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»Erzähl mir von deinen Träumen«, hatte Gregory einmal zu Sarah gesagt, als sie vor vielen Jahren an einem hellen Novembermorgen auf ebendieser Terrasse saßen. »Erzähl mir, wie lange das schon so geht.«

Sarah hatte sich die Hände an der Tasse gewärmt, fröstelte leicht in der Meeresbrise und blickte ihn liebevoll an. Ihre Beziehung war erst ein paar Wochen alt, und Sarah fand immer noch, daß er sehr nett sein konnte. Sie hielt ihn nach wie vor für einen klugen und verständnisvollen Mann. Wie sie so dasaß, instinktiv vorgebeugt, so daß ihre Knie die seinen berührten, spürte sie, wie ihre Beklemmung allmählich verflog. Sie vergaß, daß sie sich in letzter Zeit häufiger gestritten hatten, und das wegen Nichtigkeiten. Was den Sex betraf, so sagte sie sich, daß es mit der Zeit besser werden würde. Sie versuchte, nicht darauf zu achten, daß Gregory die ganze Zeit über, während sie mit ihm sprach, in einem Notizbuch mitschrieb. Es trug die Überschrift »Sarahs psychologische Probleme«.

Jedenfalls war sie aufgeregt, unbestritten: Sie hatten nämlich gerade eine wichtige Entdeckung gemacht. Sie hatten zufällig eine Erklärung für etwas gefunden, was Sarah bereits seit fünf Jahren oder länger Rätsel aufgab. Sie hatten just an diesem Morgen entdeckt, daß sie nicht zwischen ihren Träumen und ihren tatsächlichen Erinnerungen unterscheiden konnte.

»Erzähl mir von deinen Träumen«, sagte Gregory. »Erzähl mir, wie lange das schon so geht.«

Also holte Sarah tief Luft und erzählte es ihm.


Angefangen hatte es, so sagte sie, als sie vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Sie war unglücklich in der Schule, hatte häufig Schwierigkeiten, ihre Hausaufgaben zu machen, und hatte vor allem Angst vor ihrem Geschichtslehrer, einem gewissen Mr. Mountjoy. Eines Abends, nachdem es ihr einfach nicht gelungen war, einen Aufsatz über die Ursachen des Deutsch-Französischen Krieges zu schreiben – den sie noch dazu am nächsten Tag vorlesen sollte –, war sie, in Tränen aufgelöst, zu Bett gegangen, entschlossen, am nächsten Morgen die Schule zu schwänzen oder irgendeine Erkrankung vorzutäuschen. Aber als sie aufwachte, fühlte sie sich heiter und unbeschwert, denn sie hatte deutlich in Erinnerung, daß sie den Aufsatz geschrieben hatte und daß er, da war sie überzeugt, sehr gut geworden war. Sie sah ihn förmlich in ihrem Geschichtsheft vor sich, viereinhalb Seiten lang, etliche durchgestrichene Wörter auf Seite drei, aber ansonsten sauber und ordentlich, die Überschrift in Rot, doppelt unterstrichen, und sogar einige Fußnoten am Ende, um dem Ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben. Und erst als sie kurz vor halb zwölf am selben Tag in der ersten Stunde nach der Pause, unmittelbar bevor sie aufgerufen wurde, um ihren Aufsatz vorzulesen, ihr Heft aufschlug, stellte sie fassungslos fest, daß es diesen Aufsatz unglaublicherweise gar nicht gab. Zumindest war das die Schlußfolgerung, zu der sie schließlich gelangte. Zunächst nahm sie an, sie habe ihn aus einem dummen Versehen in ein anderes Heft geschrieben, und durchsuchte hektisch ihre Schulmappe, blätterte ihre Englisch – , Geographie – und Französischhefte durch, wobei ihre Panik so sichtbar und hörbar zunahm, daß Mr. Mountjoy den Schüler, der gerade seine Hausaufgabe vorlas, unterbrach und fragte, was denn los sei. Sie erklärte, daß sie ihren Aufsatz wohl in ihrem Schließfach vergessen habe, und bat um die Erlaubnis, ihn zu holen. Die wurde ihr auch erteilt. Doch die Suche in ihren Mathe – , Deutsch – , Physik – und Biologieheften förderte den fraglichen Aufsatz ebensowenig zutage; und dann überkam sie eine an Hysterie grenzende Verwirrung, so schlimm, daß sie aus dem Schulgebäude floh und in den Stadtpark rannte, wo sie, den Kopf in die Hände vergraben, verzweifelt versuchte, sich auf das Geschehene einen Reim zu machen, und sich zum erstenmal ernsthaft fragte, ob sie verrückt wurde. Der Aufsatz tauchte niemals auf, und sie mußte die ganze Woche nachsitzen (Mr. Mountjoy hatte ihr kein Wort geglaubt). Und während alle anderen den Vorfall rasch vergaßen, vergaß Sarah ihn nicht, und sie sprach mit niemandem darüber, obgleich sie im Laufe der nächsten Jahre in unregelmäßigen Abständen weitere ähnliche Mißgeschicke erlebte. Einmal, einige Klassen weiter, hatte sie ihrer besten Freundin Angela bittere Vorwürfe gemacht, weil sie zu einer Verabredung mit ihr vor dem Schwimmbad nicht erschienen war: Angela bestritt, daß die Verabredung überhaupt getroffen worden war, und der Streit führte zu einem Zerwürfnis, das nie ganz bereinigt wurde. Ein anderes Mal kam sie zur Verblüffung ihrer Eltern mit sechs Tuben Zahncreme für Raucher, zehn Säckchen Potpourri und einem Jahresvorrat an Zäpfchen nach Hause. Sie hatte alles auf dem Heimweg von der Schule in der Apotheke eingekauft – und zwar, wie sie hartnäckig behauptete, auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Mutter.

Schließlich gelangte Sarah zu der Überzeugung, obwohl sie das aus Scham weder ihren engsten Freundinnen noch ihren Eltern gestand, daß sie an Wahnvorstellungen litt: lebensechte, unkontrollierbare Phantasien, die sie verständlicherweise zunächst nicht mit ihren Träumen in Verbindung brachte (denn die Träume, an die sie sich erinnern konnte, hatten meist wenig mit der Realität zu tun, sondern waren, wie die Träume anderer, in der Regel grotesken oder phantastischen Inhalts: So hatte sie zum Beispiel häufig Alpträume, in denen Schlangen oder, noch schlimmer, Frösche vorkamen). Erst an jenem Morgen auf der Terrasse war mit Gregorys Hilfe plötzlich die Wahrheit ans Licht gekommen. Und obwohl Sarah sich noch immer wegen ihres Streits mit Gregory am Abend zuvor ärgerte, war sie in gewisser Weise auch dankbar dafür; hatten doch dieser Streit und seine seltsamen Folgen endlich die Pforte zu dem Geheimnis geöffnet.

Angefangen hatte der Ärger tags zuvor am Nachmittag, als Gregory Sarah erzählte, sie seien beide abends in ein Restaurant (das noch nicht feststand) zum Geburtstagsessen eines Kommilitonen eingeladen: ein gewisser Ralph, ebenfalls Medizinstudent, den Gregory selbst offenbar nicht sonderlich gut kannte. Sarah fragte, ob diese Einladung ausdrücklich auch für sie gelte, und Gregory mußte zugeben, daß das nicht der Fall war. Ralph wußte nicht, daß sie ein Paar waren, und hatte lediglich gesagt, Gregory könne ruhig jemanden mitbringen. »Das wundert mich nicht«, sagte Sarah. Gregory bat sie, die Bemerkung zu erklären, und sie erzählte ihm, daß sie zu Ralph ein ganz freundschaftliches Verhältnis gehabt habe, bis es vor einigen Monaten zu einem peinlichen Zwischenfall gekommen sei, wonach sie nicht mehr miteinander gesprochen hätten.

»Kennst du das Fischrestaurant unten am Hafen?« sagte sie. »Das Planetarium?« (So genannt wegen des Deckengewölbes des Speisesaals, das ein einheimischer Künstler kürzlich mit einem imposanten Nachthimmel bemalt hatte.) »Also, er hat mich mal dahin eingeladen. Nur mich und seine Eltern, die ihn übers Wochenende besuchten. Weiß der Teufel, warum ausgerechnet mir diese Ehre zuteil wurde: Ich glaube, er war ein wenig in mich verknallt. Jedenfalls, es war an einem Samstag abend, und das Restaurant war gerammelt voll, und gegen Ende des Essens, als wir unseren Kaffee tranken, wurde mir plötzlich richtig schlecht. Ich meine, wirklich schlecht. Ich glaube, es waren die Muscheln. Ich bin zum Klo gegangen und dachte, ich müßte mich übergeben, aber es passierte nichts. Also bin ich wieder hoch, und die anderen waren schon aufgestanden, um zu gehen, und mir war noch immer speiübel, aber wir haben trotzdem unsere Mäntel geholt, und dann standen wir alle auf der Treppe vor dem Restaurant und verabschiedeten uns. Seine Eltern wollten zurück in ihr Hotel in der Stadt, weißt du. Jedenfalls, wir standen alle da, plauderten und sagten auf Wiedersehen, und mit einemmal wußte ich, daß ich mich übergeben mußte. Jetzt gleich. Und prompt, mitten in der Unterhaltung, urplötzlich, habe ich mich vorgebeugt und die Treppe und den Bürgersteig vollgekotzt. Platsch, mein ganzes Essen auf der Treppe des Restaurants, vor aller Augen. Und das Erstaunlichste war, daß Ralph und seine Eltern einfach weitergeredet haben. Ich meine, wenn das keine gute Erziehung ist! Sie haben einfach weitergemacht, als wäre nichts passiert. Ralphs Mutter hat mir lediglich ein Kleenex gegeben, damit ich mir den Mund abwischen konnte. Und dann haben sie sich noch ein paar Minuten weiterunterhalten, überlegt, was sie am nächsten Tag unternehmen wollten, und dann haben sie ihm einen Gutenachtkuß gegeben, und dann hat sein Vater sich vorgebeugt, um mir einen Gutenachtkuß zu geben, und genau in dem Augenblick ist es wieder passiert, mir wurde plötzlich übel, und ehe ich mich’s versah, habe ich wieder auf die Treppe gekotzt, nur – diesmal ging die Hälfte davon seinem Vater auf Hose und Schuhe. Und noch immer haben sie nicht mit der Wimper gezuckt. Kein Wort gesagt. Und dann haben seine Eltern sich bei ihm für den schönen Abend bedankt oder so, und schon sind sie in eine Richtung verschwunden, und wir in die andere, und das einzige, was er zu mir gesagt hat, war: ›Geht’s dir jetzt besser?‹, in einem ziemlich unterkühlten Tonfall. Dann sind wir in ein Taxi gestiegen und zurück zum Campus gefahren, und wir haben uns zum Abschied nicht mal einen Kuß gegeben, gar nichts. Ich hatte den Eindruck, daß er die ganze Sache richtig komisch fand, auf eine fiese Weise: Weil seine Eltern stinkvornehm waren und ich nicht, und er fand, ich hätte auf amüsante Weise demonstriert, wie sich die unteren Schichten vor den besseren Leuten verhalten.«

»Nein, du tust ihm unrecht«, sagte Gregory. »Ich kenne Ralph zwar nicht sehr gut, aber ich bin sicher, daß ihm so eine Haltung fremd ist.«

»Wieso spricht er dann seitdem nicht mehr mit mir?«

Gregory hatte darauf keine Antwort, aber in den nächsten Stunden versicherte er Sarah immer wieder, daß sie ruhig mit zu dem Essen kommen könne. Dennoch, als sie um Viertel vor acht vor Ralphs Studentenwohnheim ankamen, hatte sie noch immer Bedenken.

»Und wenn er uns in dasselbe Restaurant einlädt?«

»Und wenn schon?«

»Na, das wäre doch total peinlich, oder?«

»Sei mir nicht böse, aber ich finde, du übertreibst, Sarah.« Sie gingen schon die Treppe hinauf.

»Du hast gut reden. Aber ich weiß, und zwar ganz genau, daß er sich mit seinen Freunden über die Sache lustig macht. Ich kann mir richtig vorstellen, wie er die Geschichte immer wieder zum besten gibt und die sich scheckig lachen.«

»Unsinn«, sagte Gregory mit Nachdruck. Sie waren mittlerweile in Ralphs Korridor angelangt. »Ich studiere Psychiatrie, Sarah. Ich werde einmal Spezialist für die Funktionsweise des menschlichen Geistes. Und wenn ich irgendeine Ahnung habe von der menschlichen Natur, dann kann ich dir garantieren, daß er mit keiner Menschenseele darüber gesprochen hat. Das Ganze ist bloß wieder ein Beispiel für deine Paranoia und deinen Verfolgungswahn.« Vor Ralphs Zimmer blieb er stehen und riß einen Zettel ab, der an die Tür geheftet war, und las ihn laut vor. »An Ralphs Freunde«, las er. »Treffpunkt: halb neun im ›Kotzetarium‹.«

Und von da an wichen Gregorys und Sarahs Darstellung der Ereignisse voneinander ab, obwohl das erst am nächsten Morgen deutlich wurde, als Sarah recht früh erwachte und sah, daß Gregory nicht mehr neben ihr im Bett lag. Sie stand auf und öffnete die Vorhänge. Als sie aus dem Fenster schaute, sah sie ihn in seinem dicken blauen Mantel, den er fest zugeknöpft hatte, auf der Terrasse sitzen und aufs Meer starren.

Sarah zog sich etwas über und ging nach unten in die Küche, wo sie zwei Becher Kaffee machte. Sie trug sie nach draußen auf die Terrasse, die sie durch die Flügeltüren im Fernsehzimmer betrat.

»Hier, für dich«, sagte sie und stellte seinen Becher auf den Tisch neben das Notizbuch, in das er schrieb. »Du siehst verfroren aus. Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

»Ich konnte nicht schlafen«, sagte er und nippte dankbar an seinem Kaffee. »Genauer gesagt, ich habe schrecklich geschlafen.«

»Ach ja?«

»Ja. Du hast mich ständig geweckt.«

»Was meinst du?« sagte Sarah.

»Du hast mich wachgehalten. Du hast somniloquiert.«

»Ich hab was?«

»Somniloquiert. Im Schlaf gesprochen.«

»Das tue ich nicht.«

»Na, letzte Nacht schon.«

»Wirklich? Was hab ich gesagt?«

»Ach, ich weiß nicht.« Er gähnte laut und lange, runzelte die Stirn. »Irgendwas von einem Steg an der Flußquelle, glaube ich.«

»Komisch.«

»Das kann man wohl sagen.« Langsam belebte der Kaffee ihn, und er fragte: »Und, wie hat es dir gestern abend gefallen?«

»Ganz gut«, sagte Sarah nach einer überraschten Pause.

»Ich fand Harriet richtig nett«, sagte Gregory ermunternd.

»Harriet?«

»Ja. Amüsante Frau, fand ich. Hat ein wenig für Schwung gesorgt.«

»Wer ist das?«

Gregory warf ihr einen kurzen Blick zu – einen ungeduldigen Blick. »Harriet. Ralphs neue Freundin. Du hast den ganzen Abend neben ihr gesessen.«

»Neben ihr gesessen? Wo?«

»Im Restaurant.«

Sarah pustete in ihre Kaffeetasse. Sie kam zu dem Schluß, daß Gregory ein langweiliges Spiel mit ihr spielte. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«

»Hör mal«, sagte Gregory entnervt. »Das war bloß eine Bemerkung. Du mußt mich ja nicht gleich dafür bestrafen, daß ich etwas Schmeichelhaftes über eine andere Frau sage.«

»Nun, da ich die betreffende Frau nicht kenne, kann ich dazu ja wohl kaum etwas sagen.«

Gregory wandte sich ihr zu. »Ich rede von gestern abend, Sarah. Ich rede von der Frau, neben der du gesessen hast und mit der du dich unterhalten hast, den ganzen Abend.«

Ohne ein weiteres Wort stand Sarah auf, drehte sich um und verschwand von der Terrasse, ließ einen finster dreinblickenden und an seinem Kaffee nippenden Gregory zurück, der schmollend annahm, daß er gegen eine bislang unbekannte Klausel ihres Partnerschaftsvertrages verstoßen hatte. Als sie zehn Minuten später zurückkam, wirkte sie bedrückt und reumütig. Sie ließ sich behutsam auf dem Platz neben ihm nieder und sagte: »Das hört sich jetzt für dich vielleicht sehr merkwürdig an, aber ich kann mich absolut nicht erinnern, gestern abend mit dir in einem Restaurant gewesen zu sein. Ich habe zwar eine Erinnerung an gestern abend, aber die ist völlig anders.«

Gregory betrachtete sie aufmerksam.

»Seit meiner Teenagerzeit habe ich immer mal wieder solche sonderbaren Erlebnisse. Ich erinnere mich an Dinge anders, als sie passiert sind. Ich bilde mir Dinge ein. Ich erfinde Dinge. Ich weiß nicht, wieso. Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen. Du bist der erste. Ich erzähle es dir jetzt« – sie sah ihn an, und ihre Stimme fing an zu zittern – , »weil ich dir vertraue. Weil ich dich liebe.«

Gregory spitzte die Lippen. Einen Moment lang dachte sie, er wolle sie küssen. Aber er nahm seinen Stift, schlug sein Notizbuch wieder auf und blätterte eifrig zu der ersten leeren Seite.

»Das ist ja faszinierend«, sagte er. »Du meinst, du kannst dich nicht erinnern, daß du in dem Restaurant gewesen bist? Neben Harriet gesessen hast? ›Happy Birthday‹ gesungen und Seeteufel bestellt hast?«

Sarah legte die Stirn in Falten. »Ich weiß nicht... Es kommt mir bekannt vor... Irgendwie bekannt... Aber ich habe noch eine Erinnerung – eine viel stärkere.«

»Eine Art alternative Erinnerung?«

»Ja. Ich denke, ja.«

»Das«, sagte Gregory, der wie wild loskritzelte, »ist einfach sensationell. So etwas fällt einem nicht jeden Tag in den Schoß. Also, was ist denn deiner Meinung nach gestern abend passiert?«

Sarahs Erinnerung stimmte mit der von Gregory bis zu dem Zeitpunkt überein, als sie den Zettel an Ralphs Tür fanden. Danach, so behauptete sie, hätten sie einen heftigen Streit gehabt, mit dem Ergebnis, daß sie sich weigerte, mit ihm zu dem Geburtstagsessen zu gehen: Gregory war allein hingegangen, während Sarah sich auf den Weg zu Jonah’s gemacht hatte, einem beliebten Selbstbedienungsrestaurant auf dem Campus.

»Wann bist du da angekommen?« fragte Gregory, der noch immer alles aufschrieb.

»Ich weiß nicht – gegen acht?«

»Und wie lange bist du geblieben?«

»Eine ganze Weile. Ich hatte sonst nichts vor. Etwa eine Stunde.«

»Und was hast du gegessen?«

»Ist das wirklich nötig? Ist das von Belang?«

»Alles ist von Belang. Entscheidend ist, daß wir genau festhalten, wie konkret die ... Halluzination war. Also, was hast du gegessen?«

»Suppe. Nur Suppe.«

»Nur Suppe? Hattest du keinen Hunger?«

»Es war nicht mehr viel zu essen da. Die Hauptgerichte fand ich nicht so toll.«

»Was für welche gab’s?«

»Na ja, Steak oder Seeforelle.«

Gregory fing an, es aufzuschreiben, hielt aber mitten im Wort inne. Er sah auf, mit leuchtenden Augen. »Aber genau das hast du gestern nacht gesagt – im Schlaf.«

»Was?«

»Nicht ›Steg an der Flußquelle‹, sondern ›Steak oder Flußforelle‹.« Er warf den Stift hin und lachte, eher triumphierend als belustigt. »Sarah, das Ganze war ein Traum. Du hast es geträumt.«

In nur wenigen Minuten hatte er sie davon überzeugt, daß das die naheliegendste, plausibelste, ja die einzig denkbare Erklärung war; und so erfuhr Sarah schließlich, daß sie nicht an Wahnvorstellungen litt, sondern ab und zu einen so realistischen Traum hatte, daß sie ihn nicht von den Ereignissen in ihrem wachen Leben unterscheiden konnte – dazu so realistisch, daß er diese Ereignisse aus dem Gedächtnis löschen konnte, so daß sie durch den Traum hindurch in Erinnerung gebracht, unterhalb des Traumes wieder hervorgeholt, durch seine nebelhafte, auslöschende Oberfläche betrachtet werden mußten wie die Originalzeilen eines Palimpsests.

»Das erklärt wirklich alles«, sagte sie. »All die merkwürdigen Dinge, die mir passiert sind. All die Mißverständnisse ...«

»Weil es schon einmal passiert ist?« sagte Gregory. »Hattest du schon einmal so einen Traum?«

“Ja. Schon sehr oft.«

Er schlug eine neue Seite in seinem Notizbuch auf und schrieb eine Überschrift in seinen typischen, gestochen scharfen, kleinen Großbuchstaben. »Also los, Sarah«, sagte er mit einem aufgeregten Lächeln. »Erzähl mir von deinen Träumen.«


Elf Monate später endete Sarahs Beziehung zu Gregory, kurz nach ihrem ersten Examen. Ihr Schlaf, der selbst in den besten Zeiten nicht sehr regelmäßig war, wurde in dieser Phase noch unsteter, und ihre Träume erwiesen sich als immer unzuverlässiger.

Vor allem wenn sie emotional sehr aufgewühlt war, passierte es häufig, daß ihre Träume besonders lebensnah und trügerisch wurden, und die Nacht unmittelbar nach ihrer Trennung von Gregory war geradezu ein klassisches Beispiel. Natürlich bekam sie es nicht bewußt mit, aber in jener Nacht fing sie schon sehr früh an zu träumen, schon wenige Minuten nachdem sie sich widerwillig zu Gregory ins Bett gelegt hatte. Ungewöhnlich schnell war sie in einen Tiefschlaf gefallen und hatte gleich darauf einen Traum, der noch trügerischer war als alle, die sie bis dahin gehabt hatte. Als sie am nächsten Morgen erwachte, hatte sich der Inhalt dieses Traumes ihrem Gedächtnis so fest eingeprägt wie eine lebendige, bittersüße Erinnerung. Sie war überzeugt, daß das, was sie geträumt hatte, wirklich passiert war.

Trotz der gestelzten, verletzenden Rede, die Gregory gehalten hatte, trotz der Tatsache, daß es Gregory war, der neben ihr laut schnaufend schlief, träumte sie nicht von Gregory. Sie träumte von Robert, ihrem neuen Bekannten, dem sie in der L-förmigen Küche von Ashdown begegnet war. Sie träumte, daß er großen Kummer hatte und daß sie der einzige Mensch war, der den Grund dafür kannte. Sie träumte, daß Roberts Schwester gestorben war.

Am nächsten Morgen rechnete sie damit, ihn beim Frühstück in der Küche zu treffen, aber er war nicht da. Gregory fuhr gegen zehn Uhr nach London, ohne sich zu verabschieden, und anschließend ging Sarah in die Universitätsbibliothek, um zu arbeiten, bekam aber mehrere Stunden lang nichts auf die Reihe. Sie dachte ein wenig an Gregory, doch die meiste Zeit dachte sie an Robert und fragte sich, wie er mit der schrecklichen Nachricht fertig wurde. Wahrscheinlich war er bereits nach Hause gefahren: Er würde seinen Eltern beistehen müssen, die Beerdigung mußte vorbereitet werden.

Sie saß bis vier Uhr nachmittags in der Bibliothek und grübelte über die unglückliche Wendung der Ereignisse nach. Noch immer hatte Sarah nicht richtig gelernt, ihre Träume zu überprüfen, ständig die Grenzen zwischen ihrer Traumwelt und dem wirklichen Leben zu überwachen, und es kam ihr nicht einmal in den Sinn, daß sie den Tod von Roberts Schwester vielleicht nur geträumt hatte. Sie kam nicht auf den Gedanken, daß Roberts Trauer über den Tod seiner Katze in Verbindung mit seiner Erwähnung des aggressiven Spruchs – »Tod den Schwestern« – diese irreführende Phantasie ausgelöst haben könnte. Jedenfalls konnte sie sich an die Begegnung mit ihm in der Küche am Abend zuvor nicht genau erinnern: Sie war durch den Traum verdrängt worden. Und obwohl Robert sicherlich gerührt gewesen wäre, wenn er gewußt hätte, daß sie in der Bibliothek saß, an ihn dachte und sich sorgte, daß seine ganze Zukunft vielleicht vom frühen Tod der Schwester überschattet werden würde, so bestand doch dafür kein Anlaß: Genau in dem Augenblick lag er nämlich in Ashdown in der Badewanne und hatte kein ernsteres Problem, als daß er noch nicht genau wußte, wo er zu Abend essen sollte.

Schließlich wurde Sarah von einem dumpfen Knall neben ihr auf dem Tisch aus ihren Tagträumen gerissen. Jemand hatte laut drei Bücher abgelegt und stand jetzt vor ihr, lächelte sie freudig und recht selbstzufrieden an. Es war Veronica: die seltsame freundliche Frau aus dem Café Valladon.

»Ich hab mir gedacht, daß ich dich hier finden würde«, sagte sie. »Ich habe dir was zum Nachdenken mitgebracht.«

Es waren die Bücher Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir, Sexus und Herrschaft von Kate Millett und Sexualität ist Macht; die Frau bei de Sade von Angela Carter. Zwei davon hatte Sarah bereits gelesen.

»Lies sie«, sagte Veronica, »und dann reden wir drüber. Du findest mich fast jeden Tag in dem Café, vor allem nachmittags.«

»Danke«, sagte Sarah. Sie war viel zu überrascht, um noch mehr zu sagen.

»Bitte«, sagte Veronica. Als sie im Dunkel zwischen zwei Bücherregalen verschwand, sah Sarah kurz ihren langen, geschmeidigen Rücken.


Das Badewasser wurde schon kalt, als Robert sich zu Ende rasierte. Wie gewöhnlich hatte er die unangenehmsten Stellen bis zuletzt übriggelassen – den Hals und insbesondere den Adamsapfel. Das Wasser, trübe von Seife und dem Schmutz seines Körpers, war jetzt obendrein mit kleinen schwarzen Härchen übersät. Er spülte das Rasiermesser unter fließendem Wasser ab, versuchte die letzten widerspenstigen Stoppeln abzubekommen. Um Ashdown fegte der Wind, und Robert ließ sich tiefer in das kühler werdende Wasser sinken. Wenigstens schützte es ihn vor der schneidenderen Kälte des Badezimmers, das widersinnigerweise der weitaus größte und großzügigste Raum auf dieser Etage war. Wieder fuhr er sich mit der Klinge über die Wangen, verträumt. Dann hob er ein Bein aus dem Wasser und besah sich angewidert dessen dünne, pfeifenreinigerweiße Haut. Die Haare klebten glatt und flach an Schienbein und Oberschenkel. Nach kurzer Überlegung legte er die Klinge des Rasiermessers direkt oberhalb des Knies an und begann zu schaben. Bald hatte er eine kleine Stelle, etwa fünf mal fünf Zentimeter groß, kahl rasiert.

Zunächst nahm das Rasieren der Beine seine ganze Aufmerksamkeit gefangen, dann jedoch machte er es nur noch mechanisch. Er konzentrierte sich nicht mehr auf die sanfte, reibende Bewegung und ließ die Gedanken ziellos schweifen. Zuallererst dachte er an Muriel. Seit seiner Geburt hatte es bei Robert zu Hause drei Katzen gegeben, aber Muriel hatte er am liebsten gemocht; sie war von allen die süßeste und gutmütigste. Dennoch war er schockiert – und er schämte sich auch ein wenig dafür –, daß ihn die gestrige Nachricht von ihrem Tod so offensichtlich mitgenommen hatte. Bestimmt hatte Sarah gemerkt, daß er geweint hatte, als er sich mit ihr in der Küche unterhielt. Wahrscheinlich verachtete sie ihn schon. Wenn er früher weinte, hatte sein Vater immer zu ihm gesagt: »Jede Frau, die dich so sieht, wird dich verachten. Frauen mögen es nicht, wenn Männer schwach sind. Du willst doch Respekt. Niemand hat Respekt vor einer Heulsuse.« Er hörte diese Worte jetzt, gesprochen in dem einzigen Ton, den sein Vater, soweit er sich erinnern konnte, ihm gegenüber je angeschlagen hatte: verächtlich, unbarmherzig.

Sarah schien ihn nicht verachtet zu haben. Vielleicht hatte sie ja doch nichts gemerkt: Womöglich war sie viel zu sehr mit eigenen Problemen beschäftigt gewesen. Diese seltsame Geschichte von dem Mann, der sie auf der Straße beschimpft hatte. Er hoffte, daß sie sich deshalb keine Gedanken mehr machte. Sie hatte hübsche Augen: glänzend, blaßblau, mit einem Stich ins Graue. Unergründliche Augen, freundlich und warm und zugleich kühl und intelligent.

Er benutzte keinen Sicherheitsrasierer, und nun zuckte er zusammen, weil er plötzlich irgendwo in der Gegend der Wade einen stechenden Schmerz spürte. Er hatte sich ziemlich tief geschnitten: Blut tröpfelte ins Badewasser. Die Beine rasieren war doch nicht so entspannend und angenehm stumpfsinnig, wie er gedacht hatte: Es verlangte ein Minimum an Konzentration. Dennoch hatte es irgend etwas ungeheuer Befriedigendes an sich, etwas grundsätzlich Richtiges. Er hatte nie verstanden, wozu Beine behaart waren. Er hatte seine früheren Freundinnen stets gefragt, wie sie das sahen, und war verblüfft zu hören, daß sie behaarte Beine attraktiv fanden. Um so besser, aber trotzdem hielt er das für eine unerklärliche Geschmacksverirrung.

Er war inzwischen so gut wie fertig, nur noch die Knöchel, und das würde anstrengend werden. Vorher wollte er sich ein wenig Ruhe gönnen. Er lehnte sich in dem grauen Wasser zurück, das jetzt voller Haare war, und starrte eine Weile blicklos auf die gesprungenen und verschmutzten Wandkacheln. Sie erinnerten ihn an die Duschen in der Schule, und wieder hatte er eine unangenehme Erinnerung: Gemeinschaftsduschen; das ständige gegenseitige Aufziehen und verstohlene Vergleichen...

Robert war jetzt seit über einer Stunde im Bad: Zeit genug für Sarah, die Bibliothek zu verlassen und mit dem Bus vom Campus wieder nach Ashdown zu fahren, fest entschlossen, sich die Haare zu waschen. Die Badezimmertür hatte kein Schloß. Man stellte einfach den Handtuchständer dagegen, aber Robert als Neuling hatte diesen Trick noch nicht herausgefunden. So kam es, daß Sarah überraschend und ohne zu klopfen ins Badezimmer platzte.

Das Ganze dauerte nur Sekunden. Sarah schrie vor Schreck und Peinlichkeit auf, aber Robert schrie vor Schmerzen, denn er war gerade dabei, sich den linken Knöchel zu rasieren, das Bein hoch in die Luft gestreckt. Als die Tür aufflog, war er mit der Hand abgerutscht, und die Doppelklinge seines Rasierers war tief in die Haut gedrungen, zweimal, im rechten Winkel, so daß ihm bis an sein Lebensende eine doppelte Narbe zurückblieb, wie französische Anführungszeichen. Und diesmal tröpfelte das Blut nicht nur; es schoß heraus und strömte ins Badewasser, so daß es sich im Nu erdbeerrot verfärbte. Sarah starrte ihn an, entsetzt, wie versteinert, und einen Moment lang dachte er, sie würde ihm sogar zu Hilfe eilen wollen; doch er kam ihr zuvor, indem er rief: »Alles in Ordnung! Alles in Ordnung! Ich hab mich bloß rasiert.«

»Tut mir leid, ich – ich komme wieder, wenn du fertig bist.«

Sie eilte zur Tür, blieb aber dort stehen. Sie schirmte die Augen mit der Hand ab und blickte weg.

»Ist alles in Ordnung? Ich meine, brauchst du Hilfe? Im Schrank ist ein Erste-Hilfe-Kasten.«

»Danke. Es geht schon. Ich – ich komme schon allein zurecht, ja?«

Sie ging aus dem Raum, blieb aber im Korridor erneut stehen.

»Ich hatte gedacht, du wärst nach Hause gefahren«, sagte sie rasch, rätselhaft, und verschwand dann.

Robert verlor keine Zeit damit, über die Bedeutung dieser Bemerkung nachzudenken. Er stieg aus der Wanne, stillte die Blutung an seinem Knöchel mit Klopapier und machte dann einen festen Verband um die Wunde. Er war tropfnaß und fror. Er trocknete sich mit seinem kleinen, fadenscheinigen Handtuch ab und humpelte zurück in sein Zimmer.

Sarah kam kurze Zeit später zu ihm, als er gerade fertig mit Anziehen war. Sie hatte sich die Haare gewaschen und gekämmt, aber noch nicht getrocknet, und sie wirkten dunkler, als er sie vom Vorabend in Erinnerung hatte, regelrecht mausgrau. Aus irgendeinem Grund war er dadurch gerührt; vielleicht aber näherte er sich bereits dem verwundbaren Zustand des Herzens, wo selbst die kleinsten und banalsten Dinge etwas Strahlendes, Verklärendes bekommen. Aus welchem Grunde auch immer, er spürte jedenfalls, wie es eng wurde in seiner Brust, als sie sich gegenüber von seinem Schreibtisch aufs Bett setzte, und für einen Moment verschlug es ihm die Sprache. Selbst das Atmen fiel ihm zunächst schwer.

»Tut’s noch weh?« fragte sie.

»Ach... nur ein bißchen. Es geht schon wieder.« Er hoffte, sie würde ihn nicht fragen, warum er sich überhaupt die Beine rasiert hatte.

»Es war keine Absicht... Also, tut mir leid, wenn ich dich gestört habe. Normalerweise stellen wir hier den Handtuchständer vor die Tür, weißt du.«

»Ach so. Gut. Dann mache ich das auch – beim nächsten Mal.«

Sarah nickte. Es lief ganz und gar nicht so, wie sie gehofft hatte. Sie fragte sich, ob sie die ungezwungene, vertrauensvolle Atmosphäre ihrer Unterhaltung vom Vorabend je wiederherstellen konnten.

»Tja«, sagte sie, »ich bin eigentlich nur gekommen, um zu sehen, ob es dir gutgeht. Weißt du, du hast gestern abend... ganz schön fertig ausgesehen, und ich wollte mich vergewissern, ob du klarkommst.«

»Ob ich klarkomme?«

»Na ja – es muß sehr schlimm für dich sein.«

Er nahm all seinen Mut zusammen, um sie anzusehen, neugierig geworden durch den aufrichtigen, ängstlich besorgten Ton in ihrer Stimme. Was ging hier eigentlich vor? Hielt sie ihn wirklich für einen Mann, der vor Trauer über den Tod einer Katze tagelang fix und fertig war? Machte er einen so jämmerlichen Eindruck? Da er ihren Worten nicht entnehmen konnte, ob sie wirklich nett zu ihm sein wollte oder sich nur lustig machte, sagte er vorsichtig: »Ach, weißt du, so schlimm ist es auch wieder nicht. Ich komme schon drüber weg.«

Wie überaus männlich, dachte Sarah, vor ihr den starken Mann zu markieren, der hart im Nehmen ist. Glaubten Männer wirklich, sie dürften ihre Gefühle nicht zeigen, nicht einmal im Gespräch über den Tod eines Menschen, der ihnen nahestand – und in diesem Fall fast so nahe, wie man sich überhaupt nur sein kann? Sie bemerkte, wie angespannt und nervös er in ihrem Beisein war, wie unruhig bei der Vorstellung, daß ihm die Schale der Empfindungslosigkeit abgestreift würde und die weichere, wahrere Natur darunter zum Vorschein käme. Aber sie wußte, daß es in ihrer beider Interesse war, dem nicht auszuweichen.

»Als ich vorhin gesagt habe, daß ich gedacht hätte, du wärst nach Hause gefahren«, fuhr sie fort, »habe ich gemeint, na ja, daß ja bestimmt bald die Beerdigung ist.«

»Beerdigung?« sagte Robert.

»Von – tut mir leid, ich habe ihren Namen vergessen...«

»Von Muriel, meinst du?«

»Ja. Von Muriel.«

Er zuckte die Achseln, lachte beklommen. »Och, ich glaube nicht, daß wir da viel Aufhebens machen«, sagte er. »Das wäre ja wohl ein bißchen übertrieben, findest du nicht?«

Einen Moment lang war sie sprachlos, dann murmelte sie: »Na ja, was immer ihr für... angemessen haltet.«

»Ich meine, beim letzten Mal«, sagte Robert, »haben wir auch keine große Beerdigung gemacht oder so.«

»Das ist schon mal passiert?« fragte sie entsetzt.

»Ja, zweimal.«

»Oh Gott, Robert, ich... weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das ist ja schrecklich. Daß einem das Leben so... mit spielen kann, und trotzdem – machst du weiter, irgendwie.«

»Tja, ich muß sagen, der Verlust von Muriel ist am schwersten.« Er beugte sich vor, näher an sie heran, und rieb sich die Hände, wärmte sie in der Flamme ihres Mitgefühls. »Mich mochte sie, glaub ich, am liebsten.«

»Ja, das kann ich mir vorstellen.«

Er erlaubte sich ein wehmütiges Lächeln. »Weißt du, sie ist jeden Abend in mein Zimmer gekommen und hat es sich neben mir auf dem Bett gemütlich gemacht. Ich habe ihren kleinen Kopf gestreichelt und... einfach mit ihr geredet. Manchmal stundenlang.«

»Wie süß.«

»In gewisser Weise« – jetzt lachte er – »so absurd das auch klingen mag, hat sie mich sogar besser gekannt, als meine Eltern mich gekannt haben. Sicherlich besser als mein Vater.«

»Mochten sie sie nicht so gern wie du?«

»Na ja, er hatte jedenfalls nie viel für Muriel übrig, soviel ist klar.« Er seufzte. »Sie waren sich gegenseitig nicht grün. Er hat sich ständig über alberne kleine Marotten von ihr geärgert.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Na, er ist immer an die Decke gegangen, wenn sie auf den Teppich gepinkelt hat.«

Sarah nahm diese Information langsam in sich auf. Ein neues Bild entstand vor ihrem geistigen Auge: ein irgendwie gestörtes Kind und eine Familie, die vielleicht nie richtig mit dem Mädchen klargekommen war, vielleicht nie gelernt hatte, es als vollwertigen Menschen zu betrachten. Die Situation war schmerzhafter, tragischer, als sie sich zunächst vorgestellt hatte. Und nun erst kam ihr richtig zu Bewußtsein, was Roberts verwirrende Bemerkungen von vorhin bedeuteten.

»Sieh doch mal, Robert«, sagte sie behutsam. »Was du da eben gesagt hast, daß eine Beerdigung übertrieben wäre – ich persönlich halte es wirklich für wichtig, na ja, daß deine Familie... den Tod von Muriel in irgendeiner Weise begeht.«

»Also, ich habe gestern abend mit meinem Dad am Telefon darüber gesprochen, wie wir sie« – er verzog das Gesicht – »am besten entsorgen. Ich habe ihn gefragt, ob es möglich wäre, sie einäschern zu lassen.«

»Und?«

»Er hat bloß gelacht. Gesagt, ich wäre gefühlsduselig. Er hat gesagt, er würde einfach im Garten ein Loch graben und sie in einen Müllsack stecken. Wie er es mit den anderen gemacht hat.«

Sarah blickte Robert lange ernst an und sagte dann sehr behutsam und nachdrücklich: »Aber du findest das falsch, nicht wahr? Du weißt, daß es falsch ist.«

Robert nickte. »Ja. Ja, stimmt.«

»Gut.« Sarah erhob sich jetzt vom Bett und blieb an der Tür stehen. »Na schön, Robert, ich muß unser Gespräch... erst mal verdauen, und ich gehe jetzt eine Weile nach unten. Aber ich möchte, daß du darüber nachdenkst, was ich gesagt habe, und daß du weißt, na ja, daß du, egal, wie schlimm es in deiner Familie zugeht, immer mit mir darüber reden kannst. Ich bin immer für dich da.«

Als sie ging, blickten sie einander zum erstenmal direkt in die Augen; und da geschah etwas, eine Verbindung wurde hergestellt, nur für einen kurzen Moment, bevor Sarah sich umdrehte und das Zimmer verließ, erleichtert, in den Schutz des Korridors und dann hinaus zu den Klippen und in die Herbstbrise entfliehen zu können. Während er ihren verklingenden Schritten lauschte, begann Robert, wieder in langen, gleichmäßigen Zügen zu atmen.

Er sah sie erst einige Tage später wieder. Er hatte sie zwar von seinem Fenster aus gesehen, auf dem Weg vom oder zum Haus, oder einen flüchtigen Blick von ihr erhaschen können, wenn sie in ihr Zimmer verschwand oder durch die L-förmige Küche ging, aber es ergab sich keine Gelegenheit, mit ihr zu sprechen, und so war er schließlich überzeugt, daß sie ihm bewußt aus dem Weg ging. Eines Abends gegen Ende der Woche sprach er sie direkt darauf an, und sie gab zu, daß sein Verhalten sie schockiert habe – besonders, daß er nach dem Tod seiner Schwester nicht gleich nach Hause gefahren sei. Sobald dieses Mißverständnis ans Licht gekommen war, ließ es sich natürlich mühelos ausräumen. Robert prustete los, sobald er begriff, was passiert war, aber sie war zu verlegen, um das Ganze von der komischen Seite zu betrachten, und außerdem bestürzt über diesen weiteren Beweis dafür, wie tückisch ihre Träume waren. Sie entschuldigte sich recht kühl und machte keinerlei Anstalten, das Gespräch fortzusetzen.

Noch am selben Abend jedoch, nachdem die meisten Studenten bereits zu Bett gegangen waren, schaute Robert zum Fenster hinaus und sah Sarah allein auf der mondbeschienenen Terrasse stehen. Sie blickte hinaus in die Dunkelheit und lehnte an der Brüstung, auf der sie offenbar ein Glas Weißwein abgestellt hatte. Er ging nach unten ins Fernsehzimmer und trat durch die Flügeltür, deren verrostete Angeln durchdringend quietschten, auf die Terrasse. Sie wandte sich um, als sie ihn kommen hörte, und lächelte ermutigend.

Sie fingen ein Gespräch an, das sie später in der Küche fortsetzten, und es war nach vier Uhr morgens, als sie sich schließlich gute Nacht sagten und nach oben in ihre Zimmer gingen. Es war wahrscheinlich das längste Gespräch, das Robert bis dahin in seinem Leben geführt hatte. In der bedrückenden Stille, die ihn zu Hause stets umgeben hatte – seine Mutter war scheu und unterwürfig, sein Vater mürrisch und verschlossen –, hatte er nicht gelernt, sich mit jemandem so frei und vertrauensvoll zu unterhalten. Als sie ihr Gespräch beendet hatten, war er trunken vom vielen Reden, berauscht von den offenen Geständnissen. Sie hatten über alles gesprochen, so schien es ihm, und nichts voreinander verborgen. Zunächst hatten sie über das Ende von Sarahs Beziehung mit Gregory geredet und danach ihren Gedanken freien Lauf gelassen, über Liebe, Freundschaft, Familie und Geschlechterrollen diskutiert, einander immer offener die persönlichsten Dinge anvertraut, je umfassender und komplexer die Themen wurden, bis Robert plötzlich klar erkannte: über all das, was er Sarah anvertraut hatte, über sich, über seine Eltern, über sein Leben zu Hause, hatte er sich nie zuvor Gedanken gemacht

Das Haus des Schlafes

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