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Hier, über eine Strecke von wenigen hundert Metern, bemühte sich die Stadt plötzlich, ihre Küstenlage zu nutzen und sich endlich wie ein Urlaubsort zu gebärden. Zwanzig Badehütten, in schäbigem Blaßgelb, – grün und – blau gestrichen, standen zwischen Promenade und Strand. Ein Kiosk verkaufte Eis und Zuckerwatte. Liegestühle waren zu mieten. Doch das alles wirkte irgendwie oberflächlich, halbherzig. Es verpuffte, noch bevor es richtig begonnen hatte. Nur wenige Urlauber kamen hierher; nur wenige Zimmer in den unterschiedlichen Pensionen mit Meerblick waren belegt, selbst im sogenannten Hochsommer. Und heute, an diesem warmen, windigen Sonntag nachmittag Ende Juni, an dem weggeworfene Chipstüten trostlos gegen die Rauhputzwände der öffentlichen Toilette wehten und Möwen über den schwappenden Wellen der steigenden Flut tanzten, waren am Strand nur zwei Gestalten zu sehen. Eine vor ihnen, eine junge Frau um die Zwanzig mit langem, dünnem, tiefschwarzem Haar, stand, die nackten Arme verschränkt, nur wenige Schritte vom Wasser entfernt und blickte hinaus aufs Meer. Die andere, die vielleicht fünfzehn oder zwanzig Jahre älter war, saß auf einer Bank in der Nähe der Strandhütten, den Mantel ordentlich neben sich gefaltet, einen kleinen Koffer zu ihren Füßen, die Augen geschlossen, das Gesicht der Sonne zugeneigt, die ab und zu durchkam.

Die jüngere Frau drehte sich um und ging über den Kieselstrand zurück. Sie blieb stehen, bückte sich, nahm einen merkwürdig geformten Stein auf, warf ihn dann aber wieder fort. Sie trat versehentlich gegen eine Cola-Dose, und bei dem Geräusch merkte sie wieder, was für ein stiller Nachmittag es war.

Die ältere Frau hörte das Geräusch, öffnete die Augen und blickte sich um.

Es gab drei Bänke, doch eine war mutwillig zerstört worden, fast völlig auseinandergenommen, und daher nicht mehr zu benutzen, und die andere wurde gänzlich von der ausgestreckten, schlafenden Gestalt eines Mannes im mittleren Alter in Beschlag genommen. Er hatte ein rotes Gesicht und einen struppigen Bart, seine Kleidung roch ranzig, die rechte Hand hielt eine Dose Apfelwein umklammert.

Aber die jüngere Frau wollte sich trotzdem hinsetzen.

»Stört es Sie, wenn ich mich dazusetze?« mußte sie schließlich fragen.

Die ältere Frau lächelte, schüttelte den Kopf und legte ihren Mantel beiseite.

Die beiden Frauen saßen da, schweigend.

Die ältere Frau war müde. Sie war mit ihrem Koffer den ganzen Weg vom Bahnhof zum Strand zu Fuß. Sie schwitzte stark, und sie hatte den leisen Verdacht, daß ihre Schuhe, die sie erst zwei Wochen zuvor gekauft hatte, eine halbe Nummer zu klein waren. Sie hatte sie ausgezogen, als sie sich auf die Bank setzte, und festgestellt, daß die nackten Füße feuerrote Striemen bekommen hatten, die erst jetzt allmählich verblaßten. Immer wieder beugte und streckte sie die Zehen, die die Freiheit genossen, bis sie merkte, daß die jüngere Frau ihr auf die Zehen starrte – mit einer Art ehrfürchtiger Faszination. Augenblicklich legte sie die Füße übereinander und versteckte sie unter der Bank. Sie konnte ihre plumpen, männlichen Füße und dicken Knöchel nicht ausstehen, und wie die Leute immer daraufstarrten – vor allem Frauen und vor allem (wie in diesem Fall) Frauen, die sie selbst attraktiv fand.

Die jüngere Frau blickte sie verlegen an und lächelte, schüchtern, entschuldigend. Jetzt war klar: Sie würden miteinander reden.

»Falls Sie ein Zimmer suchen«, wagte die jüngere Frau sich vor, »könnte ich Ihnen vielleicht helfen. Ich kann Ihnen da was empfehlen.«

»Ach ja?«

Sie nannte den Namen einer nahegelegenen Pension.

»Und wodurch unterscheidet sie sich von den anderen?«

Die jüngere Frau lachte. »Durch nichts eigentlich. Nur daß sie von meiner Mutter geführt wird.«

Die andere Frau lächelte. »Vielen Dank jedenfalls, aber ich suche kein Zimmer.«

»Oh. Ich dachte nur, wegen des Koffers ...«

»Ich war weg«, sagte die ältere Frau. »Ich komme gerade vom Bahnhof.«

Irgend etwas an der Art, wie sie das sagte – irgend etwas an der Formulierung »Ich war weg«, – ließ die jüngere Frau vermuten, daß sie nicht bloß einen Urlaub meinte. Es klang eher nach einer längeren Zeit im Exil.

»Ach ja?« sagte sie. »Eine lange Reise?«

»Zwei Wochen Italien. San Remo. Sehr schön.«

Also hatte sie sich geirrt.

»Dann wohnen Sie hier?«

Allmählich fand die ältere Frau diese Fragen recht direkt. Ein abwegiger Gedanke schoß ihr durch den Kopf: War es möglich – war es vielleicht möglich –, daß die andere versuchte, sie anzumachen?

Sie beschloß, die Hypothese zu überprüfen, indem sie ganz offen war, jede gewünschte Information lieferte. Mal sehen, was dann passieren würde.

»Etwa drei Meilen von hier an der Küste«, sagte sie. »In der Dudden Clinic. Ich arbeite dort.«

»Wirklich? Sie sind Ärztin?«

»Psychologin.« Sie wühlte in ihrer Tasche nach einem Kleenex, wischte sich die Stirn ab. »Kennen Sie die Klinik?«

»Ich denke, ja. Die gibt’s noch nicht lange, oder?«

»Gut zwei,Jahre.«

»Was für... eine Klinik ist das?«

»Wir behandeln Menschen mit Schlafstörungen. Das heißt, wir versuchen es.«

»Sie meinen – Leute, die im Schlaf sprechen und so?«

»Leute, die im Schlaf sprechen, Leute, die schlafwandeln, Leute, die zuviel schlafen, Leute, die nicht genug schlafen, Leute, die im Schlaf vergessen zu atmen, Leute, die schreckliche-Träume haben ... und so weiter.«

»Ich habe früher im Schlaf gesprochen.«

»Das tun viele Kinder.« Die ältere Frau sah auf die Uhr: In vier Minuten sollte an der Haltestelle auf der Küstenstraße ein Bus kommen. Sie beugte sich vor und zwängte die Schuhe an ihre wehen Füße. Dann griff sie in ihre Handtasche und sagte: »Hier – ich gebe Ihnen meine Karte. Man kann ja nie wissen, vielleicht möchten Sie uns ja mal besuchen. Sie sind herzlich willkommen, wenn Sie sich auf mich berufen.«

Die jüngere Frau wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte nie eine Visitenkarte überreicht bekommen.

»Vielen Dank«, brachte sie heraus, als sie die Karte nahm.

Sie meinte, als die ältere Frau sich verabschiedete, in deren Augen Enttäuschung zu lesen: nicht bloß eine vorübergehende Enttäuschung, wie man sie empfindet, wenn eine schwache Erwartung nicht erfüllt wird, sondern etwas Tieferes und Beständigeres. Sie hielt den Rücken gebeugt, während sie sich mit ihrem Koffer entfernte. Die jüngere Frau sah auf die Karte in ihrer Hand und las: »Dr. C. J. Madison, Psychologin, The Dudden Clinic«. Darunter waren einige Fax – und Telefonnummern.

Die ältere Frau hatte vergessen, sich nach ihrem Namen zu erkundigen. Aber sie hätte ihn ohnehin nicht verraten.

Als sie im Eilschritt zur Pension ihrer Mutter zurückging, schwirrte ihr der Kopf.


Riesig, grau und imposant stand Ashdown auf einer Landzunge, etwa zwanzig Meter von den steilen Felsklippen entfernt, und das seit über einhundert Jahren. Den ganzen Tag lang umsegelten die Möwen seine Dachspitzen und Türmchen, schrien sich heiser. Den ganzen Tag und die ganze Nacht lang warfen sich die Wellen wie verrückt gegen die steinerne Barrikade, schickten ein endloses Tosen wie von starkem Straßenverkehr durch die eisigen Räume des alten Hauses und das Labyrinth aus widerhallenden Korridoren. Sogar in den verlassensten Teilen von Ashdown – und das Gebäude stand jetzt fast ganz leer – herrschte niemals völlige Stille. Die noch am ehesten bewohnbaren Räume drängten sich im ersten und zweiten Stock, mit Blick aufs Meer, und wurden tagsüber von kaltem Sonnenlicht durchflutet. Die Küche im Erdgeschoß war lang und L-förmig, mit einer niedrigen Decke; sie hatte nur drei kleine Fenster und war ständig in Dunkelheit getaucht. Ashdowns rauhe, den Naturgewalten trotzende Schönheit ließ nicht vermuten, daß das Haus praktisch unbewohnbar war. Seine ältesten und nächsten Nachbarn konnten sich erinnern, wenn auch nur schwerlich glauben, daß es einmal ein Privatsitz gewesen war, in dem eine nur acht – oder neunköpfige Familie gelebt hatte. Doch drei Jahrzehnte zuvor war es von der neuen Universität erstanden und als Studentenwohnheim genutzt worden. Dann wurden die Studenten ausquartiert, und das Haus ging an Dr. Dudden, der dort seine Privatklinik und sein Schlaflabor einrichtete. Die Klinik hatte Platz für dreizehn Patienten – eine wechselnde Belegschaft, so veränderlich wie der Ozean, der sich zu Ashdowns Füßen bis hin zum Horizont erstreckte, in einem ungesunden Grün und getrieben von ewiger Unrast.


Am nächsten Morgen stand Dr. Dudden vor dem Raum, in dem seine Kollegin mit drei Patienten ein Seminar abhielt, und lauschte durch die geschlossene Tür. Sein Körper erstarrte förmlich vor Mißbilligung: Die Atmosphäre klang geradezu ausgelassen. Fast pausenlos plapperten die Stimmen durcheinander, nur hin und wieder unterbrochen von dröhnenden Lachsalven, und zwischendurch konnte er deutlich Dr. Madisons typisches Glucksen vernehmen. Dann hörte er, wie sie einen Monolog vom Stapel ließ, der vielleicht eine halbe Minute dauerte, diesmal gefolgt von nicht enden wollenden Wellen kreischenden Gelächters, begleitet von dumpfen Schlägen auf Tische und all den anderen Geräuschen hilfloser Heiterkeit. Zornbebend trat Dr. Dudden von der Tür zurück. Seit geraumer Zeit ging das Gerücht, daß Dr. Madisons Patienten ihre Seminare regelrecht genossen, und das hier war der konkrete Beweis. Es war empörend und obendrein unwissenschaftlich. Es konnte keinesfalls geduldet werden.

Am Mittag rief er Dr. Madison in sein Büro – ein düsterer Raum im hinteren Teil des Hauses mit Blick auf einen ungepflegten Garten. Ein komplizierter Kalender mit Stundenplan nahm die Hälfte der größten Wand ein, und daneben hing ein Grundriß des Hauses, auf dem die Tagesräume und Schlafzimmer eingezeichnet waren und die Namen der Patienten standen, mit denen die Räume zur Zeit belegt waren. Es gab vier Regale, allesamt mit Lehrbüchern und gebundenen Fachzeitschriften gefüllt, und die übrigen Wände waren mit Postern von pharmazeutischen Firmen und amerikanischen Softwareherstellern tapeziert – dekoriert wäre wohl kaum der richtige Ausdruck. Aus einem Kassettenrecorder erklangen leise barocke Cembaloklänge.

Seine erste Frage war: »Haben Sie die SBFs mitgebracht?«

In dem Schlaf Bewußtseins-Fragebogen, einer Erfindung von ihm, mußten die Patienten jeden Morgen auf einer Skala von eins bis fünf einstufen, wie sie in der vergangenen Nacht geschlafen hatten. Sie wurden gefragt, ob sie vor dem Einschlafen beunruhigende Gedanken gehabt hatten, nachts zum Klo gegangen waren, Herzklopfen, Beinkrämpfe oder Alpträume hatten, ob sie zwischendurch längere Zeit wachgelegen hatten – und über achtzig weitere Fragen. Der Fragebogen sollte jeden Morgen zu Beginn der Sitzung ausgefüllt werden und als Gesprächsgrundlage dienen.

»Nein«, sagte Dr. Madison.

»Das erstaunt mich sehr.«

»Wir hatten nicht die Zeit, sie alle auszufüllen.«

»Das erstaunt mich noch mehr«, sagte Dr. Dudden. »Denn nach dem, was ich hören konnte, schienen Sie genug Zeit zu haben, um Witze zu erzählen und zu kichern und zu tratschen wie ein Haufen Waschfrauen.«

Waschfrauen? dachte Dr. Madison, sagte aber nichts dazu.

»Da Sie nicht bei uns im Raum waren«, sagte sie, »gehe ich davon aus, daß Sie an der Tür gelauscht haben. Und da Sie an der Tür gelauscht haben, gehe ich davon aus, daß Sie nicht verstehen konnten, worüber gesprochen wurde. Hätten Sie das, wäre Ihnen sicherlich klargeworden, daß es voll und ganz im Interesse der Klinik war.«

Sie betonte die Worte »im Interesse der Klinik« mit leicht eisiger Stimme, was Dr. Dudden entweder nicht wahrnahm oder lieber nicht wahrnehmen wollte.

»Das«, sagte er, »stelle ich ja gar nicht in Abrede. Ich glaube gern, daß Sie sich während dieser... Plaudereien auf das entscheidende Thema beschränken. Aber ich darf Sie wohl daran erinnern, daß Sie hier – von mir – angestellt sind, um unser Thema als Psychologin und nicht als Kabarettistin in Angriff zu nehmen.«

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Dr. Madison und strich geistesabwesend ihren Rock glatt.

»Vor wenigen Minuten habe ich mit Miss Granger gesprochen, die heute morgen in Ihrem Seminar war. Ich habe sie gefragt, was denn so erheiternd gewesen sei, und nach einigem Zögern hat sie es mir erzählt. Tatsächlich hat sie eine Bemerkung von Ihnen wiederholt.« Er beugte sich vor und las von dem Notizblock auf seinem Schreibtisch ab. »Jeden Dienstag lädt Dr. Dudden die Patienten in seiner Klinik zu einer seiner Vorlesungen an der Universität ein. Diese Woche war es so langweilig, daß selbst die Narkoleptiker bis zum Schluß wachgeblieben sind.« Er blickte auf. »Streiten Sie diese Bemerkung ab?«

»Nein.«

»Sie denken wahrscheinlich, daß ich mich persönlich beleidigt fühle. Und dem ist auch tatsächlich so, aber darum geht es mir hier nicht.«

»Es war bloß ein Witz.«

»Oh, das ist mir klar. Sie dürfen mir glauben, Dr. Madison, daß ich sehr wohl imstande bin, einen Witz zu erkennen. Darf ich Sie fragen, ob Sie auch die Narkolepsie – um Ihren Ausdruck zu verwenden – für einen Witz halten oder ob Sie sie – was ich offen gestanden tue – für eine ernste psychophysiologische Erkrankung halten, die für die Betroffenen äußerst traumatisch und quälend ist?«

»Narkolepsie ist mein Spezialgebiet, Doktor, und zwar seit vielen Jahren. Das wissen Sie ganz genau. Ich verstehe daher nicht, wie Sie mein Engagement bei der Behandlung der Erkrankung – die Ernsthaftigkeit meines Engagements -in Frage stellen können.« Sie seufzte. »Abgesehen davon ist Ihnen doch sicherlich bewußt, daß durch Lachen ausgelöste Kataplexie eines der unangenehmsten und gesellschaftlich peinlichsten Symptome des Syndroms ist. Die Workshops sollen den Patienten helfen, damit umzugehen: Sie sollen lernen, wieder unbeschwerter zu lachen. Meiner Ansicht nach ist Humor ein absolut unerläßliches therapeutisches Mittel in diesem Prozeß.«

»Eine findige Erklärung«, sagte Dr. Dudden nach einer Pause. »Aber keine befriedigende.« Er verschränkte die Arme und drehte seinen Schreibtischsessel leicht zur Seite, so daß er sie nicht mehr direkt ansprach. »Sie erinnern sich, daß ich heute morgen einen Gesprächskreis hatte mit vier Patienten, die an chronischer Schlaflosigkeit leiden. Wissen Sie, was Sie gehört hätten, wenn Sie dabei an meiner Tür gehorcht hätten?«

»Wahrscheinlich Schnarchen«, entfuhr es Dr. Madison, bevor sie sich hätte beherrschen können.

Dr. Duddens Mundwinkel zuckten kurz; ansonsten zeigte er keinerlei Reaktion.

»Wie ich sehe, steht Schlaf-Apnoe ebenfalls auf Ihrer Liste geeigneter Heiterkeitsthemen. Das muß ich mir notieren.« Er tat sogar so, als würde er etwas auf seinen Notizblock kritzeln, während Dr. Madison mit wachsender Verwunderung zusah. Dann sagte er: »Nein, Sie hätten das Kratzen von Bleistiften auf Papier gehört, während vier Schlaf-Bewußtseins-Fragebögen ordnungsgemäß ausgefüllt wurden, und dann Stimmen, und zwar immer nur eine auf einmal, und in vernünftigem und ruhigem Ton, während die Ergebnisse der Fragebögen verglichen und analysiert wurden.«

Dr. Madison befand, daß es nun wirklich reichte, und stand auf, in der Hoffnung, dem Grauen entfliehen zu können.

»Ich verstehe, was Sie meinen, Dr. Dudden. Wenn das alles ist...«

»Leider nein. Bitte setzen Sie sich.« Er wartete demonstrativ ab, bis sie wieder Platz genommen hatte. »Ich möchte Sie daran erinnern, daß Sie Dr. Goldsmith heute nachmittag bei dem Vorgespräch mit Mr. Worth assistieren sollen. Ist das klar?«

»Es ist mir klar, aber leider unmöglich. Ich habe schon etliche Termine und einen erheblichen Arbeitsrückstand –«

»Verstehe.« Er nahm einen Bleistift und tippte damit auf den Schreibtisch, während seine Wangen sich vor Ärger röteten. »Sie halten also an Ihren Einwänden fest, nicht wahr?«

»Einwände, Dr. Dudden?«

»Sie haben bereits unmißverständlich klargemacht, was Sie von dem Neuzugang halten. Oder haben Sie unser Gespräch kurz vor Ihrer Abreise vergessen?«

Dr. Madison hatte es ganz und gar nicht vergessen, zumal es die letzte einer langen Reihe zunehmend heftiger Konfrontationen gewesen war. Dr. Dudden hatte ihr in einer kürzlich erschienenen Ausgabe des Independent einen Artikel gezeigt, den ein freier Journalist namens Terry Worth offenbar für eine Anzahl überregionaler Zeitungen geschrieben hatte. Gewöhnlich schrieb er über Filme, ließ sich aber manchmal auch über allgemeinere Themen aus. In diesem Artikel hatte er seine Absicht angekündigt, an einem Wettbewerb teilzunehmen, der in einem Londoner Programmkino im Rahmen eines zehntägigen »Cinethons« veranstaltet werden sollte. Während dieser Veranstaltung wurden täglich rund um die Uhr ununterbrochen Filme gezeigt, und der Zuschauer, der die meisten Filme hintereinander durchhielt, sollte einen Preis bekommen. Worth hatte behauptet, er als Langzeitschlafloser würde es schaffen, alle 134 Filme hindurch wach zu bleiben, und Dr. Dudden hatte nach der Lektüre des Artikels umgehend bei der Zeitung angerufen und sich mit Worth in Verbindung gesetzt.

»Überlegen Sie doch bloß mal, was das für unsere Forschung bedeuten könnte«, hatte er Dr. Madison vorgeschwärmt. »Wir lassen ihn sofort nach der Veranstaltung auf schnellstem Wege hierherbringen. Legen ihn direkt in ein Bett und dann – Sieben-Elektroden, um Schlafstörung und -struktur zu messen ... sechzehn Kanäle zur Aufzeichnung des EEG... manuelle Auswertung der Schlafaufzeichnung anhand der Pupillenbeobachtung... vollständiger Schlaffragebogen natürlich. Es ist eine einmalige Gelegenheit um festzustellen, wie es sich auf den Trauminhalt auswirkt, wenn man ununterbrochen Medienbildern ausgesetzt ist.«

»Und das ist der einzige Grund?« hatte Dr. Madison gefragt.

»Das reicht doch wohl als Grund, oder etwa nicht? Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich hab mich nur gefragt, ob Sie dabei vielleicht auch die Publicity im Auge haben. Wird Mr. Worth für seine Behandlung bezahlen?«

»Das tut nichts zur Sache.«

»Und wird er einen Artikel über uns schreiben? Ist das Teil der Abmachung?«

»Es gibt keine Abmachung, Dr. Madison. Ich finde die Andeutung höchst unangebracht. Und selbst wenn es eine Abmachung gäbe, sollten Sie bedenken, daß diese Klinik überwiegend eine private Einrichtung ist, daß wir auf die Finanzierung durch die Patienten selbst angewiesen sind und daß der Gedanke, ab und an in bescheidenem Maße etwas Werbung für uns zu machen, an sich nicht verwerflich ist.« Er hatte eine Seite in seinem Terminplaner aufgeschlagen, die bereits mit einem blauen Band gekennzeichnet war. »Mr. Worth trifft Montag in zwei Wochen hier ein, am späten Vormittag. Wie ich sehe, kommen Sie einen Tag davor aus dem Urlaub zurück, daher schlage ich vor, daß Sie und Dr. Goldsmith am Nachmittag das Einführungsgespräch mit ihm führen. Ich trage Sie dafür ein, ja?«

»Wenn Sie unbedingt wollen«, hatte sie mit einem gleichgültigen Achselzucken gesagt; und an diese unverschämte Bemerkung und Geste mußte Dr. Dudden jetzt wieder denken, als er Dr. Madison über den Schreibtisch hinweg anstarrte, fast bebend vor Wut.

»Glauben Sie nur nicht«, sagte er leise, »bilden Sie sich bloß nicht ein, daß meine Gutmütigkeit unerschöpflich ist.«

»Der Gedanke ist mir nie gekommen«, erwiderte Dr. Madison.

Nach einigen Schweigesekunden begriff sie, daß das Gespräch beendet war. Sie ging und schloß sachte die Tür hinter sich.


Dr. Madison war noch wach, als sie kurz nach Mitternacht durch das offene Flügelfenster, das die warme Brise hereinließ und ihr Zimmer in schimmerndes Mondlicht tauchte, Schritte auf der Terrasse vor dem Haus hörte. Sie zog ihren Morgenmantel über und spähte durchs Fenster. Draußen stand ein Mann, an die Brüstung gelehnt, und rauchte eine Zigarette. Sie glimmte golden auf, als er einen Zug nahm, ein stecknadelkopfgroßer Lichtpunkt, der gleich wieder erlosch. Er hatte nichts Beängstigendes an sich. Er sah nicht wie ein Eindringling aus. Sie beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen.

Auf dem Weg nach unten begegnete sie Lorna, einer der technischen Assistentinnen, die mit besorgter Miene über den Korridor gehastet kam.

»Ich wollte gerade Dr. Dudden wecken«, sagte sie. »Es ist was Merkwürdiges passiert. Ich habe den Patienten in Zimmer neun vor etwa einer Stunde in seinem Bett an die Geräte angeschlossen. Eine Zeitlang habe ich ihn beobachtet, und es deutete nichts darauf hin, daß er einschlafen würde, aber es schien ihm gutzugehen. Er lag ganz still da. Dann bin ich gegangen, um mir eine Tasse Tee zu machen, und als ich zurückkam, war er verschwunden.«

»Verschwunden? Sie meinen, er hat sich alle Elektroden selbst abgemacht?«

»Ich denke, ja.«

»Zimmer neun – da ist doch Mr. Worth untergebracht worden, nicht?«

Sie eilte zu dem betreffenden Zimmer und fand alles so vor, wie Lorna es beschrieben hatte: das Bett leer, die Laken zerwühlt und am Kopfende des Bettes ein Gewirr von Elektroden, die das Kopfkissen mit Kleber verschmiert hatten. Das war äußerst ungewöhnlich. Es kam zwar häufig vor, daß schlaflose Patienten mitten in der Nacht aufstehen wollten, aber nur selten, daß einer der Wachsamkeit der Assistenten entwischte und die Sache selbst in die Hand nahm.

»Keine Sorge«, sagte Dr. Madison. »Ich glaube, ich weiß, wo er ist. Ich rede mit ihm.«

»Und Dr. Dudden?«

»Wecken Sie ihn nicht. Ich finde, er braucht nichts davon zu wissen.«

Sie ging zum Gemeinschaftsraum im vorderen Teil des Hauses, von dem aus man durch eine Flügeltür auf die Terrasse gelangte. Sie konnte sehen, wie der Mann in der Dunkelheit auf und ab ging. Die Terrassentür wurde viel benutzt, aber ihre Scharniere waren verrostet und quietschten durchdringend. Der Mann fuhr erschrocken herum und betrachtete Dr. Madison, die durch die Dunkelheit rasch auf ihn zuging. Sein Gesicht leuchtete selbst in der Finsternis blasser als der Mond.

Draußen an der Hauswand war eine Lampe, aber Dr. Madison hatte sie nicht angeschaltet.

»Mr. Worth, wenn ich nicht irre?« sagte sie.

»Stimmt genau.« Wie sie trug er einen Pyjama und einen Bademantel.

»Ich bin Dr. Madison, sozusagen Dr. Duddens Mädchen für alles.« Sie hielt inne, um abzuwarten, wie er auf diesen Ausdruck reagierte, ob er den leicht spöttischen Unterton registrierte. Das Mondlicht und das Glimmen der Zigarette erhellten sein Gesicht gerade genug, daß die Andeutung eines Lächelns zu erkennen war. »Offenbar haben Sie Ihren Posten verlassen.«

»Ja. Ich konnte nicht schlafen.«

»Damit haben wir auch nicht gerechnet.«

»Nein. Ich schlafe nicht, wissen Sie?«

»Wie auch immer, Sie wissen doch wohl, daß Sie um Erlaubnis fragen sollten, bevor Sie aufstehen.«

»Das hat man mir gesagt, ja, aber ich habe es nicht so ernst genommen.«

»Verstehen Sie, die Geräte, mit denen Sie hantiert haben, sind sehr empfindlich und sehr teuer. Außerdem haben Sie jetzt Kleber im Haar, was ziemlich unangenehm sein muß.«

Der Mann berührte zögernd seine Haare, zuckte angewidert zusammen. »Allerdings. Tja, tut mir leid. Ich hoffe, ich habe nichts kaputtgemacht.«

»Diesmal nicht. Aber da ist noch was – wir schätzen es nicht besonders, wenn unsere Patienten nach Einbruch der Dunkelheit herumlaufen. Das hat man Ihnen doch bestimmt auch mitgeteilt.«

In der Ferne donnerte wütend das Meer. Wellen brandeten mit träger Unregelmäßigkeit gegen die Felsen. Der Mann lauschte ihnen eine Weile, bevor er sagte: »Ich muß mich irgendwie entspannen.«

»Ja, das verstehe ich. Keine Bange. Sie kommen schon nicht in den Karzer, und Sie müssen auch nicht hundertmal schreiben ›Ich darf nicht ohne Erlaubnis aufstehen‹.«

Jetzt lachte er und sagte: »Nennen Sie mich doch Terry.«

»Danke. Das werde ich«, sagte Dr. Madison. Doch statt ihm anzubieten, sie ebenfalls beim Vornamen zu nennen, wie Tery erwartet hatte, fragte sie: »Haben Sie durchgehalten?«

»Verzeihung?«

»Ihren Filmmarathon. Zehn Tage. Hundertvierunddreißig Filme. Wie ist es Ihnen ergangen?«

»Ach das. Ja, ich habe durchgehalten. Kein Problem. Ich glaube, ich komme ins Guiness-Buch der Rekorde.«

»Glückwunsch.« Terry hatte den Eindruck, als wollte Dr. Madison wieder ins Haus gehen, aber irgend etwas hielt sie zurück – irgendein fast widerwilliger Drang, die Unterhaltung zu verlängern. Sie sagte: »Dr. Dudden wird entzückt sein. Sie sind jetzt schon sein Liebling.«

»Ach ja?«

»Das ist sein Spezialgebiet. Schlafdeprivation.« Dann nach einer Pause: »Ratten.«

Terry fragte irritiert: »Haben Sie Ratten gesagt?«

»Ja, damit arbeitet er. Ratten. Er hält sie unter Schlafentzug, um zu sehen, was dann passiert.«

»Ein nettes Hobby. Und was passiert dann?«

»Sie sterben, für gewöhnlich. Aber ihr Tod ist jedenfalls nicht sinnlos gewesen, denn er kann seine Bibliographie um die ein oder andere Veröffentlichung ergänzen.«

»Ich habe das unbestimmte Gefühl«, sagte Terry, »daß Dr. Duddens Mädchen für alles nicht gerade die treueste Dienerin ist.«

»Alles, was ich Ihnen sage, ist übrigens streng vertraulich.«

»Selbstverständlich.«

Trotz seiner Versicherung schien sie von ihm zurückzuweichen, fast unmerklich, sich mit noch undurchdringlicherer Dunkelheit zu umhüllen. Er konnte ihr Gesicht nicht mehr erkennen. »Verstehen Sie, es geht ihm nicht darum, Menschen zu heilen«, sagte sie. »Ihm geht es nur um das Wissen. Er wird Sie nicht heilen.«

»Mag sein», sagte Terry. »Aber vielleicht die Klinik.«

Einen Augenblick lang nahmen sie beide erneut den rauschenden Angriff der Wellen wahr; Wolken, die durchs Mondlicht trieben; die Unermeßlichkeit des Ozeans. Terry trat seine Zigarette aus, leckte sich über die Lippen und genoß den Salzgeschmack.

»Ja, dieses Haus hat eine... ganz bestimmte Atmosphäre«, sagte Dr. Madison. »Sie werden sich hier sehr gut erholen. Wie lange bleiben Sie?«

»Erst mal für zwei Wochen«, sagte Terry. »Aber das habe ich nicht gemeint. Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich glaube, daß ich hier – na ja, vielleicht nicht gerade geheilt werde ...«

Seine Stimme verlor sich. Dr. Madison wartete.

»Ich habe früher hier gewohnt, wissen Sie.«

»Hier gewohnt?«

»Nicht lange. Als Student. Vor zwölf Jahren. Seitdem war ich nicht mehr hier. Das ist mit ein Grund – der Hauptgrund vermutlich –, warum ich beschlossen habe hierherzukommen. Aus Neugier.«

Dr. Madison sagte lakonisch: »Tja, dann haben Sie ja etwas mit Dr. Dudden gemein.«

»Wie meinen Sie das?«

»Er war auch als Student hier.«

»Tatsächlich? Wann?«

»Ich glaube nicht, daß Sie beide zur selben Zeit hier waren.«

»Das kann man nie wissen. Wie heißt er denn mit Vornamen?«

»Gregory.«

»Gregory Dudden ... Sagt mir nichts ...« Seine Gedanken hatten sich jetzt auf eine andere Erinnerung konzentriert. »Damals hatte ich eine Bekannte – merkwürdig. Ich habe seitdem kaum an sie gedacht, aber jetzt... fällt mir doch einiges wieder ein ... Jedenfalls ... eigentlich ist sie diejenige, die wieder herkommen sollte, denn sie hatte ein absolut seltsames... Syndrom, wie Sie vermutlich sagen würden.«

»Inwiefern?«

»Sie hatte Träumen – unglaublich lebensechte Träumen – Träume, die so lebensecht waren, daß sie nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnte.«

»Hypnagoge Halluzinationen«, sagte Dr. Madison. »Auch als Vorschlafträume bekannt.«

»Es gibt eine Bezeichnung dafür? Heißt das, es ist ziemlich verbreitet?«

»Nein, es ist ganz und gar nicht verbreitet. Es kann sich dabei um eines der Symptome der Narkolepsie handeln. War sie narkoleptisch?«

»Ich bin nicht sicher.«

»Kannten Sie sie gut?«

»Ich denke, ja. Wir haben eine Weile – nur ein paar Wochen – zusammengewohnt, im letzten Jahr an der Uni.«

»Wenn Sie sagen, zusammengewohnt...«

»Nein, ich meine, wir haben uns nur eine Wohnung geteilt. Wir haben nie...« Die Worte verklangen in doppeldeutigem Schweigen – halb gleichgültig, halb bedauernd. Erst als er hinzufügte: »Sie hieß Sarah«, schwang in seiner Stimme plötzlich etwas Sanftes und Nachdenkliches mit. Dann wurde sie wieder energisch. »Tut mir leid, ich halte Sie wahrscheinlich auf. Sie sind doch bestimmt müde.«

»Eigentlich nicht. Sie denn?«

Terry lachte laut auf. »Ich bin immer müde«, sagte er, »und niemals müde. Das ist mein Fluch, fürchte ich. Im Moment ist jedenfalls überhaupt nicht an Schlaf zu denken. Wenn es nach mir geht, haben wir die ganze Nacht Zeit.«

»Also schön«, sagte Dr. Madison aufmunternd. »Erzählen Sie mir von Sarah, und von ihren Träumen.«

Das Haus des Schlafes

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