus bei der mageren Faktenlage. „Gibt es Ergänzungen oder neue Hinweise?“
„Die Motorradspuren am Meliorations-Bungalow und vom Einbruch in Biesenthal stimmen nicht überein“, erklärte Wagner.
„Das wäre auch eigenartig gewesen“, meinte Bergfeld. „War es auch eine Maschine mit Beiwagen?“
„Ja, aber wahrscheinlich eine zweihundertfünfziger aus Zschopau, Baujahr etwa fünfziger Jahre. Die schleppt was weg.“
„Wurde viel geklaut? Ich habe nämlich mal in Klosterwalde einen Einbrecher geschnappt, vor drei Jahren, auch eine schwere Maschine, aber ich weiß nicht mehr welche...“
„Weißt du noch den Namen?“ unterbrach Wagner ihn.
Bergfeld musste die alte Geschichte tief aus dem Gedächtnis holen. „Ich glaube Hausmann, Horstmann, Hansmann... jedenfalls etwas mit Mann. Der Kerl wohnte in Berlin ...“ Ihm fielen einige Details ein. „In Prenzlauer Berg wohnte der und war im Sommer Platzmeister auf einem Dauerzeltplatz in Schmöckwitz. Da sorgte er für Ordnung, keiner durfte eine leere Büchse wegwerfen, und im Herbst knackte er dann rund um Berlin Wochenendhäuser ...“
„Gut, das genügt, um den Vorgang zu finden. Sechsundachtzig?“
„Ja.“ Bergfeld konzentrierte sich wieder auf den aktuellen Fall. „Also ich fahre nachher zum Meliorationsbau, befrage Koller. Falls es von Müller immer noch kein Lebenszeichen gibt, möchte ich mit dir zu Müllers Wohnung fahren, Siegfried.“ Wagner sah ihn fragend an. „Ich denke, so gegen vierzehn Uhr.“
Wagner nickte.
„Sie besorgen inzwischen die Genehmigung zur Hausdurchsuchung, Genosse Diekelt.“ Er gab dem Obermeister die Akte. „Wie heißt du mit Vornamen – wir duzen uns hier.“ Er streckte dem jungen Mann die Hand entgegen und sagte: „Michael.“ Der Obermeister hieß Torsten. Bergfeld wandte sich Windisch zu. „Noch was, Rüdiger. Du hast gestern angedeutet, dass die Wirtin vielleicht etwas wüsste.“
Windisch, der sein Notizbuch in der Hand hielt, klappte es auf und blätterte. „Das wäre erstens ihre Beobachtung, dass am Dienstag vor Müller zwei sowjetische Offiziere im Lokal waren. In Uniform. Sie kannte sie vom Sehen. Und ihrer Meinung nach kannte auch Müller sie, denn bevor er reinkam, unterhielt er sich mit ihnen.“
„Ach du Scheiße“, sagte Wagner.
„Und zweitens?“ fragte Bergfeld.
„Zweitens ist sie überzeugt, dass die drei um Geld aus Geschäften mit den Freunden stritten. Wodka, Benzin und sowas.“
Da scheint sich ja was anzudeuten, dachte Bergfeld, „Das wissen wir auch von Holbrecht und von Wengel. Also scheint die Spur irgendwie nach da hinten in die Panzerhallen zu führen.“ Er deutete in Richtung Kasernen, die sich an der Chaussee nach Rüdnitz hinzogen. „Wie lange können wir noch weitermachen, ohne die Freunde zu informieren?“
Er sah in die Runde. Nur Wagner meldete sich zu Wort. „Vielleicht zwei Tage. Dann müssen wir uns mit Neuburger einigen. Vorher aber kein Wort nach draußen, das gilt besonders für den Genossen Winderling.“ Er betonte das Wort Genossen. Die Kriminalisten nickten. Bis auf Bergfeld, Diekelt und Windisch verließen alle das Zimmer.
„Wie lange hast du noch zu tun, Rüdiger?“, fragte Bergfeld.
„Alle Protokolle schreiben – bis zum späten Nachmittag.“
„Ich würde dich bitten, Torsten einzuweisen, wenn er den Durchsuchungsbefehl besorgt hat. Dann weist du ihn ein, wie er ein Tatdiagramm und ein Zeugen-Täter-Netzwerk anlegt. Hier das Foto von Wengel. Holbrecht wollte ich nicht fragen…“
Torsten Diekelt wirkte ein wenig unsicher und Bergfeld nickte ihm aufmunternd zu. „Mit Hauptmeister Windisch, also Rüdiger, wirst du es schon schaffen.“
Als er die Tür seines Trabant öffnete, hopste Bully freudig gekrümmt wie eine Ringwurst im engen Wagen herum. Bergfeld hatte ihm dort ein ausrangiertes Deckbett hingelegt, nachher würde er ihn mit hoch ins Revier nehmen. Morgens hatte er noch nicht gewusst, dass die Besprechung ausfallen würde. Und Neuburger war kein Freund von Hunden.
Er ging mit dem Rottweiler um die Ecke und ließ ihn pinkeln. Eine kühle Sonne sorgte für trockenes Wetter und er fühlte sich schon etwas besser. Wahrscheinlich bekam er doch keine Grippe.