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Gedanken gemacht, was eigentlich an den Zimmern in der Dudden Clinic merkwürdig war, und auf einmal wurde ihm klar: Sie enthielten zwar Schränke und Waschbecken und Kommoden und Schreibtische und Sessel und alle sonstigen Utensilien, die man zum Wohnen brauchte, aber keine Betten. Was natürlich durchaus einleuchtend war. Pünktlich abends um halb elf machten sich die dreizehn Patienten, gewaschen und für die Nacht gekleidet, von den Tagesräumen auf den Weg zu den dreizehn kleinen, schlichten Schlafzimmern mit den angrenzenden Beobachtungsräumen, die fast das ganze Erdgeschoß einnahmen. Ansonsten waren keine Betten erforderlich. Dennoch mutete es seltsam an, daß an der rückwärtigen Wand dieses Raumes kein Bett stand, und er erinnerte sich plötzlich, daß Robert in seinem letzten Jahr an der Universität in genau diesem Zimmer gewohnt hatte, das ansonsten völlig unverändert war. Sogar die Möbel waren dieselben, und sie standen genau an derselben Stelle.

Es wunderte Terry, daß er sich an Roberts Zimmer besser erinnern konnte als an dessen Gesicht. Er überlegte, wann er ihn das letzte Mal gesehen hatte, und plötzlich kam ihm die verschwommene Erinnerung an einen grauen Samstag morgen in ihrem letzten gemeinsamen Sommer, wie Robert nahe am Rande der Klippe saß und sich mit Sarah unterhielt. Sie sahen beide müde und abgespannt aus. Das war zwölf Jahre her. Danach war er verschwunden, war so gründlich und radikal von der Bildfläche verschwunden, daß Terry es im Rückblick ziemlich beeindruckend fand. Damals hatte er sich kaum Gedanken darüber gemacht, weil er in jenem Sommer viel zu sehr damit beschäftigt war, seine glorreiche Karriere zu beginnen. Sarah hatte, soweit er sich erinnerte, gelegentlich versucht, ihn ausfindig zu machen. Aber ohne Erfolg.

Terry saß an seinem Schreibtisch mit Blick aufs Meer und öffnete sein Notebook. Er wußte nicht, was er schreiben wollte, doch wie immer fand er die solide Kompaktheit des Computers, die beschichtete Oberfläche und seine klare, erotische Form erregend und tröstlich. Er nahm das Netzteil aus dem Koffer und sah sich nach einer Steckdose um. Die einzige geeignete Steckdose befand sich direkt hinter dem Kleiderschrank, doch zwischen Wand und Schrank war nur Platz für einen normalen Netzstecker, und Terrys AC-Adapter war dafür zu groß. Der Schrank mußte ein wenig abgerückt werden. Er war aus Teakholz und sehr schwer. Terry legte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen eine Seite des Schrankes und schob ihn zirka fünfzehn Zentimeter an der Wand entlang, so daß die Steckdose freilag – und dann bemerkte er einen Schriftzug an der Wand, den der Schrank verdeckt hatte. Die Schrift befand sich etwa einen Meter über der Fußleiste, neben einem unidentifizierbaren braunen Fleck. Es waren zwei Wörter.

»Hinreißend«, sagte Terry laut zu sich selbst und beschloß, Dr. Dudden darüber zu informieren. Vielleicht würde er ihm dafür dankbar sein.

Er startete den Computer und ging die Dateien durch, den Finger schweißnaß und nervös auf dem Trackball. Er hatte über tausend Dokumente in mehr als dreißig Verzeichnissen, doch nichts davon schien ihn jetzt zu inspirieren. Dann nahm er einen handlichen Terminplaner aus seiner Jackentasche, schaltete ihn ein und suchte die Termine durch. Seit Beginn des Cinethons hatte er keinen Blick mehr hineingeworfen, und diesmal fiel ihm sofort etwas auf. Er griff erneut in die Tasche seines Jacketts, das über dem Sessel hing, holte ein Handy heraus und drückte zwei Tasten, um eine gespeicherte Nummer zu wählen. Unmittelbar darauf hörte er den Freiton.

»Hallo, Stuart? Ich bin’s, Terry.

Nicht schlecht. Bisher keine Nebenwirkungen.

Hör mal – wieso hast du mich nicht gefragt, ob ich über den neuen Kingsley-Film schreiben will? Der kommt Freitag in die Kinos.

Armstrong? Bist du noch bei Trost? Der hat doch keine Ahnung von dem Thema. Absolut keine. Der hat von nichts ‘ne Ahnung.

Natürlich hab ich keinen Urlaub. Ich sitze hier am Arsch der Welt und langweile mich den ganzen Tag zu Tode. Ich könnte deine ganze Zeitung für dich zusammenschreiben.

Welcher Verleih? Fox? Na, die könnten mir doch ein Band schicken, oder?

Klar könnte ich. Wann brauchst du ihn?

Kein Problem.

Nein, ich rufe selbst an. Jetzt gleich.

Der hat genug Chancen gehabt. Der braucht nicht noch eine Chance. Verdammt, was er braucht, ist mehr Talent, und nicht noch eine Chance.

Nein, ich rufe sie an. Ich regele das schon. Kein Problem. Morgen nachmittag.

Nein, ist nicht nötig.

Ganz einfach: Wenn du in der nächsten halben Stunde nichts von mir hörst, dann schicken sie mir ein Band, und ich schreibe dir den Artikel. Warte noch eine halbe Stunde, und dann ruf Armstrong an und sag ihm, er soll sich zum Teufel scheren.

Ja. Ganz einfach.

Ciao.«

Wie elektrisiert schaltete Terry das Handy aus und eilte nach unten. Das ehemalige Fernsehzimmer seiner Studentenzeit war jetzt der Aufenthaltsraum für die Patienten. Noch immer stand in einer Ecke ein Fernseher – ein großes Farbgerät, dessen Ton leise gedreht war und auf dessen Bildschirm ein lächerlich wirkender Mann mit Chefkochmütze Gemüse hackte und stumm in den leeren Raum brabbelte –, aber Terry suchte etwas anderes. Er schnalzte ärgerlich mit der Zunge und machte sich auf die Suche nach einem Mitarbeiter des Hauses.

In einem der Beobachtungszimmer entdeckte er Lorna, die technische Assistentin. Sie saß da, ein Klemmbrett auf dem Schoß und einen Becher Kaffee zwischen den Händen, und schaute auf einen Bildschirm, der auf einem Regal über den polysomnographischen Geräten stand. Sie bemerkte Terry in der Tür und warf ihm einen kurzen Blick zu, ließ sich aber ansonsten durch ihn nicht ablenken. Gemeinsam blickten sie einen Moment lang schweigend auf den Bildschirm. Er zeigte das verschwommene Schwarzweißbild einer Frau in einem Nachthemd, die, den Kopf mit Elektroden geschmückt, im Bett lag und schlief. Die Frau blieb völlig reglos, ebenso die Kamera. Terry sah Lorna an, die aufmerksam auf den Bildschirm starrte, betrachtete dann erneut etwa eine Minute lang das Bild auf dem Fernseher, das sich nach wie vor nicht veränderte.

»Scheiße«, sagte er schließlich. »Ich kann diese europäischen Autorenfilme einfach nicht ausstehen, Sie etwa?«

Lorna lächelte, nahm eine Fernbedienung in die Hand und stellte das Band auf Pause.

»Sie dürften das eigentlich gar nicht sehen«, sagte sie. »Was wollen Sie?«

»Ist das der Film, von dem in Hollywood gerade ein Remake mit Ted Danson und Goldie Hawn gedreht wird?«

»Dr. Dudden hat Sie gesucht«, sagte Lorna. »Vor ein paar Minuten.«

»Ja, ich weiß. Ich hatte um elf einen Termin bei ihm. Aber jetzt mal im Ernst – wozu gucken Sie sich das an? Können Sie mir das sagen?«

»Wenn ich das täte, würde ich gegen die Schweigepflicht verstoßen.« Trotzdem deutete sie nach kurzem Zögern auf einen Stoß Computerpapier auf ihrem Schreibtisch, auf dem der Polysomnograph Hirnstromkurven aufgezeichnet hatte. »Danach«, sagte sie, »hat es um 4.37 Uhr heute morgen eine starke Aktivität gegeben. Deshalb hab ich gedacht, ich könnte etwas auf dem Band sehen: wie sie die Beine bewegt oder so. Aber ich kann nichts entdecken.«

»Wieso ist die Aufnahme in Schwarzweiß? Ist das kein Farbgerät?« Terry bückte sich, um den Videorecorder in Augenschein zu nehmen.

»Doch, ist es.«

»Und der Ton? Wo ist der Ton?«

»Da oben an der Seite ist ein Lautstärkeregler.«

»Das ist also ein normaler Videorecorder, nicht? Ich meine, man kann damit ganz normale Bänder abspielen?«

»Ich glaube, ja.«

»Und für jedes Schlafzimmer gibt es so ein Gerät?«

»Ja.«

»Könnte ich morgen früh eins davon benutzen?«

»Nun ja, Zimmer drei ist zur Zeit leer, weil eine Patientin abgesagt hat. Theoretisch müßte das Gerät also frei sein. Aber ich bezweifle stark, daß Dr. Dudden –«

»Wann kommt hier die Post?« fragte Terry.

»Gegen halb zehn.«

»Ausgezeichnet. Mehr wollte ich gar nicht wissen.« Er schaltete sein Handy wieder ein und tippte auf dem Weg nach draußen bereits eine Nummer. Und mit einem letzten Blick auf den Bildschirm sagte er: »Rufen Sie mich, wenn die Nacktszene kommt, ja?«

Nachdem er die zuständige PR-Abteilung angerufen und überredet hatte, ihm per Eilsendung eine VHS-Kopie des Films zu schicken, stellte Terry fest, daß er für sein Gespräch mit Dr. Dudden bereits zwanzig Minuten zu spät dran war. Als Dudden das reumütige Gesicht in der Tür auftauchen sah, wandte er sich gleich wieder dem Manuskript auf seinem Schreibtisch zu und murmelte: »Kommen Sie herein, Mr. Worth, kommen Sie herein.«

Sobald Terry Platz genommen hatte, fügte er (scheinbar noch immer in seine Papiere vertieft) hinzu: »Vielleicht geht meine Uhr vor, aber ich habe schon 11.23 Uhr.«

»Stimmt. Ich hab mich verspätet.«

Endlich blickte Dr. Dudden auf. »Ich verstehe.«

»Ich hab wohl zu lang geschlafen.«

Diese Bemerkung erntete einen ungerührten Blick, der Terry sofort klein beigeben ließ. Er machte einen hektischen Rückzieher. »Wahrscheinlich bekommen Sie solche Witze ständig zu hören«, sagte er lahm.

»Gelegentlich«, sagte Dr. Dudden. »Meine Kollegin Dr. Madison hält sehr viel von Humor als therapeutischer Methode. Vielleicht sollten wir zu diesem Thema eine Gruppendiskussion veranstalten.«

Terry, dem es vorübergehend die Sprache verschlagen hatte, konnte nur nicken.

»Nun denn.« Dr. Dudden sammelte die Manuskriptblätter zusammen und ordnete sie zu einem akkuraten Stapel, dann griff er sich eine Akte mit Terrys Namen darauf. »Nach Ihrer Ankunft gestern sind Sie von Dr. Goldsmith gründlich untersucht worden. Er hat keinerlei Auffälligkeiten feststellen können. Seinem Befund nach befinden Sie sich sogar in ausgezeichneter Verfassung.«

»Schön.«

»Ein paar Punkte in diesem Bericht erscheinen mir allerdings bemerkenswert. Zum Beispiel geben Sie an, daß Sie am Tag durchschnittlich dreißig bis vierzig Tassen Kaffee trinken.«

»Das stimmt.«

»Haben Sie seit Ihrer Ankunft Kaffee getrunken?«

»Nein. Es scheint im ganzen Haus keinen zu geben.«

»Wir erlauben unseren Patienten nur im Rahmen eines kontrollierten Experimentes, Kaffee zu trinken, um festzustellen, wie sich das auf ihr Schlafverhalten auswirkt. Dann haben Sie also welchen gesucht?«

»Ja.«

»Und wie fühlen Sie sich, nachdem Sie in den letzten... neunzehn Stunden keinen Kaffee getrunken haben?«

»Unwohl.«

»Dreißig bis vierzig Tassen pro Tag, das erscheint mir recht exzessiv. Wieso trinken Sie so viel?«

»Damit ich wach bleibe.«

»Verstehe. Das«, sagte Dr. Dudden, »ist eine ungewöhnliche Äußerung. Meiner Erfahrung nach suchen die meisten Menschen, die an Schlaflosigkeit leiden, nach etwas, womit sie schlafen können, nicht nach etwas, was sie wach hält. Diesem Bericht entnehme ich, daß Sie keinerlei Medikamente gegen Ihr Leiden genommen haben.«

»Das ist richtig.«

»Und Sie haben auch nie eine ärztliche Meinung dazu eingeholt.«

»Nein.«

»Die meisten Menschen empfinden Schlaflosigkeit als unangenehm und in manchen Fällen sogar als unerträglich. Ist das bei Ihnen nicht so?«

»Es kommt häufig vor, daß ich tagsüber müde und schläfrig werde. Deshalb trinke ich Kaffee. Aber das ist kein großes Problem.«

»Ist Ihnen schon einmal der Gedanke gekommen, daß Sie vielleicht gar nicht an Schlaflosigkeit leiden?«

»Ich verstehe nicht.«

»Eine der wichtigsten und grundlegendsten Unterscheidungen, die es in dieser Phase der Diagnose zu berücksichtigen gilt, ist die zwischen psychophysiologischer und subjektiver Schlaflosigkeit.«

»Subjektive Schlaflosigkeit?«

»Ja.«

»Sie meinen... daß ich es mir vielleicht einbilde. Oder eine Schau abziehe. Simuliere.«

»Das ist beim besten Willen kein sehr hilfreiches Wort. Wenn man sich einbildet, nicht schlafen zu können, kann das genauso quälend sein, wie wirklich nicht schlafen zu können. Und es ist ganz und gar nicht ungewöhnlich. Sehr viele meiner Patienten kommen hierher, verbringen die Nacht im Labor und behaupten, kein Auge zugetan zu haben. Wenn ich Ihnen dann den wissenschaftlichen Nachweis liefere, daß sie tief und fest geschlafen haben – manchmal bis zu sechs oder sieben Stunden –, sind sie völlig verwirrt.«

»Das muß sehr befriedigend für Sie sein«, sagte Terry.

»Es ist für mich immer befriedigend, Menschen zu helfen«, erwiderte Dr. Dudden trocken und griff nach dem Telefonhörer. Er wählte eine interne Nummer. »Lorna? Bringen Sie mir doch bitte Mr. Worths EEG von gestern nacht.« Er legte den Hörer abrupt wieder auf und sagte zu Terry: »Sie haben offenbar den Eindruck, daß Sie gestern nacht überhaupt nicht geschlafen haben. Wenn meine Assistentin uns gleich die entsprechenden Daten bringt, müßten wir sehen können, wie es sich tatsächlich verhält. Bis dahin« – er nahm Terrys Bericht erneut zur Hand – »können Sie mir vielleicht helfen, noch einen weiteren Punkt zu klären. Nach dem, was Sie gestern Dr. Goldsmith erzählt haben, scheinen sich Ihre Schlafgewohnheiten vor etwa... zwölf Jahren drastisch geändert zu haben.«

»Das war 1984, ja.«

»Davor, so geben Sie an, haben Sie häufig bis zu vierzehn Stunden am Tag geschlafen.«

»Ja.«

»Das war während Ihrer Studienzeit.«

»Ja.«

»An dieser Universität, wie ich sehe.«

»Das stimmt. Wie Sie.«

Irgend etwas blitzte kurz in Dr. Duddens Augen auf: eine plötzliche Vorsicht, die deutlich machte, daß er sich nicht gern von seinen Patienten überraschen ließ.

»Das haben wohl Ihre Kollegen von der Zeitung ausgegraben«, sagte er.

»Nein«, sagte Terry. »Das hat mir Dr. Madison gestern abend erzählt.«

»Verstehe. Dann haben Sie meine Kollegin also kennengelernt?«

»Flüchtig.« Terry und Dr. Dudden blickten einander an und versuchten beide, das Lächeln des anderen zu deuten. »Ich habe sogar hier im Haus gewohnt. Einige Monate lang.«

»Ich auch«, sagte Dr. Dudden. »Ich habe zwei Jahre hier gewohnt.«

»Das ist wirklich ein Zufall. Aber wir waren wohl nicht zur selben Zeit hier.«

»Ich denke, nicht. Sonst...«

»Sonst könnten wir uns sicherlich aneinander erinnern.«

»Genau.«

»Ich hatte da allerdings«, sagte Terry, »eine Freundin namens Sarah. Sarah Tudor. Und sie war mal mit jemandem namens Gregory zusammen. Gregory, das ist doch Ihr Vorname, nicht?«

»Ja.«

»Ja, Dr. Madison hat es mir erzählt, wissen Sie, gestern ...«

»... gestern abend. Natürlich. Als Sie sich flüchtig kennengelernt haben.«

»Ja.«

»Lassen Sie mich nachdenken...« Dr. Dudden lehnte sich in seinem Sessel zurück und drehte die Augen zur Decke, offensichtlich, um vorzutäuschen, daß er versuche, sich zu erinnern. »Es gab tatsächlich hier eine Studentin namens Sarah, jetzt, wo Sie es sagen. Durchaus möglich, daß wir mal von Zeit zu Zeit zusammen ausgegangen sind. Aber daß wir... zusammen. waren, wie Sie es genannt haben, kann man weiß Gott nicht sagen.«

»Dr. Madison meint, daß sie möglicherweise an Narkolepsie gelitten hat.«

»Dr. Madison hat sie auch gekannt?« Jetzt wurde aus der Vorsicht allmählich leichte Panik.

»Nein, natürlich nicht. Ich habe ihr gegenüber nur erwähnt, gestern abend, daß diese Studentin namens Sarah oft sehr lebensechte –«

Sie wurden durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen, und Lorna kam herein, mit einem Stapel Computerpapier. Dr. Dudden war offenbar froh über die Ablenkung.

»Ah, wunderbar, wunderbar. So hab ich’s gern. Leise und effizient. Alles läuft wie am Schnürchen. Sie sind wirklich eine Perle, Lorna. Haben Sie Lorna schon kennengelernt, Mr. Worth? Hat man Ihnen unsere leitende technische Assistentin und Polysomnographin vorgestellt?«

»Nein, noch nicht.« Terry stand auf und schüttelte ihr die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Sie starrte ihn verdutzt an. »Aber Sie haben doch vorhin mit mir gesprochen. Wegen des Videorecorders.« Als sie sah, daß er sie noch immer nicht wiedererkannte, fügte sie hinzu: »Ich habe Sie gestern abend ins Bett gebracht. Ich habe Sie verdrahtet.«

Terry lachte. »Ja. Natürlich.«

Dr. Dudden durchbrach das verlegene Schweigen, indem er Lorna die Papiere abnahm und sie bat, wieder zu gehen. Als sie fort war, fragte er Terry, ob er sich immer so schlecht an neue Gesichter erinnern könne.

»Ich weiß nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht.«

»Sie meinen, es ist Ihnen noch nie aufgefallen?«

»Eigentlich lerne ich nicht oft neue Leute kennen.«

»Ich hätte gedacht, daß Sie in Ihrer Branche ständig neue Leute kennenlernen.«

»Na ja, kann sein. Aber die sehe ich meist nie wieder. Daher stellt sich das Problem nicht.«

»Aber es gibt ein Problem.«

»Nein, ich glaube nicht.« Es war das erste Mal, daß Dr. Dudden Terry nervös sah. »Ich bin sehr müde, wissen Sie. Ich habe seit neunzehn Stunden keinen Kaffee getrunken. Kein Wunder, daß ich niemanden wiedererkenne.«

»Möchten Sie lieber Kaffee trinken oder schlafen?«

»Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, daß ich nicht schlafe. Ich schlafe nie. Ich habe seit Jahren nicht geschlafen.«

»Nun gut; wollen mal sehen.« Dr. Dudden las die Notiz, die Lorna oben auf die Papiere gelegt hatte, mit der Zusammenfassung ihrer Ergebnisse, blätterte dann rasch, aber aufmerksam die einzelnen Blätter durch. Sie waren mit gezackten Linien in unterschiedlichen Farben bedeckt, und seinen gelegentlichen Grunzgeräuschen nach zu urteilen, schien er sie recht überraschend zu finden. »Hier ist ein längeres Intervall ohne jede Aufzeichnung«, sagte er irgendwann.

»Ja. Mir war langweilig, da habe ich die Drähte abgemacht und bin aus dem Zimmer gegangen.«

»Nicht, ohne sich dabei helfen zu lassen, hoffe ich«, sagte Dr. Dudden, wartete aber zum Glück die Antwort nicht ab. »Nun –« (während er das Blatt hinlegte und rasch einige Notizen machte) »– offenbar lagen Sie, zumindest was gestern nacht angeht, mit ihrer subjektiven Wahrnehmung richtig. Sie haben überhaupt nicht geschlafen. Kein beginnender REM-Schlaf, wie wir erwartet hatten. Nicht einmal Phase eins. Und Sie haben nicht einmal gedöst. Was, wie ich sagen muß, nach dem, was Sie kürzlich in dem Kino mitgemacht haben, äußerst bemerkenswert ist.«

»Hab ich Ihnen doch gesagt«, erwiderte Terry. »Ich schlafe nicht.«

»Jeder schläft, Mr. Worth. Ich hoffe, Sie wollen mir nicht weismachen, weder jetzt noch in Zukunft, daß Sie in den letzten zwölf Jahren überhaupt nicht geschlafen haben.«

»Ich habe sehr wenig geschlafen«, sagte Terry. »Obwohl ich es mir, wie Sie sagen, vielleicht nur eingebildet habe. Oder geträumt oder so. Kommt es vor, daß Leute träumen, sie hätten nicht geschlafen?«

»Natürlich. Das kommt ständig vor. Allerdings erscheint es mir in Ihrem Fall unwahrscheinlich. Gehen wir noch mal einige Punkte durch, die Sie schon mit Dr. Goldsmith besprochen haben. Sind Sie Alkoholiker?«

»Nicht, daß ich wüßte.«

»Ihr täglicher Alkoholkonsum ist wahrlich übermäßig hoch, laut diesen Zahlen. Aber ich glaube dennoch, daß das nicht der eigentliche Grund für Ihre Schwierigkeiten ist. Die Koffeinabhängigkeit, die wir bereits erwähnt haben... Keine Allergien, wie ich sehe... Sie haben nachts keine Beschwerden in den Beinen? Keinen Drang, sie ständig zu bewegen?«

»Nein.«

»Und Sie schnarchen nicht?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Es könnte sein, daß jemand, der mit ihnen in einem Bett schläft, sich beschwert.«

»So jemanden gibt es nicht.«

»Mhm. Und wie steht’s mit Depressionen? Sie würden sich auch nicht als depressiv bezeichnen?«

»Eigentlich nicht. Falls ich je depressiv war, dann eher, bevor das Problem auftauchte: damals als Student, als ich immer nur schlafen wollte.«

»Haben Sie irgendeine Theorie, warum Sie so viel schlafen wollten?«

»Ich nehme an, ich war im Schlaf glücklicher als im Wachzustand. Ich hatte immer sehr schöne Träume.«

»Aha.« Dr. Dudden schrieb es auf. »Das ist sehr interessant. Wovon haben Sie geträumt?«

»Ich weiß nicht. Ich konnte mich nie daran erinnern.«

»Woher wußten Sie dann, daß es schöne Träume waren?«

»Das war einfach... so ein Gefühl. Beim Aufwachen.«

»Mhm. Und dann hat es aufgehört, nicht wahr? 1984?«

»Ja.«

»Vielleicht könnten Sie mir ein wenig über diese Lebensphase erzählen.«

»Tja ...« Terry rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, als wäre ihm das Thema unangenehm. Gleichzeitig zeichnete sich ein winziges, wehmütiges Lächeln auf seinen Lippen ab. »Als ich mit der Uni fertig war – ein paar Wochen danach – habe ich einen Job bekommen, und schon bald darauf habe ich eine – na ja, Krise ist wohl das richtige Wort – heraufbeschworen.«

»Was für eine Krise?«

»Ich habe dafür gesorgt, daß eine Zeitschrift dichtmachen mußte. Ich ganz allein.«

»Und wie haben Sie das angestellt?«

»Es war eine Kinozeitschrift, und sie haben einen Artikel veröffentlicht, den ich noch mal hätte Korrektur lesen müssen. Leider sind durch mein Verschulden gewisse ... Unrichtigkeiten in dem Artikel abgedruckt worden, und diese Unrichtigkeiten haben zu Verleumdungsklagen geführt. Sieben an der Zahl.«

»Sieben.«

»Ja, ich weiß nicht mehr genau, wer alles betroffen war, aber ich erinnere mich noch an Denis Thatcher, Norman Wisdom, Vera Lynne ...«

»Verstehe.«

»... Cliff Richard, Kingsley Amis, Edward Heath ...«

»Der Verfasser hat es geschafft, all diese Leute zu verleumden, in einem einzigen Artikel?«

»Ja, und nur weil ich nachlässig gearbeitet habe. Das heißt...« Das Lächeln wurde breiter und zugleich versonnener. »Na ja, es war wohl einfach nur Pech. Schlicht und ergreifend Pech. Das war das Schöne daran.«

Als klar wurde, daß er sich nicht näher dazu äußern würde, sagte Dr. Dudden: »Und dann standen Sie plötzlich ohne Job da, vermute ich.«

»Damals habe ich angefangen, als freier Journalist zu arbeiten. Ich wollte ein Buch schreiben. Über einen Regisseur – einen ziemlich unbekannten Regisseur, jemanden, über den noch nicht viel geschrieben worden war – und auch über... andere Dinge. Theoretische Dinge. Über den Verlust, in gewisser Weise. Die Vorstellung des Verlusts.«

»Aber Sie haben es nicht zu Ende geschrieben?«

»Ich habe gar nicht damit angefangen. Ich mußte so viel arbeiten, um mich über Wasser zu halten ... meistens habe ich bis Mitternacht gearbeitet, und irgendwann stellte ich – seltsamerweise – fest, daß ich danach nicht sehr müde war. Anstatt ins Bett zu gehen, bin ich dann die ganze Nacht aufgeblieben. Habe Videos geguckt. Und damit hat es eigentlich angefangen.«

»Würden Sie mir demnach zustimmen«, sagte Dr. Dudden, »daß die Videos für Sie ein Ersatz für die Träume waren, die Ihnen zuvor –«

Während er sprach, piepste ein kleiner Wecker auf seinem Schreibtisch los. Er legte seinen Bleistift hin und schloß Terrys Akte mit einem kurzen frustrierten Seufzer.

»Das war’s leider«, sagte er.

»Wie bitte?«

»Die Zeit ist um. Es ist 11.42 Uhr, und ich habe um Viertel vor zwölf einen weiteren Termin.«

»Aber jetzt, wo es gerade interessant wurde.«

»Bei uns läuft alles nach einem genauen Zeitplan, Mr. Worth. Hätten Sie sich nicht 23 Minuten verspätet, wären wir wesentlich weiter gekommen. Jetzt müssen wir bis morgen warten.«

»Aber wir haben doch wohl noch drei Minuten.«

»Nein. Beim ersten Gespräch ist diese Zeit dazu eingeplant, Ihnen ein paar praktische Fragen zu stellen. Zum Beispiel...« Er hielt inne und bekam plötzlich ein ausdrucksloses Gesicht. Nachdem er ein oder zwei Sekunden mit leerem Blick dagesessen hatte, kramte er in einer seiner Schreibtischschubladen und holte schließlich ein Blatt Papier hervor, auf dem einige Fragen standen. »Ach ja. Seltsam, daß ich mir die einfach nicht merken kann.« Dann las er die erste Frage vor. »Wie haben Sie sich in der Klinik eingewöhnt?«

»Sehr gut, danke«, sagte Terry, der ihn jetzt verblüfft betrachtete.

»Ist das Personal höflich und hilfsbereit?«

»Absolut«, sagte Terry. Daß er das von Dr. Dudden bisher nicht behaupten konnte, behielt er lieber für sich.

»Ist Ihr Zimmer sauber und behaglich?«

Erst jetzt zögerte Terry. »Behaglich, ja«, sagte er. Er wartete einen Augenblick ab, um Dr. Duddens aufkeimendes Entsetzen richtig auszukosten, und erzählte ihm dann von der Schrift an der Wand.


»Psst!« sagte eine Stimme.

Dr. Madison blieb auf dem Korridor stehen und sah sich um. Es war nicht zu erkennen, woher das Geräusch kam.

»Psst!« erklang es wieder. Ein Finger tauchte aus einer der Türen auf, winkte ihr und verschwand. Dr. Madison folgte ihm in Zimmer neun, wo Dr. Dudden auf sie wartete, das Gesicht zornesbleich (kein ungewöhnlicher Anblick). Seine ganze Haltung zeugte von peinlich berührter Empörung.

»Kommen Sie her«, zischte er.

Sie trat zu ihm neben den Kleiderschrank.

»Sehen Sie sich das an«, sagte er. »Nun sehen Sie sich bloß mal das an.«

Er zeigte auf die Worte »VERDAMMTES ARSCHLOCH«, die mit Tinte auf die Wand geschrieben waren. Daneben war ein großer brauner Fleck.

»Mr. Worth hat das entdeckt«, fuhr er fort. »Ausgerechnet ein Journalist hat das entdeckt, verdammt noch mal. Ist das nicht typisch? Warum müssen wir nur immer so ein Pech haben?«

»Wieso ist das vorher niemandem aufgefallen?«

»Der Schrank hat es verdeckt.«

»Und wieso hat Mr. Worth den Schrank verrückt?«

Dr. Dudden ignorierte die Frage. Er sagte: »Mir ist zwar klar, daß Sie das nicht hören wollen, Doktor, aber das da bestätigt mich nur in dem, was ich immer predige. Genau aus diesem Grund müssen wir aufpassen, was... für Leute wir aufnehmen. So etwas passiert, wenn man irgendwelches Gesindel hereinläßt.«

»Meinen Sie damit vielleicht die Kassenpatienten?« sagte Dr. Madison.

»Ich denke nicht, daß ich deutlicher werden muß«, sagte Dr. Dudden. »Die Frau in Ihrer Gruppe zum Beispiel. Diese Frau aus Brixton. Ich möchte nicht überheblich klingen, aber... was kann man von so jemandem schon erwarten? Ohne Niveau, ohne Charakter...«

»Das ist aber nicht Maria Grangers Zimmer.«

»Ich meine auch nicht sie speziell: Es geht mir ums Prinzip.« Er nahm den Fleck an der Wand genauer in Augenschein und rümpfte die Nase. »Was für ein Mensch«, sagte er, »was für ein Abschaum beschmiert die Wände eines Zimmers mit seinen eigenen Exkrementen?«

»Ein gestörter Mensch vermutlich. Jemand, dem zu helfen unsere Aufgabe wäre.« Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Fleck, trat dann zurück. »Ich würde sagen, das ist Blut.«

»Ich muß mit Mr. Worth sprechen«, sagte er. »Er darf das auf keinen Fall in seinem Artikel erwähnen. Wir müssen ihn irgendwie dazu bringen, daß er Stillschweigen bewahrt.«

»Ich bin sicher, daß Mr. Worth nicht die geringste Absicht hat –«

»Reden Sie mit dem Reinigungspersonal, sofort. Die sollen das entfernen.«

Als er gegangen war, blieb Dr. Madison noch einige Minuten in Zimmer neun und starrte auf die Worte an der Wand und auf den Fleck. Und ob nun aus Wut über die Gefühllosigkeit ihres Kollegen oder aus Mitgefühl für den bedauernswerten Menschen, der das unklare Bedürfnis gehabt hatte, das Zimmer auf diese Weise zu verunstalten – jedenfalls war ihr Blick mit einem Mal verschwommen von Tränen, und ehe sie wußte, wie ihr geschah, rieb sie plötzlich in heftiger Erbitterung mit dem Ärmel über die Wand – wie von Sinnen.


Vor einigen Wochen, schrieb Terry, hörte ich zufällig auf einer Dinnerparty ein Gespräch mit an, bei dem es wieder mal um die Frage ging, wer derzeit der »größte« Filmregisseur sei. Die beiden Gesprächspartner waren Kritiker. Einer von ihnen, ein Vertreter der alten Schule, sprach sich für den erfahrenen portugiesischen Regisseur Manoel de Oliveira aus, während der andere, der sich offenbar für eine Art Avantgardisten hielt, natürlich eine Lanze für Quentin Tarantino brach.

Es war, als ob... ja, wie war es eigentlich? Es war, als ob ich einem Fußballspiel zwischen zwei Mannschaften von Blinden auf einem längst nicht mehr benutzten Spielfeld zuschauen würde, und niemand hatte den Anstand, ihnen zu sagen, daß die Tore schon vor Jahren abgerissen worden waren.

Der junge Tarantino-Anhänger tat mir besonders leid. Der Standpunkt seines Gegners hatte zumindest so etwas wie eine antiquierte Logik. Was den Avantgardisten betraf (der im Grunde so rückschrittlich war, daß wir für diese Spezies einen neuen Begriff prägen sollten: Retrogardist), so schien ihm nicht klar zu sein, was für einen blanken Unsinn er als Argument anführte – er sagte, durch die »Wiederbelebung« von B-movie-Klischees erreiche Tarantino eine gewisse »Originalität« (ja, dieses Wort kam tatsächlich aus seinem Munde). Ich glaube, Gott stehe ihm bei, daß er in einem besonders verzweifelten Moment sogar von Postmoderne sprach.

Verehrte Leser, ich hatte nicht den Elan, diese beiden traurigen Gestalten von ihrem Leiden zu erlösen. Stilles Mitgefühl schien die einzige angemessene Reaktion auf den Anblick zweier erschöpfter Don Quichotes zu sein, die im zeitgenössischen Film noch immer dem Gespenst der Originalität nachjagen. Der einzige Rat, den ich ihnen geben könnte, falls sie meine Zeilen zufällig lesen sollten, wäre der, sich so bald wie möglich Joe Kingsleys Chalk and Cheese 4 anzusehen und möglichst viel daraus zu lernen.

Terry ließ von seinem Computer rasch die Wörter zählen und sah, daß er bereits ein Drittel des ihm zur Verfügung stehenden Platzes verbraucht hatte. Was eigentlich nicht von Belang war: Er breitete seine Theorien gerne ausführlich aus. Trotzdem war es gut, wenn er endlich auf den Film zu sprechen kam.

Kingsley ist selbstredend der Meister des Klischees schlechthin. Gemessen an ihm, nimmt sich Tarantino auf diesem Gebiet wie ein stümperhafter Amateur aus, denn er ist nie auf die neohumanistische Fiktion hereingefallen, daß sich alte Konventionen aufpeppen lassen. Und die Serie Chalk and Cheese ist an sich schon ein Klischee – Cops, die grundverschiedener nicht sein könnten und an demselben Fall arbeiten –, auf seine reinsten und befriedigendsten Wesensmerkmale reduziert. Die dritte Folge, bei der der Engländer Kevin Wilmut Regie führte, litt unter dem unglücklichen Versuch, die Geschichte mit einem Schuß Romantik und einer politischen Nebenhandlung aufzufrischen: Die steife Hand Wilmuts, des ehemaligen Literaten und BBC-Mitarbeiters, war da in jeder Szene spürbar. Doch offensichtlich ist irgendwer bei Fox zur Vernunft gekommen und hat Kingsley wieder die Regie der Serie anvertraut, der er seine blitzartige Karriere verdankt und der er auf brillante Weise – mag das auch paradox klingen – seinen Stempel aufgedrückt hat.

Noch ein Drittel Platz. Was nun, fragte er sich. Eine Zusammenfassung der Handlung? (Aber natürlich gab es keine Handlung.) Die schauspielerische Leistung erörtern? (Aber die Schauspieler in diesem Film spielten nicht, sie machten Bewegungen.) Von den Dialogen sprechen? (Aber das waren die gleichen wie in den früheren Filmen.) In Wahrheit hatte der Film kaum die oberste Schicht von Terrys Bewußtsein berührt. Sobald er mit der Morgenpost eingetroffen war, hatte er ihn unausgepackt in den Beobachtungsraum von Schlafzimmer drei mitgenommen, wo Lorna ihm gezeigt hatte, wie man den Videorecorder bediente. Das Band sollte 97 Minuten dauern, doch er hatte ihn sich in wesentlich kürzerer Zeit angesehen. Mit absoluter Konzentration sah er sich den Vorspann an, erfreute sich an der ersten Szene (eine ausgiebige Schießerei, die einige andere Patienten in den Raum lockte, weil sie herausfinden wollten, woher der Lärm kam), ging dann im Vorlauf die erste Schlüsselszene durch und alle anderen Dialogszenen, die jeweils über dreißig Sekunden lang waren, und beglückwünschte sich obendrein, daß er sich den Film genauso ansah, wie dessen Macher – den Blick fest auf den Videomarkt gerichtet – es beabsichtigt hatten.

Es ginge ein wenig zu weit, schrieb Terry jetzt, rückte dann seinen Stuhl in den Schatten des Gebäudes (denn das Sonnenlicht, das vom glitzernden Meer reflektiert wurde, ließ die Schrift auf dem Bildschirm verblassen), Chalk and Cheese 4 als fehlerfrei zu bezeichnen. Kingsleys Kritikaster – deren verständnislose Kritik ihn sicherlich kalt läßt – behaupten gern, seine Filme wären im Grunde 90 Minuten währende Musikvideoclips. Tatsächlich ist das ein wunderbares Kompliment, das er sich eigentlich (noch) nicht ganz verdient hat. Gelegentlich läßt die Qualität nach, stellt sich hier und da Langeweile ein: Ich habe die Zeit von einigen Einstellungen gestoppt und war überrascht, daß viele davon über sechzig Sekunden lang sind. Doch jetzt, fünfzehn Minuten nachdem ich mir den Film angesehen habe, habe ich keinen Grund zur Klage: Noch immer bin ich berauscht von seiner Respektlosigkeit, seiner fröhlichen Publikumsverachtung, seinem ansteckenden Haß auf politische oder jedwede andere Korrektheit, seiner kruden Energie. Dabei handelt es sich übrigens (um noch einmal auf unsere Duellanten auf der Dinnerparty zurückzukommen) um die einzige Form von Energie, die den Filmemachern heute zur Verfügung steht. Es ist die wahnsinnige, manische Energie des Stiers am Ende des Kampfes, wenn er, tödlich verwundet, mit letzter Kraft weitermacht, getrieben nur mehr von Schmerz und Wut und einem verzweifelten Lebenswillen. Es ist der Zustand – hoffnungslos, aber voller wilder Energie, »kurz vor dem letzten Atemzug, aber irgendwie immer noch am Leben« – des amerikanischen Kinos am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Und Kingsley ist sein Meister.

Ein Schatten fiel auf den Computerbildschirm und ließ Terry aufblicken. Dr. Dudden, der lautlos auf die Terrasse getreten war, wartete darauf, ihn ansprechen zu können.

»Ich muß kurz mit Ihnen reden, Mr. Worth. Wirklich nur ganz kurz. Ich möchte Sie weiß Gott nicht bei Ihrer Arbeit stören.«

»Schon gut«, sagte Terry, ins Sonnenlicht blinzelnd.

»Darf ich hoffen – dürfen wir hoffen, dürfen wir alle hoffen – , daß Sie an einem ersten Entwurf Ihres Artikels schreiben – die ersten zaghaften Schritte tun?«

»Mein Artikel?«

»Über unsere Arbeit in der Klinik.«

»Oh.« Terry hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet. Er war sich zu diesem Zeitpunkt nicht einmal sicher, ob die Klinik für ein Feature interessant genug war. »Nein, darüber denke ich noch nach.«

»Aha. Noch in der Planungsphase.« Dr. Dudden zwang sich zu einem Lächeln, einer Mischung aus geübter Unaufrichtigkeit und dem dringenden Bedürfnis, sich einzuschmeicheln. »Wenn Sie ihn schließlich doch schreiben – und ich will Ihnen da natürlich nichts in die Feder diktieren oder auch nur den Versuch machen, Sie irgendwie zu beeinflussen, oder... Ihnen irgend etwas in den Mund legen – , aber wenn Sie ihn schreiben, so hoffe ich doch, daß die kleine... Unregelmäßigkeit in Ihrem Tagesraum Ihr Urteil nicht nachteilig-«

»Unregelmäßigkeit?« sagte Terry.

»Ich meine natürlich das bedauerliche – ähm – Graffito, das Sie freundlicherweise, aufmerksamerweise –«

»Ach das.« Terry lächelte verbindlich. »Na ja, wissen Sie, ich kann ja nur das wiedergeben, was ich sehe – die Dinge so nehmen, wie sie kommen, sozusagen...«

»Hm.« Das Lächeln, das Dr. Dudden jetzt aufsetzte, war schwach, unsicher. »Dann darf ich wohl annehmen, daß wir uns verstehen.« Als Terry das weder bestätigte noch in Abrede stellte, drehte Dr. Dudden sich um, hielt unschlüssig inne, drehte sich wieder um, zögerte und brachte schließlich heraus: »Übrigens haben wir ein gute Nachricht.«

»Ach ja?«

»Ein kleiner Durchbruch gestern nacht, nach Auswertung Ihres EEG.«

»In welcher Hinsicht?«

»Sie sind in Schlafphase Eins eingetreten. Zwölf Minuten lang: gegen drei Uhr heute morgen.«

»Und das war das erste Mal?«

»Seit Sie bei uns unter Beobachtung stehen, ja. Wie ich schon sagte: ein kleiner Durchbruch. Natürlich kann ich das nicht als Erfolg für mich verbuchen. Ich habe Sie bislang ja noch nicht behandelt.« Er wartete (vergeblich), daß Terry Begeisterung zeigte, und fügte dann hinzu: »Jedenfalls dachte ich, Sie würden das gern erfahren.«

Als Dr. Dudden wieder im Haus verschwunden war, las Terry die letzten Zeilen seiner Kritik durch und wollte plötzlich den Artikel so schnell wie möglich zu Ende bringen. Aus irgendeinem Grund beunruhigte ihn die Neuigkeit von dem Durchbruch, und er konnte sich nur mit Mühe konzentrieren, nur. mit Mühe die Dynamik wiederfinden, mit der er den letzten Absatz geschrieben hatte. Von plötzlicher Ungeduld und Langeweile übermannt, beschloß er, den Artikel mit einer Platitüde abzuschließen, mit einem offensichtlichen Klischee, und zu hoffen, daß die Leser es als ironischen Scherz auffassen würden, der zum Tenor der Rezension paßte.

Ich kann diesen Film nur jedem ans Herz legen, schrieb er. Er ist lustig, er ist rebellisch, er ist ein erfrischender Schwall verbrauchter Luft. Kurz gesagt: ein Spaß für die ganze Familie.

Als nächstes legte er eine neue Seite an und tippte seine Rechnung.

Betreff: Rezension von Chalk and Cheese 4

654 Wörter à £ 1 pro Wort = £654,00

Plus 17,5% MWSt = £114,45

Summe = £768,45

Während er den Betrag errechnete, wurde Terry abgelenkt, weil sich hoch oben im Haus ein Fenster öffnete. Er wandte sich um, legte den Kopf in den Nacken und stellte fest, daß er das betreffende Fenster kannte. Es gehörte nämlich zu einem Zimmer, das er bei nächster Gelegenheit noch einmal erkunden wollte: das Zimmer, in dem er einmal gewohnt hatte, oben im dritten Stock, eine lange, niedrige Mansarde, von der aus man (wie ihm jetzt wieder einfiel) direkt aufs Dach steigen konnte. Irgend jemand hatte das Fenster aufgemacht, aber er konnte nicht sehen, wer. Dann, einen Moment später, flog etwas aus dem Fenster – oder wurde hinausgeworfen. Zunächst hielt Terry es für eine Möwe, dann für eine Brieftaube: ein flirrendes, flatterndes, weißes Etwas vor dem strahlend blauen Mittagshimmel. Aber falls es ein Vogel war, so hatte er vergessen, wie man fliegt, denn nachdem er ein paar Sekunden in den Luftströmungen gesegelt war, schwebte er in langsamen, kleiner werdenden Spiralen hinab zur Erde. Als das Ding näher kam, erkannte Terry, daß es eine große Papierschwalbe war, die jetzt kurz über seinem Kopf schwebte, eine plötzliche Kehrtwende machte und in Richtung Meer schoß, dann einen vollendeten Bogen von 180 Grad beschrieb, in Brusthöhe direkt auf ihn zusteuerte, absackte, an Schwung verlor und schließlich, seine Computertastatur als Landebahn nutzend, elegant auf seinem Schoß zur Ruhe kam.

Terry hörte, wie das Fenster wieder geschlossen wurde. Er stand mit der Schwalbe in der Hand auf, schirmte die Augen ab und blickte nach oben, um zu sehen, ob er vielleicht eine Gestalt hinter dem fernen, spiegelnden Glas erkennen konnte. Aber es war zu spät.

Dann strich er das Papier glatt und las die Botschaft, die darauf gekritzelt war: »FRAGEN SIE IHN NACH STEPHEN WEBB«.

Das Haus des Schlafes

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